Die Zeit mit Anaïs. Georges Simenon

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Die Zeit mit Anaïs - Georges  Simenon


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      »Und wie sind Sie nach Ingrannes gekommen?«

      »Mit dem Auto.«

      »Mit einem gestohlenen Wagen?«

      »Nein. Mit meinem eigenen.«

      »Wollten Sie über die Grenze?«

      »Nein. Ich bin einfach drauflosgefahren. Ich hatte das dringende Bedürfnis, Auto zu fahren.«

      Die erste Stimme, die von Wachtmeister Rochain, flüsterte dem Kollegen zu:

      »Frag ihn, ob er bewaffnet ist.«

      »Sind Sie bewaffnet?«

      »Ich …«

      Er versuchte sich zu erinnern, was er mit dem Revolver gemacht hatte.

      »Nein.«

      »Sind Sie ganz sicher, dass Sie keine Waffe haben?«

      »Ich gebe Ihnen mein Wort.«

      »In Ordnung. Bleiben Sie, wo Sie sind. Warum können Sie nicht mit Ihrem eigenen Wagen zu uns fahren?«

      »Mein Auto hat eine Panne.«

      »Ich rufe jetzt Orléans an und lasse mir weitere Instruktionen geben. Bleiben Sie, wo Sie sind. Warten Sie mal! Ist der alte Durieu gerade in Ihrer Nähe?«

      »Wenn Sie den Wirt meinen, ja.«

      »Geben Sie ihn mir.«

      Er wandte sich nur halb zu den anderen um, aber das genügte, um zu sehen, dass der Jagdaufseher auf der Tischkante saß, sein Gewehr auf den Knien, dessen Lauf auf ihn gerichtet war.

      »Die Gendarmerie möchte Sie sprechen, Monsieur Durieu.«

      In diesem Moment geschah etwas, worauf er nicht gefasst war und das ihn zutiefst traf. Als er dem Mann mit der Schürze den Ebonit-Hörer hinhielt, brachte dieser es nicht über sich, zu ihm zu treten und ihn entgegenzunehmen. Anfangs missverstand Bauche das Zögern und meinte, der Mann habe Angst. Er setzte also wieder sein klägliches Lächeln auf, das eigentlich ganz untypisch für ihn war, und versuchte ihn zu beruhigen.

      »Sie haben doch gehört, was ich gesagt habe. Ich bin nicht bewaffnet. Ich will mich der Polizei stellen.«

      Doch Angst war es nicht gewesen, und als er sich darüber klar wurde, überraschte es ihn zuerst. Was er in den Augen des Bauern las, war ein ihm noch unbekanntes Gefühl, von dessen Existenz er bislang nicht die leiseste Ahnung gehabt hatte.

      Entsetzen war es nicht. Auch nicht Abscheu.

      Es war schlimmer.

      Den Hörer in der Hand, aus dem die Stimme des Gendarmen ins Leere tönte, wandte er sich den anderen zu, suchte in ihren Augen zu lesen.

      Er begriff, nein, er spürte körperlich, dass zwischen ihm und den anderen unversehens eine unsichtbare Schranke runtergegangen, eine Kluft entstanden war, die weder er noch sie je würden überbrücken können.

      Die Frau blickte unverwandt auf die Scheite im Kamin.

      »Möchten Sie nicht mit ihm sprechen?«

      Beinahe so, als wäre er ein Pestkranker, legte er den Hörer auf das Brett unter dem Apparat und trat zwei Schritte zur Seite, wobei er peinlich genau darauf achtete, nicht zu nahe an die Tür zu gehen und keine verdächtige Bewegung zu machen, denn die Männer wären durchaus imstande gewesen, auf ihn zu schießen.

      Nach kurzem Zögern ergriff der Wirt mit spitzen Fingern den Hörer.

      »Louis am Apparat.«

      Es war nicht zu verstehen, was der Wachtmeister am anderen Ende der Leitung sagte, aber die Hörmuschel vibrierte.

      »Ja … Ja … Fernand ist gerade hier … Und zwei andere … Ja … Was sollen wir? … Ich weiß nicht. So um die dreißig herum … Ja … Vier Gläser Schnaps … Ich weiß nicht … Ich glaube nicht …«

      Bauche, der kein Auge von dem Wirt gelassen hatte, bemerkte, dass der Mann kreidebleich war, als sei ihm übel geworden.

      »Geh mal lieber nach oben, und leg dich schlafen«, sagte er liebevoll zu seiner Frau, nachdem er eingehängt hatte.

