Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский
Читать онлайн книгу.Ich bin vielleicht imstande, etwas für sie zu tun. Wer ist denn dieses Mädchen? Wer war ihre Mutter? Wissen Sie es?«
»Das war eine Art Ausländerin; sie war von auswärts hergekommen. Sie wohnte bei uns unten und war sehr krank; sie ist auch an der Schwindsucht gestorben.«
»Also ist sie wohl sehr arm gewesen, wenn sie als Aftermieterin im Kellergeschoß wohnte?«
»Schrecklich arm! Es schnürte einem das Herz zusammen. Wir schlagen uns nur kümmerlich durch; aber auch uns ist sie in den fünf Monaten, die sie bei uns gewohnt hat, sechs Rubel schuldig geblieben. Wir haben sie auch beerdigt; mein Mann hat noch den Sarg gemacht.«
»Wie kann dann die Bubnowa sagen, sie habe die Beerdigung besorgt?«
»Ach wo! Sie hat nichts dabei getan!«
»Und welchen Familiennamen führte denn die Verstorbene?«
»Ich kann ihn nicht aussprechen, lieber Herr; es war ein schwerer Name, wohl ein deutscher.«
»Smith?«
»Nein, es klang anders. Anna Trifonowna nahm dann die Waise zu sich; wie sie sagt, zur Erziehung. Aber es ist da überhaupt keine schöne Wirtschaft …«
»Sie hat sie gewiß in bestimmter Absicht zu sich genommen?«
»Sie treibt ein häßliches Gewerbe«, antwortete die Frau, überlegend und schwankend, ob sie reden solle oder nicht. »Was geht es uns an? Wir haben nichts damit zu tun.«
»Du tätest besser, deine Zunge im Zaum zu halten!« erscholl eine Männerstimme hinter uns.
Es war ein schon älterer Mann in einem Schlafrock und einem darübergezogenen langschößigen Rock, anscheinend ein Handwerksmeister, der Mann der Frau, mit der ich sprach.
»Wir haben mit Ihnen nichts zu reden, lieber Herr; das sind Dinge, die uns nichts angehen …«, sagte er, indem er mir einen schrägen Blick zuwarf. »Und du geh nur weg! Adieu, mein Herr! Ich bin Sargtischler; wenn Sie in meinem Fach etwas nötig haben, so werde ich jeden Auftrag zu Ihrer vollen Zufriedenheit ausführen … Sonst aber haben Sie und wir nichts miteinander zu verhandeln …«
Ich verließ dieses Haus in tiefen Gedanken und großer Aufregung. Machen konnte ich nichts; aber es war mir eine peinliche Empfindung, daß ich die Sache ihren Gang gehen lassen sollte. Einige Worte der Tischlerfrau beunruhigten mich ganz besonders. Da verbarg sich etwas Häßliches; das ahnte ich.
Ich ging mit gebeugtem Kopf und in Gedanken versunken dahin, als mich auf einmal eine laute Stimme mit meinem Familiennamen anrief. Ich blickte auf – vor mir stand ein Betrunkener, der beinahe schwankte; gekleidet war er ziemlich sauber, nur trug er einen garstigen Mantel und eine schmierige Mütze. Sein Gesicht kam mir sehr bekannt vor. Ich betrachtete ihn genauer.
Er blinzelte mich an und lächelte ironisch.
»Erkennst du mich nicht?«
Fünftes Kapitel
»Ah, du bist es Masslobojew!« rief ich, da ich auf einmal in ihm einen früheren Schulkameraden vom Gymnasium in der Gouvernementsstadt her erkannte. »Na, das ist ein unerwartetes Zusammentreffen!«
»Allerdings! Sechs Jahre lang sind wir einander nicht begegnet. Das heißt, begegnet sind wir uns schon; aber Euer Exzellenz haben mich keines Blickes gewürdigt. Du bist ja jetzt ein vornehmer Mann geworden, das heißt ein vornehmer Schriftsteller! …«
Bei diesen Worten lächelte er spöttisch.
»Na, lieber Masslobojew, da redest du töricht!« unterbrach ich ihn. »Erstens pflegen die vornehmen Leute, und wenn es auch nur vornehme Schriftsteller sind, schon äußerlich anders auszusehen als ich; und zweitens gestatte mir die Bemerkung: ich erinnere mich in der Tat, daß ich dir ein paarmal auf der Straße begegnet bin, aber du selbst wichst mir augenscheinlich aus; und ich werde doch nicht an jemand herantreten, wenn ich sehe, daß er mir ausweichen will. Und weißt du, was ich glaube? Wenn du nicht betrunken wärst, würdest du mich auch jetzt nicht angerufen haben. Nicht wahr? Na also, sei bestens begrüßt! Ich freue mich, freue mich sehr, lieber Freund, daß ich dich getroffen habe.«
»Wirklich? Kompromittiere ich dich auch nicht durch meine wenig korrekte äußere Erscheinung? Aber da bedarf es keiner Frage; ich erinnere mich noch recht wohl, Wanjuscha, was du für ein prächtiger Junge warst. Erinnerst du dich wohl noch, wie du für mich vom Lehrer Hiebe bekamst? Du schwiegst und verrietest mich nicht; ich aber, statt dir dankbar zu sein, machte mich eine Woche lang über dich lustig. Du bist eine edle Seele! Sei herzlich begrüßt, mein Teuerster!« (Wir küßten uns.) »Ich führe nun schon so viele Jahre lang ein einsames, mühseliges Leben, Tag und Nacht; aber ich habe die alte Zeit nicht vergessen. Die vergißt sich nicht! Und du, was machst du?«
»Ich? Ich führe auch ein einsames, mühseliges Leben …«
Er blickte mich lange an, mit der tiefen Rührung eines Menschen, den der Branntwein in weiche Stimmung versetzt hat. Übrigens war er auch sonst ein sehr gutherziger Mensch.
