Der Fluch des Bierzauberers. Günther Thömmes
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Die Zuhörer lachten trotz ihres eigenen Elends lauthals über diese Geschichte und Knoll wünschte sich, ganz Magdeburg hätte sich vor Tilly in einer Höhle verstecken können.
Des Öfteren fragte er sich, wie er in eine solche Situation geraten konnte. Er, der einstmals geachtete, gut beleumundete Bürger, der wohlhabende Brauherr aus Magdeburg, klug, erfahren und stark. Nie hatte er aufbegehrt gegen die Obrigkeit, hatte brav seinen Platz eingenommen, auf den ihn die Vorsehung gestellt hatte. Anständig war er gewesen, hatte immer seine Steuern bezahlt und seine Pflichten erfüllt. Trotzdem war er nicht beschützt worden. Und trotzdem hatte das Schicksal ihm so übel mitgespielt, dass er nun in einer Höhle leben musste. Er lebte, immerhin, aber sein Vertrauen in die gottgegebene Gesellschaftsordnung war merklich erschüttert. Hilflosigkeit war das, was er am heftigsten empfand. Keine Möglichkeit blieb ihm, wirklich aktiv gegen sein Schicksal aufzubegehren. Nichts, außer schimpfen und fluchen.
Einmal versuchte er sich am Bierbrauen, ließ sich eine kleine Menge der kargen Getreideernte zuteilen, vermälzte diese unter primitiven Bedingungen und präsentierte am Ende ein dünnes, hopfenloses Gersten- und Haferbier, das dennoch von allen mit Genuss getrunken wurde.
Als sie endlich beschlossen, dass es genug sei, dass der Krieg nun wohl vorbei sein müsse, hatten sowohl Cord Heinrich Knoll als auch Magdalena die dreißig Jahre gerade überschritten, Gisbert war zwölf und der kleine Ulrich sechs Jahre alt. Und die kleine Lisbeth Magdalena, in der Kakushöhle geboren, zählte zwei Jahre. Sie war insofern eine Kuriosität, als dass sie zweimal getauft worden war. Einmal reformiert und einmal katholisch, jeweils von einem Elternteil, ohne Wissen des anderen. Mehr als drei Jahre lang hatten die Knolls als Höhlenmenschen gelebt. Man schrieb das Frühjahr 1635. Nur eine einzelne, zerrissene weiße Wolke hing einsam an einem ansonsten unwiderstehlich blauen Frühlingshimmel, als die Familie die Kakushöhle für immer verließ …
Und während sie in der Höhle dahinvegetierten, war in einem anderen Teil Deutschlands, im hessischen Homburg, am 30. März 1633 die Geburt des kleinen Prinzen Friedrich von Homburg gefeiert worden. Die Geburt eines Menschen, der viele, viele Jahre später so dramatisch ins Leben der Familie Knoll eingreifen sollte.
6.
Leider war der Krieg keineswegs vorbei, sondern es hatten sich lediglich erneut Schauplatz und Protagonisten geändert. Das katholische Frankreich beteiligte sich nun an der Seite des protestantischen Schweden am internationalen Schlachtfest. Dadurch geriet die Katholische Liga unter Druck, und der Krieg verlagerte sich nach Süddeutschland.
Zur gleichen Zeit begann jedoch überall, in ganz Deutschland, für die Bevölkerung der grausamste Teil des Krieges: Die, vom nun bereits beinahe zwanzig Jahre andauernden Krieg, völlig verrohten Söldner kannten inzwischen keine Grenzen mehr, was das Drangsalieren der Landbevölkerung anging. Das Magdeburgisieren wurde der traurige, der entsetzliche Standard. Überall zogen kleinere, verwahrloste Heere durchs Land, zu Wallenstein, Pappenheim, den Bayern, Franzosen, Spaniern, Holländern oder Schweden gehörig, schlugen hier und da eine bedeutungslose Schlacht, die sie jeweils zum Anlass nahmen, die Bürger und Bauern zu schröpfen. Bisweilen kam es auch zu grausamen Missverständnissen, wie in Donauwörth, wo die Schweden zuerst die reformierten Bürger vom katholischen Joch erlösten und anschließend versehentlich massakrierten.
Besonders diese schwedischen Söldner erlangten traurige Berühmtheit durch ihren Erfindungsreichtum, da sie sich immer neue Foltermethoden ausdachten. Zum Teil hing es auch damit zusammen, dass sie hier im deutschen Krieg zum ersten Mal mit Wein in Berührung gekommen waren, den sie in den gleichen Mengen und mit demselben Durst konsumierten wie ansonsten das Bier. Nur mit dem gravierenden Nachteil, dass der Wein viel stärker war als ihr üblicher Durstlöscher, und somit zogen die Schweden die meiste Zeit völlig betrunken und enthemmt durchs Land. Wie auf das Wild, so wurde auch Jagd auf Bauern gemacht, von denen man sich noch ein Stück Vieh oder ein Geldstück erhoffte. Unbarmherzig wurden die Opfer misshandelt, nackt an heiße Öfen gebunden, gehängt oder an den Fußsohlen verbrannt. Am meisten gefürchtet wurde der Schwedische Trunk: Eimerweise schüttete man den armen Leuten Wasser oder gar viehische Jauche in den mit einem Stück Holz aufgesperrten Rachen, worauf man ihnen mit den Füßen in die dick angefüllten Bäuche trat oder mit Holzlatten darauf schlug. Wer das überlebte, der verriet alle Verstecke. Auch die Söldner hatten mittlerweile den Braten gerochen, dass sich viele Menschen in Höhlen vor ihnen versteckten. Deshalb hatten sie sich folgerichtig auf Menschen abgerichtete Spürhunde angeschafft, mit denen sie durch die Wälder zogen, um so die Menschen in ihren Höhlen ausfindig zu machen. Deutsche, spanische, kroatische, niederländische sowie Soldaten anderer Nationen standen den Schweden hinsichtlich der ausgeübten Grausamkeit jedoch in wenig bis gar nichts nach.