      Sie bedeutete ihm, sich zu ihr herunterzubeugen, und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Er antwortete mit gedämpfter Stimme, redete ihr zu, und sie erhob sich mit der Katze im Arm, wandte sich zu einer Tür, hinter der sich die Treppe befand. Ihr Mann folgte ihr, und als er wieder in den Raum trat, war er immer noch fahl im Gesicht. Er wollte zur Flasche greifen, aus der er Bauche eben eingeschenkt hatte, besann sich jedoch anders und goss sich ein Glas Wein ein.

      Ihm war sichtlich nicht nach Alkohol zumute, etwas bedrückte ihn. Er stand eine Weile hinter der Theke herum, aber dort schien er sich unbehaglich zu fühlen, und er begab sich zu seinen Gefährten im hinteren Raumteil.

      Bauche rührte sich nicht von der Stelle und blickte unverwandt zu ihnen hinüber. Sie redeten über ihn. Der Jagdaufseher senkte kaum die Stimme, als er fragte:

      »Was hat François gesagt?«

      Dann tuschelten sie miteinander. Als einer der Hunde zu dem Fremden ging, rief ihn sein Herr zurück und befahl ihm, sich zu seinen Füßen niederzulegen.

      Er hätte sich gerne hingesetzt, doch in seiner Nähe stand kein Stuhl, und er fürchtete, ihnen einen Schrecken einzujagen, wenn er sich bewegte. Er hätte auch gerne noch etwas getrunken oder vielleicht etwas gegessen. Er bildete sich plötzlich ein, Hunger zu haben, und der Anblick der Sardinenbüchsen verursachte ihm einen stechenden Schmerz in den Eingeweiden.

      Er war sich bewusst, dass er sie um nichts bitten durfte, auf keinen Fall! Sie würden es ihm sehr verübeln, wenn er auch nur einen Bissen zum Munde führte, denn es war ja, als hätte er unvermittelt aufgehört, ein Mensch zu sein. Ein anderes, überaus natürliches Bedürfnis, dem er aber noch weniger nachkommen durfte, quälte ihn während der vierzig Minuten, die er noch zu warten hatte, den Blick unverwandt auf den Stuhl gerichtet, der zwei Meter von ihm entfernt stand und auf dem er sich so gerne ausgeruht hätte.

      Zuerst hatten die Hunde etwas gehört und spitzten die Ohren. Dann war das Brummen eines Motors zu vernehmen, es wurde lauter, Bremsen quietschten, eine Wagentür wurde zugeschlagen. Zwei uniformierte Gendarmen stießen die Tür auf. Das Ladenglöckchen bimmelte. Mit ihnen drang nächtliche Kälte und Feuchtigkeit in den warmen Raum.

      »Sind Sie der Mann, der vorhin angerufen hat?«

      Das Folgende spielte sich ab wie ein Taschenspielertrick, so als wäre die Szene in allen Einzelheiten geprobt worden. Bauche spürte die Hände eines der beiden Gendarmen an seinem Körper entlanggleiten, man wollte wohl sichergehen, dass er keine Waffe trug. Der Zweite pflanzte sich vor ihm auf, deutete auf seine Handgelenke.

      »Streck die Hände aus!«

      Im Nu waren die Handschellen zugeschnappt.

      Der Tonwechsel hatte sich völlig übergangslos vollzogen. Gerade noch hatte man ihn gesiezt.

      ›Sind Sie der Mann, der vorhin angerufen hat?‹

      Und dann unvermittelt das brutale ›Du‹, das nichts von einer vertraulichen Anrede hatte.

      ›Streck die Hände aus!‹

      Die drei Männer stellten ihre Gewehre in die Ecke, und man spürte, dass das Leben wieder in die altgewohnten Bahnen zurückkehrte.

      »Deine Papiere.«

      »In der Innentasche meines Jacketts.«

      Er schien sich geradezu dafür zu entschuldigen, dass er sie wegen der Handschellen nicht selber hervorholen konnte.

      Der Wachtmeister nahm auf einem Stuhl Platz, um die Brieftasche zu untersuchen, und setzte seine Brille auf. Als er den Ausweis gefunden und ihn hin- und hergewendet hatte, ging er zum Telefon und drehte die Kurbel.

      »Verbinden Sie mich bitte mit Orléans. Vordringliches Gespräch. Wachtmeister Rochain am Apparat.«


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