Gesammelte Weihnachtsmärchen für Kinder (Illustriert). Walter Benjamin
Читать онлайн книгу.wiederholte Marion.
»Nun, vielleicht nicht, was deine Ungeduld demnächst nennt«, entgegnete der Doktor; »aber doch ziemlich bald. Wartet einmal! heute ist Donnerstag, nicht wahr? dann will er heute über einen Monat eintreffen.«
»Heute über einen Monat«, wiederholte Marion leise.
»Ein froher Tag und ein Feiertag für uns alle«, sagte die heitere Stimme ihrer Schwester Grace, die sie beglückwünschend küßte. »Ein lange erwarteter Tag, Liebste, und endlich sich nahend.«
Ein Lächeln war die Antwort; ein trübes Lächeln, aber voll schwesterlicher Liebe; und als sie ihrer Schwester ins Gesicht blickte und dem harmonischen Klang ihrer Stimme lauschte, wie sie die Freuden der Rückkehr weiter ausmalte, da schimmerte auch auf ihrem eigenen Antlitz Hoffnung und Freude.
Und noch etwas: ein Etwas, das mehr und mehr durch die übrigen Empfindungen hindurchdrang, und wofür ich keine Bezeichnung habe.
Es war nicht Freude, Jubel, strahlende Begeisterung. Die offenbaren sich nicht so ruhig. Es waren nicht nur Liebe und Dankbarkeit, obschon diese einen Teil davon ausmachten. Es ging aus keinem kleinlichen Gedanken hervor; denn diese leuchten nicht so auf der Stirn, brennen nicht so auf den Lippen.
Doktor Jeddler vermochte trotz seiner Philosophie – die er beständig in der Praxis leugnete, wie es bei berühmten Philosophen oft der Fall ist – nicht anders, ein ebenso großes Interesse an der Rückkehr seines alten Schülers und Mündels zu bekunden, als ob es ein bedeutsames Ereignis wäre. So setzte er sich wieder in seinen Lehnstuhl, streckte die Füße wiederum auf den warmen Teppich aus, las den Brief noch mehrere Male durch und sprach noch viel häufiger von ihm.
»O, es gab noch eine Zeit«, sagte der Doktor und schaute ins Feuer, »als ihr beide zusammen, du, Grace und er, Arm in Arm herumlieft, wie ein paar lebende Puppen. Erinnerst du dich noch?«
»O gewiß«, antwortete sie mit heiterm Lachen und nähte wieder emsig.
»Heute über einen Monat!« sagte der Doktor nachdenklich. »Kaum ein Jahr scheint vergangen zu sein. Und wo war meine kleine Marion damals?«
»Nie weit von ihrer Schwester, so klein sie auch war«, sagte Marion; »Grace war mein Alles, auch als sie selbst noch ein Kind war.«
»Sehr richtig, mein Herzblatt, sehr richtig«, versetzte der Doktor. »Sie war eine wackere kleine Hausfrau, meine Grace, und eine gute Wirtschafterin und ein fleißiges, kluges Kind; voller Geduld für unsere Launen, immer bereit, unsern Wünschen zuvorzukommen, und die eigenen hintanzustellen; selbst damals schon. Schon damals, Grace, warst du nie verdrossen und eigenwillig, von einem einzigen Punkt abgesehen.«
»Ich befürchte, daß ich mich seitdem sehr zu meinem Nachteil verändert habe«, lachte Grace, immer noch eifrig arbeitend. »Was war denn das für ein Punkt, Vater?«
»Alfred natürlich«, sagte der Doktor. »Du warst nur zufrieden, wenn man dich Alfreds Frau nannte; also nannten wir dich Alfreds Frau; und das gefiel dir besser (so merkwürdig es jetzt auch erscheinen mag), als wenn wir dir den Titel einer Herzogin verliehen hätten, wenn wir dich dazu hätten erheben können.«
»Ist es wirklich so?« sagte Grace gelassen.
»Nanu, weißt du das nicht mehr?« fragte der Doktor.
»Ich glaube, ich erinnere mich noch etwas daran«, erwiderte sie, »aber kaum. Es ist zu lange her.” Und während sie nähte, summte sie den Refrain eines alten Liedes, das der Doktor liebte.
