Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский
Читать онлайн книгу.zu vergelten. Er hat sich in die Gewalt eines Wesens gegeben, das er gekränkt hatte, und gerade zu diesem Wesen mit der Bitte um Teilnahme und Hilfe seine Zuflucht genommen. Er hat den ganzen Stolz eines Mädchens aufgeregt, das ihn bereits liebte, indem er ihr geradezu bekannte, daß sie eine Rivalin habe, und hat sie gleichzeitig dahingebracht, für diese Rivalin eine herzliche Teilnahme zu empfinden, ihm selbst aber zu verzeihen und ihm eine selbstlose schwesterliche Freundschaft zu versprechen. Eine solche Auseinandersetzung vorzunehmen und gleichzeitig dabei jede Kränkung und Beleidigung zu vermeiden, dazu sind manchmal selbst die klügsten, gewandtesten Leute nicht fähig, wohl aber gerade ein frisches, reines, gut geleitetes Herz wie das seinige. Ich bin überzeugt, daß Sie Natalja Nikolajewna, bei seiner heutigen Handlung mit keinem Wort und keinem Rat mitgewirkt haben. Sie haben vielleicht alles erst soeben aus seinem Mund gehört? Ist es nicht so?«
»Sie irren sich nicht«, erwiderte Natascha; ihr ganzes Gesicht glühte, und ihre Augen strahlten wie die einer Begeisterten in einem eigentümlichen Glanz. Die Beredsamkeit des Fürsten begann ihre Wirkung zu tun. »Ich habe Aljoscha fünf Tage lang nicht gesehen«, fügte sie hinzu. »Diesen ganzen Plan hat er allein ausgesonnen und allein zur Ausführung gebracht.«
»Sicherlich ist es so«, stimmte ihr der Fürst bei; »aber trotzdem ist sein unerwarteter Scharfsinn, seine Entschlossenheit, sein Pflichtgefühl und endlich diese seine ganze edle Festigkeit, das alles ist die Folge Ihres Einflusses auf ihn. All dies habe ich soeben auf der Fahrt zu mir nach Hause gründlich erwogen und überlegt; nachdem ich aber diese Überlegung angestellt hatte, fühlte ich plötzlich in mir die Kraft, eine Entscheidung zu treffen. Unsere Brautwerbung im Haus der Gräfin ist zerstört und läßt sich nicht wieder in Gang bringen; aber selbst wenn dies möglich wäre, so soll es doch jetzt nicht mehr geschehen. Habe ich mich doch selbst überzeugt, daß Sie die einzige sind, die ihn glücklich machen kann, daß Sie die richtige Führerin für ihn sind, daß Sie bereits das Fundament zu seinem künftigen Glück gelegt haben! Ich habe Ihnen nichts verheimlicht und will es auch jetzt nicht tun: ich liebe sehr eine gute Karriere, Geld, Vornehmheit, sogar hohen Rang; mit vollem Bewußtsein halte ich vieles davon für Vorurteil; aber ich liebe diese Vorurteile und habe entschieden keine Neigung, mich ihrer zu entäußern. Aber es gibt Situationen, wo man auch andere Erwägungen zur Geltung kommen lassen muß und wo man nicht alles mit demselben Maß messen darf … Außerdem liebe ich meinen Sohn von ganzem Herzen. Kurz, ich bin zu dem Resultat gelangt, daß Aljoscha nicht von Ihnen getrennt werden darf, da er ohne Sie zugrunde gehen würde. Und soll ich es gestehen? Es ist vielleicht schon einen ganzen Monat her, daß ich mir das gesagt habe, und erst jetzt habe ich selbst erkannt, daß ich damit das Richtige getroffen hatte. Allerdings hätte ich, um Ihnen dies alles auszusprechen, Sie auch morgen besuchen können, statt Sie fast um Mitternacht zu stören. Aber meine jetzige Eile wird Ihnen vielleicht ein Beweis dafür sein, mit welchem Eifer und vor allen Dingen mit welcher Offenheit ich in dieser Sache vorgehe. Ich bin kein Knabe; es wäre mir in meinen Jahren unmöglich, mich zu einem unüberlegten Schritt zu entschließen. Als ich hier eintrat, war alles schon erwogen und beschlossen. Aber ich fühle, daß ich noch lange werde warten müssen, bis es mir gelingt, Sie völlig von meiner Aufrichtigkeit zu überzeugen … Aber zur Sache! Brauche ich Ihnen jetzt erst noch zu erklären, wozu ich hierhergekommen bin? Ich bin gekommen, um Ihnen gegenüber meine Pflicht zu erfüllen, und feierlich und mit unbegrenzter Hochachtung bitte ich Sie, meinen Sohn dadurch glücklich zu machen, daß Sie ihm Ihre Hand reichen. Oh? glauben Sie nicht, daß ich hier wie ein grausamer Vater erschienen bin, der sich endlich entschlossen hat, seinen Kindern zu verzeihen und seine gnädige Zustimmung zu ihrem Glück zu geben. Nein, nein! Sie würden mir unrecht tun, wenn Sie eine solche Gesinnung bei mir annähmen. Glauben Sie auch nicht, daß ich im Hinblick auf alles, was Sie für meinen Sohn zum Opfer gebracht haben, schon im voraus von Ihrer Einwilligung überzeugt war; auch das ist nicht richtig! Ich werde der erste sein, der da laut erklärt, daß mein Sohn Ihrer nicht würdig ist, und … (er hat ja ein gutes, reines Herz) er selbst wird das bestätigen. Aber das ist noch nicht alles. Dies ist nicht der einzige Grund, der mich zu solcher Stunde hierhergeführt hat … ich bin hergekommen« (hier erhob er sich respektvoll und mit einer gewissen Feierlichkeit von seinem Platz), »ich bin hergekommen, um Ihr Freund zu werden! Ich weiß, daß ich darauf nicht das geringste Recht habe, im Gegenteil! Aber … gestatten Sie mir, dieses Recht zu verdienen! Gestatten Sie mir, zu hoffen! …«
Er verbeugte sich respektvoll vor Natascha und wartete auf ihre Antwort. Die ganze Zeit über, während er sprach, hatte ich ihn aufmerksam beobachtet. Er hatte dies bemerkt.
