Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский

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Gesammelte Werke von Dostojewski - Федор Достоевский


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Erscheinen bei Ihnen zu einer solchen Stunde und ohne Anmeldung ist allerdings seltsam und läuft den üblichen Regeln zuwider; aber hoffentlich trauen Sie mir wenigstens zu, daß ich mir des Ungewöhnlichen meiner Handlungsweise in vollem Umfang bewußt bin. Ich weiß auch, mit wem ich es zu tun habe; ich weiß, daß Sie scharfsichtig und hochgesinnt sind. Schenken Sie mir nur zehn Minuten, und ich hoffe, Sie selbst werden mich verstehen und mein Benehmen erklärlich finden.« Er sagte das alles höflich, aber in kräftigem, energischem Ton.

      »Bitte, nehmen Sie Platz!« erwiderte Natascha, die sich von der ersten Verwirrung und einer gewissen Angst noch nicht hatte frei machen können.

      Er machte eine leichte Verbeugung und setzte sich. »Gestatten Sie mir zunächst, ein paar Worte zu ihm zu sagen«, begann er, auf seinen Sohn zeigend. »Aljoscha, als du weggefahren warst, ohne auf mich zu warten und sogar ohne dich von uns zu verabschieden, wurde der Gräfin gemeldet, daß Katerina Fjodorowna sich nicht wohl fühle. Sie wollte zu ihr eilen; aber Katerina Fjodorowna kam plötzlich selbst zu uns herein, ganz verstört und in großer Aufregung. Sie sagte uns geradezu, sie könne nicht deine Frau werden, und fügte hinzu, sie werde in ein Kloster gehen; du habest sie um Hilfe gebeten und ihr selbst bekannt, daß du Natalja Nikolajewna liebst. Diese überraschende Erklärung von seiten Katerina Fjodorownas, und noch dazu in einem solchen Augenblick, war selbstverständlich durch das äußerst sonderbare Gespräch veranlaßt worden, das du mit ihr hattest. Sie war ganz außer sich. Du kannst dir mein Erstaunen und meinen Schreck denken. Als ich jetzt hier vorbeifuhr, bemerkte ich in Ihren Fenstern Licht«, fuhr er, zu Natascha gewendet, fort. »Da gewann ein Gedanke, der mir schon lange im Kopf herumgegangen war, dermaßen Gewalt über mich, daß ich nicht imstande war, mich meinem ersten Impuls zu widersetzen, und zu Ihnen hereinkam. Warum? Das werde ich sogleich sagen, bitte Sie aber im voraus, sich über eine gewisse Schärfe meiner Mitteilung nicht zu wundern. Das alles ist so plötzlich gekommen …«

      »Ich hoffe, daß ich imstande bin, das, was Sie sagen werden, zu verstehen und … gebührendermaßen zu würdigen«, erwiderte Natascha stockend.

      Der Fürst blickte sie unverwandt an, wie wenn er in einem Augenblick ihr ganzes Wesen ergründen wolle.