»Alfred wird bald eine wirkliche Frau haben«, sagte sie und lenkte das Gespräch auf eine andere Bahn. »Und das wird eine schöne Zeit für uns alle sein. Meine dreijährige Verpflichtung ist bald vorüber, Marion. Du hast es mir sehr erleichtert. Ich werde Alfred sagen, wenn ich dich wieder an seine Brust lege, daß du ihn die ganze Zeit innig geliebt hast und daß er nicht ein einziges Mal meiner Hilfe bedurft hat. Darf ich ihm das sagen, meine Teure?«
»Sage ihm, liebe Grace«, antwortete Marion, »daß nie eine Pflicht so edel, so vornehm, so treulich erfüllt wurde; daß ich dich seit damals von Tag zu Tag immer mehr habe lieben lernen, und daß ich dich jetzt so unaussprechlich liebe!«
»Das vermag ich ihm kaum zu sagen«, versetzte ihre Schwester, sie ihrerseits umarmend, »meine Verdienste mag sich Alfreds Phantasie ausmalen. Er wird reichlich übertreiben, meine Marion: ganz wie du.«
Sie griff nun wieder zu ihrer Arbeit, die sie aus der Hand gelegt hatte, als ihre Schwester so voller Rührung zu ihr geredet, und sie summte wieder das alte Lied, das der Doktor so gern hatte. Und der Doktor saß immer noch im Lehnstuhl, lauschte dem Lied, schlug mit Alfreds Brief den Takt dazu auf seinem Knie, schaute auf seine Töchter und sagte sich, daß unter den vielen Eitelkeiten der eitlen Welt diese wenigstens berechtigt waren.
Inzwischen eilte Clemency Newcome, nachdem sie ihre Botschaft erledigt und im Zimmer gewartet hatte, bis sie endlich alles wußte, wieder in die Küche, wo Mr. Britain es sich nach dem Abendessen behaglich machte, umgeben von einer so umfassenden Sammlung von blitzenden Deckeln, sauber gescheuerten Töpfen, polierten Schüsseln, glänzenden Kesseln und andern Zeugnissen ihres Fleißes an den Wänden und auf den Regalen, daß er gleichsam inmitten einer Spiegelhalle saß. Die spiegelten allerdings kein sehr schmeichelhaftes Bild von ihm wider. Zudem waren ihre Darstellungen keineswegs gleichartig: denn manche verliehen ihm ein sehr langes Gesicht, manche ein sehr breites; manche ein ganz nettes und andere ein sehr häßliches, je nach ihrer Manier zu reflektieren, ganz wie dies die Menschen tun. Aber darin stimmten sie völlig überein, daß in ihrer Mitte ganz gemütlich ein Individuum saß, mit der Pfeife im Mund, einen Krug Bier neben sich und Clemency gnädig zunickend, als sie sich an dem gleichen Tisch niederließ.
»Nun, Clemency«, sagte Britain, »was hast du jetzt, und was gibt es Neues?«
Clemency erzählte ihm, was sie gehört, und er nahm es sehr liebenswürdig auf. Eine wohltuende Verwandlung war bei Benjamin vom Kopf bis zur Zehe erfolgt. Er war viel massiver und viel röter, viel vergnügter und viel lustiger anzusehen. Es machte den Eindruck, als ob sein Gesicht in einen Knoten zusammengebunden gewesen und jetzt aufgeknotet und ausgeplättet worden wäre.
»Das wird wohl ein neues Geschäft für Snitchey und Craggs ausmachen«, versetzte er, behäbig Rauchwolken in die Luft blasend. »Und wir werden vielleicht wieder als Zeugen antreten, Clemency!«
»Himmel!« antwortete Clemency mit der üblichen Bewegung ihrer Lieblingsgliedmaßen. »Ich wollte, ich wäre dran, Britain!«
»Was denn dran?«
»Die dran ist zu heiraten!«
Benjamin nahm die Pfeife aus dem Mund und lachte hell auf. »Ja! Du bist ganz die Richtige dazu«, sagte er: »dummbrave Clemency!« Clemency lachte nun ebenso herzlich wie er und schien an der Idee ebensoviel Vergnügen zu finden. »Ja«, fuhr sie fort, »ich bin ganz die Richtige dazu; findest du nicht?«
»Du wirst selbstverständlich niemals heiraten«, sagte Mr. Britain und führte die Pfeife wieder zum Mund.
»Glaubst du wirklich nicht?« sagte Clemency ganz arglos.
Mr. Britain schüttelte den Kopf. »Dafür bestehen keine Aussichten!«
»Aber bedenke doch!« sagte Clemency. »Nämlich: ich glaube, du wirst nächstens daran sein, Britain; nicht wahr?«
Eine so jäh gestellte Frage über eine so bedeutende Angelegenheit erforderte Überlegung. Nachdem er eine große Rauchwolke gebildet und sie, den Kopf bald auf diese bald auf jene Seite legend, beschaut halte, als wäre diese Wolke das strittige Problem, und er betrachtete sie von verschiedenen Gesichtspunkten aus, entgegnete Mr. Britain, daß er über die Sache noch nicht ganz im klaren sei, aber – im übrigen – er könnte sich eventuell noch dazu entschließen.
»Wer sie auch sein mag, ich wünsche ihr Glück!« rief Clemency.
»O, daran wird es ihr nicht fehlen«, meinte Benjamin, »bestimmt nicht.«
»Aber sie würde nicht so glücklich sein und keinen so wirklich