Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский
Читать онлайн книгу.gerührt zu haben; sie sah mich sonderbar an, aber nicht mehr finster, sondern sanft und lange; dann schlug sie wieder, wie überlegend, die Augen nieder.
»Jelena«, flüsterte sie auf einmal, für mich unerwartet, sehr leise.
»Also du heißt Jelena?«
»Ja …«
»Nun, wie ist’s? Wirst du manchmal zu mir kommen?«
»Ich kann nicht … ich weiß nicht … ja, ich werde kommen«, flüsterte sie, wie überlegend und mit sich kämpfend.
In diesem Augenblick schlug irgendwo eine Wanduhr.
Die Kleine fuhr zusammen, sah mich mit unbeschreiblich schmerzlicher Angst an und flüsterte:
»Was hat es da geschlagen?«
»Doch wohl halb elf.«
Sie schrie vor Schreck auf.
»O Gott!« rief sie und stürzte auf einmal davon. Aber auf dem Flur hielt ich sie noch einmal an.
»Ich lasse dich so nicht fort«, sagte ich. »Wovor fürchtest du dich? Hast du dich verspätet?«
»Ja, ja, ich bin heimlich weggegangen! Lassen Sie mich los! Sie wird mich schlagen!« schrie sie. Sie hatte offenbar mehr gesagt, als sie wollte, und riß sich aus meinen Händen los.
»So höre doch und warte; du willst nach der Wassili-Insel und ich ebenfalls, nach der Dreizehnten Linie. Ich habe mich auch verspätet und will eine Droschke nehmen. Willst du mit mir fahren? Ich werde dich hinbringen. Es geht schneller als zu Fuß …«
»Sie dürfen nicht dahin, wo ich wohne!« schrie sie, noch heftiger erschrocken. Ihre Gesichtszüge verzerrten sich sogar bei dem bloßen Gedanken, daß ich zu ihrer Wohnung kommen könnte.
»Aber ich sage dir ja, daß ich in meinen eigenen Angelegenheiten nach der Dreizehnten Linie will und nicht zu dir! Ich werde nicht hinter dir hergehen. Mit einer Droschke werden wir bald da sein. Komm!«
Wir stiegen eilig die Treppe hinunter. Ich nahm die erste Droschke, auf die ich stieß; es war ein greuliches Vehikel. Jelena hatte offenbar große Eile, da sie sich entschloß, mit mir einzusteigen. Das Rätselhafteste war mir, daß ich nicht einmal wagen durfte, sie zu fragen. Sie wehrte mit den Armen ab und wäre beinahe aus der Droschke gesprungen, als ich fragte, vor wem sie zu Hause solche Furcht habe. ›Was steckt für ein Geheimnis dahinter?‹ dachte ich.
In der Droschke saß sie sehr unbequem. Bei jedem Stoß griff sie mit ihrer schmutzigen, von Schrunden bedeckten, kleinen Linken nach meinem Mantel, um sich festzuhalten. Mit der andern Hand hielt sie ihre Bücher fest gefaßt; es war aus allem ersichtlich, daß ihr diese Bücher sehr teuer waren. Als sie sich einmal zurechtrückte, wurde einer ihrer Füße sichtbar, und zu meinem größten Erstaunen nahm ich wahr, daß sie nur zerrissene Schuhe, aber keine Strümpfe anhatte. Obgleich ich mir eigentlich vorgenommen hatte, sie nach nichts zu fragen, konnte ich mich doch nicht bezwingen.
»Besitzt du denn keine Strümpfe?« fragte ich. »Wie kann man nur bei so feuchtem, kaltem Wetter mit bloßen Füßen gehen?«
»Nein«, antwortete sie kurz.
»Aber, mein Gott, du wohnst doch gewiß bei jemand! Da solltest du die Leute um Strümpfe bitten, wenn du ausgehen mußt.« »Ich will es selbst so.«
»Aber du wirst krank werden und sterben!«
»Nun, dann sterbe ich!«
Sie wollte mir offenbar nicht antworten und war über meine Fragen ungehalten.
»Hier ist die Stelle, wo er gestorben ist«, sagte ich und zeigte ihr das Haus, bei dem der alte Mann gestorben war.
Sie betrachtete es aufmerksam, wandte sich dann auf einmal zu mir und sagte im Ton inständigster Bitte:
»Um Gottes willen, gehen Sie mir nicht nach! Aber ich werde zu Ihnen kommen, ich werde zu Ihnen kommen! Sobald es mir möglich sein wird, werde ich kommen!«
»Nun gut; ich habe dir schon gesagt, daß ich dir nicht nachgehen werde. Aber wovor fürchtest du dich denn? Du bist gewiß sehr unglücklich. Es tut mir weh, dich anzusehen …«
»Ich fürchte mich vor niemand«, antwortete sie; ihre Stimme klang gereizt.