      »Ich hoffe auf Ihren klaren Verstand«, fuhr er fort, »und wenn ich mir erlaubt habe, jetzt zu Ihnen zu kommen, so habe ich es namentlich deswegen getan, weil ich wußte, mit wem ich es zu tun habe. Ich kenne Sie schon lange, wiewohl ich ehemals ungerecht gegen Sie gewesen bin und Ihnen unrecht getan habe. Hören Sie zu: Sie wissen, daß zwischen mir und Ihrem Vater seit langer Zeit ein unerfreuliches Verhältnis besteht. Ich will mich nicht rechtfertigen; vielleicht bin ich ihm gegenüber mehr im Unrecht, als ich bisher geglaubt habe. Aber wenn es so ist, so bin ich selbst getäuscht worden. Ich bin mißtrauisch und bin mir dessen bewußt. Ich neige dazu, eher Schlechtes als Gutes zu vermuten, ein unglücklicher Charakterzug, der auf Rechnung meines ausgetrockneten Herzens kommt. Aber ich bin nicht gewohnt, meine Fehler zu verheimlichen. Ich habe allem möglichen Gerede Glauben geschenkt, und als Sie Ihre Eltern verließen, habe ich um Aljoscha gebangt. Aber damals kannte ich Sie noch nicht. Die von mir eingeholten Erkundigungen haben mich allmählich vollständig beruhigt. Ich habe Sie beobachtet, Sie studiert und mich schließlich überzeugt, daß mein Verdacht unbegründet war. Ich erfuhr, daß Sie sich mit Ihren Eltern überworfen haben; ich weiß auch, daß Ihr Vater mit aller Kraft gegen Ihre Ehe mit meinem Sohn ist. Und schon allein der Umstand, daß Sie trotz Ihres Einflusses auf Aljoscha, ja man kann sagen, trotz Ihrer Gewalt über ihn, doch bisher von dieser Gewalt keinen Gebrauch gemacht und ihn nicht veranlaßt haben; Sie zu heiraten, schon allein dieser Umstand zeigt Sie von einer sehr guten Seite. Und doch (ich will Ihnen alles offen bekennen) nahm ich mir damals vor, jede Möglichkeit Ihrer Verheiratung mit meinem Sohn mit aller Kraft zu verhindern. Ich weiß, daß ich mich zu offenherzig ausspreche; aber in diesem Augenblick ist Offenherzigkeit von meiner Seite durchaus notwendig; Sie werden mir darin selbst zustimmen, wenn Sie mich bis zu Ende angehört haben werden. Bald nachdem Sie Ihr Elternhaus verlassen hatten, fuhr ich aus Petersburg weg; aber als ich wegfuhr, war mir um Aljoscha nicht mehr bange. Ich setzte meine Hoffnung auf Ihren edlen Stolz. Ich begriff, daß Sie selbst die Heirat nicht vor der Beendigung unseres Familienzwistes wünschten; daß Sie das gute Einvernehmen zwischen mir und Aljoscha nicht stören wollten, weil ich ihm niemals die Verheiratung mit Ihnen verziehen haben würde; daß Sie auch die üble Nachrede zu vermeiden wünschten, als hätten Sie es auf einen fürstlichen Bräutigam und auf eine Verbindung mit unserem Haus abgesehen gehabt. Im Gegenteil, Sie legten sogar eine gewisse Geringschätzung gegen uns an den Tag und warteten vielleicht auf den Augenblick, wo ich selbst zu Ihnen kommen und Sie bitten würde, uns die Ehre zu erweisen und meinem Sohn Ihre Hand zu reichen. Aber trotzdem blieb ich hartnäckig Ihr Gegner. Ich will mich nicht zu rechtfertigen suchen, möchte Ihnen aber meine Gründe nicht verheimlichen. Es sind folgende: Sie sind nicht von vornehmer Herkunft und nicht reich. Ich meinerseits besitze zwar ein gewisses Vermögen, aber wir brauchen noch mehr. Unsere Familie befindet sich im Verfall. Wir müssen nach Konnexionen und Geld trachten. Die Stieftochter der Gräfin Sinaida Fjodorowna hat zwar keine Konnexionen, aber sie ist sehr reich. Hätte ich gezögert, so wären andere Bewerber auf dem Plan erschienen und hätten uns die Braut weggefischt; wir durften uns aber eine so günstige Gelegenheit nicht entgehen lassen, und obgleich Aljoscha noch sehr jung ist, beschloß ich dennoch, ihn zu