Er hatte in kühler Manier gesprochen, mit einer Art von rhetorischer Färbung und an manchen Stellen selbst mit einer gewissen Lässigkeit. Der Ton seiner Rede hatte sogar mitunter nicht zu dem Impuls gepaßt, der ihn zu einer für einen ersten Besuch und namentlich unter solchen Verhältnissen unpassenden Stunde zu uns geführt hatte. Einige Ausdrücke, derer er sich bedient hatte, hatte er sich augenscheinlich vorher zurechtgelegt, und an manchen Stellen seiner langen und durch ihre Länge befremdenden Rede hatte er sich künstlich den Anschein eines wunderlichen Kauzes gegeben, der das hervorbrechende Gefühl unter der Maske des Humors, der Ungeniertheit und des Scherzes zu verbergen sucht. Aber das alles legte ich mir erst später zurecht; damals war es mir noch nicht so klargeworden. Die letzten Worte hatte er mit solcher Lebhaftigkeit und mit so tiefer Empfindung, mit einer solchen Miene der aufrichtigsten Hochachtung vor Natascha gesprochen, daß wir alle davon überwältigt waren. An seinen Wimpern schimmerte sogar etwas wie Tränen. Nataschas edles Herz hatte er vollständig besiegt. Nach ihm erhob auch sie sich von ihrem Platz und streckte ihm schweigend in tiefer Erregung die Hand hin: Er ergriff dieselbe und führte sie zärtlich und gefühlvoll an seine Lippen. Aljoscha war vor Entzücken ganz außer sich.
»Was habe ich dir gesagt, Natascha? rief er. »Du hast mir nicht geglaubt! Du hast nicht geglaubt, daß er der edelste Mensch der «Welt ist! Nun siehst du es selbst, nun siehst du es selbst!«
Er stürzte zu seinem Vater hin und umarmte ihn feurig. Dieser erwiderte die Umarmung ebenso, beeilte sich aber dann, die empfindsame Szene abzukürzen, als ob er sich schäme, seine Gefühle zum Ausdruck zu bringen.
»Nun genug!« sagte er und griff nach seinem Hut. »Ich gehe jetzt. Ich hatte Sie nur um zehn Minuten gebeten und habe eine ganze Stunde hier gesessen«, fügte er lächelnd hinzu. »Aber ich gehe, voll der heißesten Ungeduld, Sie möglichst bald wiederzusehen. Wollen Sie mir erlauben, Sie so oft wie möglich zu besuchen?«
»Ja, ja!« antwortete Natascha; »so oft wie möglich! Ich möchte Sie recht schnell … liebgewinnen …«, fügte sie in ihrer Verwirrung hinzu.
»Wie aufrichtig und ehrlich Sie sind!« sagte der Fürst, über ihre Worte lächelnd. »Nicht einmal um eine einfache Höflichkeit zu sagen, mögen Sie sich verstellen. Aber Ihre Aufrichtigkeit ist mehr wert als all diese falschen Höflichkeiten. Ja! Ich bin mir bewußt, daß es lange, lange dauern wird, bis ich Ihre Liebe werde verdient haben!«
»Hören Sie auf, loben Sie mich nicht … Lassen Sie es genug sein!« flüsterte Natascha verlegen.
Wie schön sie in diesem Augenblick war!
»Nun gut!« sagte der Fürst abschließend. »Aber noch ein paar Worte zur Sache. Können Sie sich vorstellen, wie unglücklich ich bin! Ich kann nämlich morgen nicht zu Ihnen kommen, weder morgen noch übermorgen. Heute abend habe ich einen für mich außerordentlich wichtigen Brief erhalten; er verlangt meine unverzügliche Mitwirkung bei einer gewissen Angelegenheit, und ich kann mich dem auf keine Weise entziehen. Morgen vormittag reise ich von Petersburg weg. Bitte, glauben Sie nicht, daß ich eben deshalb so spät zu Ihnen gekommen bin, weil ich morgen und übermorgen keine Zeit dazu gehabt hätte. Selbstverständlich glauben Sie das ja auch gar nicht; aber da haben Sie eben gleich ein Pröbchen meines argwöhnischen Wesens! Warum habe ich gedacht, daß Sie das jedenfalls glauben würden? Ja, dieses argwöhnische Wesen ist mir in meinem Leben schon oft hinderlich gewesen, und mein ganzes Zerwürfnis mit Ihrer Familie ist vielleicht nur die Folge dieses meines bedauerlichen Charakterzuges! … Heute haben wir Dienstag. Mittwoch, Donnerstag und Freitag werde ich nicht in Petersburg sein. Am Sonnabend aber hoffe ich bestimmt zurückzukehren und werde mich gleich an diesem Tag bei Ihnen einstellen. Sagen Sie, darf ich auf den ganzen Abend zu Ihnen kommen?«
»Gewiß, gewiß!« rief Natascha.