»Aber du sagtest doch vorhin: ›Sie wird mich schlagen!‹«
»Mag sie mich schlagen!« erwiderte sie mit funkelnden Augen. »Mag sie mich schlagen! Mag sie mich schlagen!« wiederholte sie bitter, und ihre Oberlippe zog sich verächtlich in die Höhe und zitterte.
Endlich kamen wir auf die Wassili-Insel. Die Kleine ließ den Kutscher am Anfang der Sechsten Linie halten und sprang, sich unruhig rings umblickend, aus dem Wagen.
»Fahren Sie weiter; ich werde zu Ihnen kommen, ich werde zu Ihnen kommen«, wiederholte sie in schrecklicher Beängstigung und bat mich flehentlich, ihr nicht nachzugehen. »Fahren Sie recht schnell fort, recht schnell!«
Ich fuhr davon. Aber nachdem ich ein paar Schritte auf der Uferstraße weitergefahren war, lohnte ich den Kutscher ab, kehrte nach der Sechsten Linie zurück und ging schnell auf die andere Seite der Straße hinüber. Ich sah das Mädchen; sie war noch nicht weit weg, obgleich sie sehr schnell ging und sich dabei immer umblickte; einmal blieb sie sogar einen Augenblick stehen, um besser sehen zu können, ob ich auch nicht hinter ihr herkäme. Aber ich versteckte mich in einem Torweg, bei dem ich gerade war, und sie bemerkte mich nicht. Sie ging weiter und ich hinter ihr her, immer auf der anderen Seite der Straße.
Meine Neugier war im höchsten Grad erregt. Ich beabsichtigte zwar nicht, ihr in ihre Wohnung zu folgen, wollte aber für jeden Fall das Haus sehen, in welches sie hineingehen würde. Ich stand unter der Einwirkung eines seltsamen, peinlichen Gefühls, ähnlich demjenigen, das ihr Großvater in der Konditorei bei mir hervorgerufen hatte, als Asorka starb.
Viertes Kapitel
Wir gingen lange, bis dicht an den Kleinen Prospekt. Sie lief beinahe; endlich ging sie in einen Laden. Ich blieb stehen, um zu warten, bis sie wieder herauskommen würde. ›Sie wird doch nicht in dem Laden wohnen‹, dachte ich.
Wirklich kam sie nach einer Minute wieder heraus; aber die Bücher hatte sie nicht mehr bei sich. Statt der Bücher hatte sie eine irdene Schüssel in den Händen. Nachdem sie noch ein wenig weitergegangen war, bog sie in den Torweg eines unansehnlichen Hauses ein. Das Haus war nur klein, aber von Stein gebaut, alt, zweistöckig (aus einem Kellergeschoß und einem Hochparterre bestehend) und mit schmutziggelber Farbe angestrichen. In einem der drei Fenster des Kellergeschosses stand ein kleiner roter Sarg, das Schaustück eines geringen Sargtischlers. Die Fenster des oberen Stockwerkes waren sehr klein und vollständig quadratisch, mit trüben, grünlichen gesprungenen Scheiben, durch welche rosarote baumwollene Vorhänge sichtbar waren. Ich ging über die Straße hinüber, trat an das Haus heran und las auf einem Blechschild über dem Tor: ›Haus der Kleinbürgerin Bubnowa‹.
Aber kaum hatte ich das Schild gelesen, als auf dem Hof bei Frau Bubnowa das durchdringende Kreischen einer Weiberstimme erscholl, worauf eine Flut von Schimpfworten folgte. Ich blickte durch das Pförtchen hinein; auf den hölzernen Stufen vor der Haustür stand ein dickes Weib, in der Tracht einer Kleinbürgerin, mit einem hellfarbigen, seidenen Kopftuch und einem grünen Schal. Ihr Gesicht zeigte eine widerwärtige Purpurfarbe; die kleinen, triefenden, blutunterlaufenen Augen funkelten vor Bosheit. Offenbar war sie, obwohl es erst Vormittag war, nicht mehr nüchtern. Sie kreischte die arme Jelena an, die in einer Art von Erstarrung mit der Schüssel in den Händen vor ihr stand. Von der Treppe, hinter dem Rücken des dunkelroten Weibes stehend, sah ein strubbliges, weiß und rot geschminktes weibliches Wesen heraus. Bald darauf öffnete sich die Tür zu der nach dem Kellergeschoß führenden Treppe, und auf den Stufen dieser Treppe erschien, wahrscheinlich durch das Geschrei herbeigelockt, eine ärmlich gekleidete Frau in mittleren Jahren von angenehmem, bescheidenem Äußeren. Aus der halbgeöffneten Tür sahen auch noch andere Bewohner des Kellergeschosses heraus: ein gebrechlicher Greis und ein Mädchen. Ein großer, stämmiger Mann, wahrscheinlich der Hausknecht, stand mit einem Besen in der Hand mitten auf dem Hof und sah lässig die ganze Szene mit an.
»Ach, du verfluchte