verheiraten. Sie sehen, ich verberge Ihnen nichts. Sie können mit Geringschätzung auf einen Vater blicken, der selbst eingesteht, daß er aus Habsucht und Vorurteil seinen Sohn zu einer schlechten Handlung verleiten wollte; denn ein hochgesinntes Mädchen zu verlassen, das ihm alles zum Opfer gebracht hat und demgegenüber sein Vergehen ein so großes ist, das ist in der Tat eine schlechte Handlung. Aber ich will mich nicht zu rechtfertigen suchen. Der zweite Grund für die beabsichtigte Verheiratung meines Sohnes mit der Stieftochter der Gräfin Sinaida Fjodorowna war der, daß dieses junge Mädchen im höchsten Grad liebenswürdig und achtenswert ist. Sie ist schön und besitzt eine ausgezeichnete Bildung, einen vorzüglichen Charakter und einen guten Verstand, obwohl sie in vielen Dingen noch ein Kind ist. Aljoscha ist charakterlos, leichtsinnig, sehr unverständig, mit zweiundzwanzig Jahren noch vollständig Kind und besitzt vielleicht nur einen Vorzug: ein gutes Herz, eine Eigenschaft, die aber neben solchen Mängeln sogar gefährlich ist. Ich hatte schon lange gemerkt, daß mein Einfluß auf ihn im Schwinden begriffen ist: jugendliche Hitze und Schwärmerei machen sich geltend und tragen sogar über manche wirklichen Pflichten den Sieg davon. Ich liebe ihn vielleicht zu sehr; aber ich bin überzeugt, daß meine alleinige Leitung für ihn nicht ausreichend ist. Aber dabei muß er unbedingt unter jemandes beständiger, wohltätiger Einwirkung stehen. Er ist seinem ganzen Wesen nach fügsam, schwach, liebevoll und mag eher lieben und gehorchen als befehlen. Und so wird er sein ganzes Leben lang bleiben. Sie können sich vorstellen, wie ich mich freute, als ich in Katerina Fjodorowna das Ideal des Mädchens fand, das ich meinem Sohn zur Frau wünschte. Aber meine Freude kam zu spät; über ihn herrschte bereits unerschütterlich ein anderer Einfluß, der Ihrige. Ich beobachtete ihn genau, als ich vor einem Monat nach Petersburg zurückkehrte, und bemerkte an ihm mit Erstaunen eine bedeutende Veränderung zum Besseren. Der Leichtsinn und die Kindlichkeit sind bei ihm noch fast dieselben geblieben; aber gewisse edle Instinkte haben in seiner Seele an Kraft gewonnen; er beginnt sich für andere Dinge als für bloße Spielereien zu interessieren, für Hohes, Edles, Ehrenhaftes. Seine Anschauungen sind sonderbar, unsicher und mitunter absurd; aber seine Wünsche, seine Bestrebungen, sein Herz sind besser; und das ist doch die Grundlage für alles; und alles dies, was in seiner Seele Besseres vorhanden ist, rührt unstreitig von Ihnen her. Sie haben ihn umgewandelt. Ich gestehe Ihnen, es huschte mir gleich damals der Gedanke durch den Kopf, daß Sie vielleicht mehr als sonst jemand imstande seien, ihn glücklich zu machen. Aber ich verscheuchte diesen Gedanken; ich mochte derartiges nicht denken. Ich wollte ihn um jeden Preis von Ihnen losreißen; ich begann in diesem Sinn zu operieren und glaubte schon, mein Ziel erreicht zu haben. Noch vor einer Stunde meinte ich, daß der Sieg auf meiner Seite sei. Aber der Vorfall im Haus der Gräfin hat mit einem Male alle meine Annahmen umgestoßen, und vor allem hat mich eine unerwartete Tatsache frappiert: diese auffällige Energie bei Aljoscha, die Festigkeit, Hartnäckigkeit und Lebenskraft seiner Neigung zu Ihnen. Ich wiederhole Ihnen: Sie haben ihn endgültig umgewandelt. Ich sah auf einmal, daß die Veränderung bei ihm noch weiter ging, als ich angenommen hatte. Heute hat er plötzlich mir gegenüber einen Verstand an den Tag gelegt, den ich in keiner Weise bei ihm vorausgesetzt


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