Gesammelte Weihnachtsmärchen für Kinder (Illustriert). Walter Benjamin
Читать онлайн книгу.sagen Sie dazu, Mr. Craggs?« fragte Snitchey.
Mr. Craggs schüttelte den Kopf.
»Wir glaubten doch, daß an dem Tag, wo die Mündigkeitserklärung stattfand, an der Manier, wie das Paar voneinander Abschied nahm, etwas Bemerkenswertes gewesen, daran erinnere ich mich«, sagte Snitchey.
»Ja, ja«, sagte Mr. Craggs.
»Vielleicht irrt er sich«, fuhr Mr. Snitchey fort, schloß den feuerfesten Kasten zu und stellte ihn an seinen gewohnten Ort, »wenn das aber nicht der Fall ist, so wäre etwas Wankelmut und Untreue auch kein Wunder, Mr. Craggs. Freilich hätte ich das schöne Gesichtchen für sehr treu gehalten. Mir erschien es so«, meinte Snitchey, indem er seinen Mantel und die Handschuhe anzog (es war recht kalt draußen) und ein Licht löschte, »als ob ihr Charakter gerade jetzt fester und ernster würde. Mehr noch als der ihrer Schwester.«
»Mrs. Craggs war der gleichen Auffassung«, meinte Craggs.
»Es sollte mich wirklich freuen«, sagte Snitchey, der im Grunde ein sehr gutes Herz hatte, »wenn ich annehmen könnte, daß Mr. Warden die Rechnung ohne den Wirt gemacht hat. Aber so leichtsinnig und ruhelos er auch ist, so kennt er doch die Welt und die Menschen (und es wäre schlimm, wenn dies nicht der Fall wäre, denn diese seine Kenntnis ist ihm teuer genug zu stehen gekommen); und ich kann es mir nicht recht wahrscheinlich vorstellen. Das beste ist für uns, daß wir uns nicht hineinmischen; wir können nicht mehr tun, Mr. Craggs, als schweigen.«
»Nicht mehr«, war Craggs Antwort.
»Unser guter Freund, der Doktor, nimmt solche Dinge gleichgültig«, sagte Snitchey und schüttelte den Kopf. »Ich will nur hoffen, daß er seine Philosophie nicht nötig hat. Unser Freund Alfred redet von dem Kampf des Lebens.« Er schüttelte wieder den Kopf. »Ich hoffe zum mindesten, daß er nicht schon im Anfang des Kampfes fallen wird. Haben Sie Ihren Hut, Mr. Craggs? Ich will das andere Licht auslöschen.«
Als Mr. Craggs bejahte, tat Mr. Snitchey wie er gesagt, und sie tasteten sich zum Besprechungszimmer hinaus, das jetzt so dunkel war, wie das Thema ihrer Rede oder wie die Justiz im allgemeinen.
* * *
Meine Geschichte führt mich jetzt in ein kleines ruhiges Studierzimmer, wo am selben Abend die Schwestern und der muntere alte Doktor vor dem behaglichen Kamin saßen. Grace hatte eine Näharbeit, Marion las aus einem Buch vor. Der Doktor in Schlafrock und Pantoffeln, die Füße auf dem warmen Teppich, saß im Lehnstuhl, hörte der Lesenden zu und blickte auf seine Töchter. Sie waren sehr schön von Aussehen. Zwei erquickendere Gesichter hatten noch nie eine Kaminecke vertraut und heilig gemacht. Etwas von verschiedenem Wesen hatten die verflossenen drei Jahre gemildert; und auf der reinen Stirn der jüngeren Schwester, in ihrem Auge und in dem Klang ihrer Stimme war die gleiche ernste Innigkeit wahrnehmbar, die bei ihrer ältern Schwester die mutterlos verlebte Jugend schon längst zur Reife geführt hatte. Aber immer noch schien sie lieblicher und zarter als die andere; immer noch schien sie ihr Haupt an ihrer Schwester Brust zu legen und auf sie zu achten, und Rat und Hilfe in ihren Augen zu suchen. In diesen seelenvollen Augen, die so ruhig, so sicher und so freundlich waren, wie ehedem.
»Und als sie jetzt im Vaterhaus weilte«, las Marion aus dem Buche, »das ihr so teuer durch alle diese Erinnerungen, begann sie zu empfinden, wie die schwere Prüfung ihres Herzens bald kommen müsse und nicht weiter zu bannen sei. O Vaterhaus, unser Trost und unser Freund, wenn alle andern uns verlassen, von dem der Abschied bei jedem Schritt zwischen Wiege und Grab –«
»Liebe Marion!« rief Grace.
»Mein Herzblatt!« sagte der Vater, »was ist mit dir?«
Sie ergriff die Hand, die ihr die Schwester reichte, und fuhr im Lesen fort. Aber ihre Stimme zitterte, obwohl sie sich bemühte, ihre Erregung zu unterdrücken.