»Nein, Wanja, du bist ein anderer Mensch als ich«, sagte er endlich in pathetischem Ton. »Ich habe deinen Roman gelesen; ich habe ihn gelesen, Wanja, gelesen! … Aber höre mal: laß uns ein Weilchen gemütlich zusammen plaudern! Hast du Eile?«
»Ja, und ich muß dir gestehen, da ist eine Sache, die mich furchtbar aufregt. Aber weißt du, was das Beste ist? Sag mir, wo du wohnst!«
»Das will ich dir sagen; aber das Beste ist das nicht. Soll ich dir sagen, was das Beste ist?«
»Nun, was denn?«
»Was ist das da? Siehst du wohl?« Er zeigte auf ein Schild, zehn Schritte entfernt von der Stelle, wo wir standen. »Siehst du: ›Konditorei und Restaurant‹, das heißt, es ist einfach ein Restaurant, aber ein gutes Lokal. Ich sage dir vorher: ein anständiges Lokal, und ein Schnaps – vorzüglich! Ein Göttertrank! Ich habe ihn getrunken, oft getrunken; ich kenne ihn; und man wagt hier auch nicht, mir etwas Schlechtes vorzusetzen. Man kennt Filipp Filippowitsch. Ich heiße nämlich Filipp Filippowitsch. Nun? Du machst ein Gesicht? Nein, laß mich erst ausreden! Jetzt ist es ein Viertel auf zwölf, ich habe eben nachgesehen; na also, pünktlich um elf Uhr fünfunddreißig werde ich dich loslassen. Und unterdessen wollen wir ein bißchen was trinken. Zwanzig Minuten für einen alten Freund – ist’s dir recht?«
»Wenn es nur zwanzig Minuten sind, ist’s mir recht; denn, lieber Freund, ich habe da, weiß Gott, eine Sache …«
»Nun, wenn es dir recht ist, dann schön! Aber warte mal, zwei Worte vorher: du siehst so verstört aus, als ob du dich eben furchtbar geärgert hättest; ist es so?« »Ja, es ist so.«
»Das hatte ich doch erraten! Ich habe mich nämlich jetzt auf die Physiognomik gelegt, mein Lieber; das ist auch ein Studium! Nun, dann komm und laß uns plaudern! In zwanzig Minuten kann ich meinen Admiralstrunk zu mir nehmen: erst einen Birkenlikör, dann einen Liebstöckel, dann einen Pomeranzen, dann einen parfait-amour, und dann wird mir schon noch etwas einfallen. Ich bin Trinker, lieber Freund! Nüchtern bin ich nur an Festtagen vor der Messe. Aber du brauchst meinetwegen nicht zu trinken. Es ist mir nur an deiner Person gelegen. Wenn du aber mittrinkst, so wird das ein besonderer Beweis von Edelmut sein. Nun, dann wollen wir gehen! Laß uns ein paar Worte plaudern, und dann trennen wir uns wieder für zehn Jahre! Ich bin nicht von derselben Art wie du, Wanjuscha!«
»Na, schwatze nicht, sondern laß uns lieber hineingehen! Zwanzig Minuten sollen dir gehören; aber dann laß mich los!«
Um in das Restaurant zu gelangen, mußte man eine aus zwei Absätzen bestehende hölzerne Treppe nach dem zweiten Stockwerk hinansteigen. Aber auf der Treppe stießen wir mit zwei stark angetrunkenen Herren zusammen. Als sie uns sahen, wichen sie schwankend zur Seite aus.
Der eine von ihnen war ein sehr junger und sehr jugendlich aussehender Mensch, noch bartlos, nur mit einem ganz schwachen, eben keimenden Schnurrbart und mit übermäßig dummem Gesichtsausdruck. Er war stutzerhaft gekleidet, wirkte aber dabei komisch: es sah aus, als ob er fremde Kleider anhätte. An den Fingern trug er kostbare Ringe; in der Krawatte steckte eine wertvolle Nadel; seine Frisur, mit einer Art von Tolle, nahm sich recht dumm aus. Er lächelte