Viele Bauern waren entweder im Krieg gestorben oder hatten sich aus Verzweiflung den Söldnern angeschlossen und die Höfe einfach ihren Frauen überlassen. Dies führte dazu, dass viele Anwesen weit unter Wert verkauft wurden, weil die überforderten Frauen sich und ihre Kinder vor dem Hungertod retten mussten. Die so heimatlos Gewordenen schlossen sich zu regelrechten Bettlerheeren zusammen, die nun planlos durch ganz Europa zogen. Alle Fundamente der ein Jahrtausend alten, von den meisten als göttlich angesehenen Gesellschaftsordnung gerieten ins Wanken. Und nachdem das ganze Land geplündert war, das Vieh tot und die Felder verwüstet, kam die Pest über die Menschen. Bis zum Herbst dauerte die Seuche an, danach gab es eine große Teuerung und zu guter Letzt erneut eine Hungersnot.
Die Natur spielte allerorten verrückt: Im Winter war es so warm gewesen, dass die Mandelbäume geblüht hatten, im Sommer nun hingegen erfroren alle Obstbäume. In Bamberg erbebte die Erde. An der Nordsee wütete eine verheerende Springflut, die nicht nur Inseln entzwei riss, sondern Teile von Hamburg und seiner Hafenanlagen zerstörte, und Schiffe, Menschen und Häuser mit sich zog. Zehntausend Menschen starben allein bei dieser Katastrophe. An der Ostsee tobte ein mörderischer Sturm mit Blitzen und Donner in nie erlebter Stärke. Aus Neapel wurde eine Entzündung des Vesuvs gemeldet, der das paradiesische Land mit Felsbrocken und glühender Asche verbrannt hatte; gerade so, als wolle die Natur zeigen, dass nicht nur die Menschen das Land verwüsten und magdeburgisieren konnten. Vielerorts wurde von Himmelserscheinungen, Kometen und drei Sonnen berichtet. Wahrsager und Scharlatane hatten Hochkonjunktur.
Spätestens im Mai 1635 hatte Knoll es bereut, die Höhle verlassen zu haben. Sie waren aber bereits zu weit gewandert, um zurückzukehren. Der Hunger wurde nun zu ihrem größten Feind. Sogar mit dem wenigen Geld, das ihnen verblieben war, konnte man nichts anfangen. Es gab einfach nichts, was die Leute entbehren konnten. Und sich mit Gewalt etwas zu nehmen, das kam für ihn nicht infrage.
»Dann wäre ich ja nicht besser als die rasenden, wütenden Bestien, die das Land verheeren«, sagte er wiederholt, wenn Magdalena die Frage aufwarf, ob Verhungern besser sei als Raub: »Wer nix hat, wird halt bös!«
Fanden sie einmal ein verendetes Pferd auf ihrem Weg, so war dies ein richtiggehender Glücksfall. Knoll verscheuchte dann die Raben und verwilderten Hunde, wedelte mit einer Hand die Myriaden Fliegen beiseite und schnitt mit seinem Messer in der anderen Hand Streifen des teilweise bereits verwesenden Fleisches ab. Sie aßen es sofort und roh, an Ort und Stelle, und häufig erbrachen sie das Ganze, von Krämpfen geschüttelt, gleich wieder. Doch manchmal half es ihnen, einen weiteren Tag zu überleben. Wiederholt sahen sie Menschen, die weinend und wimmernd dabei waren, ihre Verstorbenen wieder auszugraben, um mit deren Leichnamen ihren unsäglichen Hunger zu stillen. Alle wussten um den Frevel und die Strafen, die der Entdeckung dieser Gräueltaten folgen würden. Indes, alles war besser, als elendig den Hungertod zu sterben.
Grimmig merkte Magdalena an: »Wenn man überall vergebens um Nahrung angesucht hat, dann klopft man schließlich bei seinen Ahnen an.«
Niemand beachtete sie, niemand hatte Angst vor ihnen oder davor, dass sie die hungrigen Totengräber verraten könnten. Sie waren wie Schatten, die durch diese grausame Welt huschten.
In der Nähe von Wittlich, nicht weit entfernt vom großen Moselfluss, sahen sie von Weitem einen Bauernhof, bei dem sie um Lebensmittel nachfragen wollten. Ein schöner, großer Hof, mit einem Hauptgebäude in Fachwerkbauweise, daneben eine große Scheune, deren untere Hälfte gemauert und die obere ebenfalls als Fachwerk