»Von dem der Abschied bei jedem Schritt zwischen Wiege und Grab stets weh tut. O Vaterhaus, du immerdar treues und doch so oft von uns vernachlässigtes, sei nachsichtig gegen die, die dir untreu werden, und folge ihren irrenden Schritten nicht mit zu bitteren Vorwürfen. Laß keinen freundlichen Blick, kein Lächeln alter Zeit über deinem geistigen Antlitz aufleuchten. Laß keinen Strahl von Liebe, Milde, Langmut, Freundlichkeit von deinem hellen Haupt schimmern. Laß kein Gedenken an Liebesversicherung und Liebesglück gegen den, der dich verlassen, als Ankläger auftreten; sondern wenn dein Blick strafend und streng sein kann, dann sieh so voll Erbarmen die Reuevollen an.«
»Liebe Marion, lies heute abend nicht weiter«, sagte Grace – denn sie weinte.
»Ich kann nicht«, entgegnete sie und klappte das Buch zu. »Die Buchstaben scheinen alle zu flammen.«
Der Doktor hatte daran seinen Spaß, und er lachte, als er ihr die Wangen strich.
»Also bis zu Tränen gerührt von einem Roman!« sagte Doktor Jeddler. »Von Druckerschwärze und Papier! Nein, nein, es ist alles gleich, es ist ebenso gescheit, wie jeder andere Gegenstand. Aber wisch diese Tränen ab, wisch deine Tränen ab. Ich bin der Überzeugung, die Heldin ist längst wieder im Vaterhaus und hat sich mit allen versöhnt – und wenn sie dies nicht getan hat, so besteht womöglich ein wirkliches Vaterhaus bloß aus vier Wänden; und eines der Phantasie aus Lumpen und Tinte. Was gibt es?«
»Ich bin es, Herr«, sagte Clemency, und steckte den Kopf zur Tür herein.
»Und was hast du?« fragte der Doktor.
»Ach, lieber Himmel, ich habe nichts«, antwortete Clemency – und sie konnte recht haben, nach ihrem frischgewaschenen Gesicht zu urteilen, aus dem wie gewöhnlich die reine Quintessenz der fröhlichen Laune strahlte, wodurch sie, so wenig hübsch sie war, wirklich sympathisch wirkte. Wundgestoßene Ellbogen werden gewöhnlich nicht zu den schönen Dingen gezählt. Aber bei der Wanderung durch das Leben ist es immer besser, auf dem engen Pfad sich bloß die Arme statt die fröhliche Stimmung zu verderben, und Clemency war so munter und gesund dabei, wie jede Schöne im ganzen Lande.
»O, ich habe nichts«, sagte Clemency und trat vollends ins Zimmer, »aber kommen Sie etwas näher, Herr.«
Etwas erstaunt willfahrte der Doktor ihrem Wunsche.
»Sie sagten, ich sollte Ihnen keinen in ihrer Gegenwart geben, erinnern Sie sich«, sagte Clemency.
Ein in der Familie Fremder hätte nach ihrem seltsamen Augenzwinkern bei diesen Worten und bei der merkwürdig verzückten Bewegung ihrer Ellbogen, als ob sie sich selbst umarmen wolle, vielleicht der Meinung sein können, »keinen« bedeute, am freundlichsten ausgedeutet, einen ehrbaren Kuß. In der Tat schien der Doktor im ersten Moment selbst nicht zu wissen, was er davon halten sollte. Er gewann indessen rasch seine Fassung wieder, als Clemency, nachdem sie beide Taschen durchforscht – wobei sie mit der rechten begann, dann in der falschen wühlte und zuletzt zu der rechten wieder zurückkehrte – einen Brief herausbeförderte.
»Britain fuhr vorbei«, sagte sie und überreichte den Brief dem Doktor, »gerade als die Post ankam, und wartete darauf. Es steht A. H. in der Ecke. Ich wette, Mr. Alfred ist auf der Rückkehr begriffen. Wir bekommen eine Hochzeit im Haus – ich hatte heute morgen zwei Löffel in der Tasse. Mein Gott! wie langsam er ihn öffnet!«
Sie sprach das alles als Selbstgespräch und erhob sich in ihrer Ungeduld, die Neuigkeit zu erfahren, auf den Fußspitzen, zugleich machte sie einen Korkzieher aus ihrer Schürze und eine Flasche aus ihrem Munde. Endlich ließ sie sich, auf dem Gipfel ihrer Erwartung angelangt, indessen der Doktor mit dem Brief noch immer nicht zu Ende war, plötzlich wieder auf die Fußsohlen fallen, warf ihre Schürze als Schleier über den Kopf, von stummer Verzweiflung völlig überwältigt und nicht imstande, dies länger auszuhalten.
»Hier! Mädchen!« rief der Doktor. »Ich kann nicht anders; ich habe in meinem Leben kein Geheimnis bei mir bewahren können. Es gibt auch nicht viel Geheimnisse, die wert sind, bewahrt zu werden in dieser – aber still davon! Alfred ist auf dem Heimweg und kommt demnächst!«
»Demnächst!« rief Marion aus.
»Sieh mal an! Ist der Roman so rasch vergessen?« sagte der Doktor und kniff sie in die Wange. »Ich dachte es