Die Zeit mit Anaïs. Georges Simenon

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Die Zeit mit Anaïs - Georges  Simenon


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er, dass man ihn von der Welt ausschloss.

      Als die Landstraße unmerklich in eine städtische Chaussee überging, wo noch die Überreste von alten Trambahnschienen zwischen den nassen Pflastersteinen aufleuchteten, da und dort eine Straßenlaterne zu sehen war, fuhr dicht an ihrem Auto ein Bus vorbei. Die Menschen hinter den erleuchteten Fenstern wirkten wie Figuren in einem Gemälde. Wie gerahmt erschien ihm das Bild einer noch jungen Frau mit bleichem Gesicht unter einem blauen Hut, die einen schlafenden Säugling im Arm hielt. Beim Anblick der beiden Gendarmen runzelte sie die Stirn, beugte sich nach vorn, drückte die Stirn gegen die Scheibe, um herauszufinden, wer sich auf dem Rücksitz des Autos befand.

      Dann erblickte er ein Kino, das seine Phantasie gefangen nahm: Aus einem grell erleuchteten Geviert, das sich in der düsteren Straße befremdlich ausnahm, trottete eine Herde von Menschen mit hochgestellten Mantelkragen. Alle schickten sich an, ihre Schirme aufzuspannen. Auf einem bunten Plakat hob eine Frau ihren Rock bis über die Schenkel hoch.

      Sie fuhren durch eine menschenleere Straße, dann durch eine weitere, wo die Schritte eines einzigen Passanten widerhallten, der sich auf dem Heimweg befand. Sie bogen ab, und das Auto hielt vor einem tristen Gebäude mit nur zwei oder drei erhellten Fenstern. Man ließ ihn aussteigen, führte ihn über den Gehsteig. Nur einmal gab ihm der Wachtmeister, scheinbar unabsichtlich, einen kleinen Schubs.

      »Da hinauf!«

      Warum zwinkerten sie sich zu, als sie ihn vorangehen ließen? Die Treppe war staubig, kaum beleuchtet. Die Luft war mit dem allen Amtsgebäuden eigentümlichen Geruch durchtränkt. Im ersten Stock stieß Wachtmeister Rochain eine Tür auf, als wäre er hier zu Hause, durchschritt ein leeres Büro, klopfte an einer zweiten Tür, unter der ein Lichtschein nach draußen drang. Niemand forderte ihn zum Eintreten auf, aber nach einiger Zeit wurde die Tür geöffnet, und das Erste, was Bauche erblickte, war eine Frau mit grellgeschminkten Lippen. Sie trug eine enganliegende Seidenbluse, rauchte eine Zigarette. Sie hätte die Frau auf dem Plakat sein können. Dann sah er den Mann, der eben die Tür aufgemacht hatte. Er wirkte ziemlich alt und verbraucht, nicht besonders gepflegt, und sein Anzug war zerknittert, wie das oft bei Leuten der Fall ist, die nachts arbeiten.

      Bauche und seine Gendarmen traten in ein Büro, das mit seiner alten Schreibmaschine in einer Ecke und den Rauchschwaden um die Lampe wie das Kontor eines kleinen, nicht besonders gutgehenden Unternehmens anmutete. Die Frau dachte nicht daran, sich zu entfernen. Auf den ersten Blick hatte sie, ohne sich darüber zu wundern, die Handschellen bemerkt, und sie musterte Bauche von Kopf bis Fuß, mit dem Anflug eines Lächelns um den Mund, und blies ihm den Zigarettenrauch ins Gesicht.

      Hatte der Inspektor ihn auch so aufmerksam angesehen? Es kam ihm nicht so vor. Sicher wollte er durch seine Haltung zeigen, dass er völlig abgebrüht und durch nichts mehr in Erstaunen zu versetzen war.

      Nach der Kälte draußen stieg dem Verhafteten im warmen Raum das Blut in den Kopf, und mit einem Mal hatte er das Gefühl, widerlichen Alkoholgeruch auszudünsten, die fiebrig glänzenden Augen eines Betrunkenen zu haben.

      »Kommen Sie einen Augenblick mit.«

      Nicht er war gemeint, sondern der Wachtmeister. Der Inspektor ging mit ihm ins Vorzimmer, wo kein Licht gebrannt hatte, und nach kurzem Zögern folgte der andere Gendarm den beiden. Anfangs ließen sie die Tür offen, sprachen mit gedämpfter Stimme. Einer von ihnen hielt wohl die Klinke in der Hand, denn die Tür bewegte sich, kam dem Rahmen immer näher und fiel schließlich ins Schloss.

      Die Frau saß mit übereinandergeschlagenen Beinen da, sah ihn halb belustigt, halb neugierig an und blies ihm weiterhin kräftig den Zigarettenrauch ins Gesicht.

      »Willst du auch eine?«

      Er war so verblüfft, so gerührt, dass er nicht imstande war, ›ja‹ zu sagen. Sie trug einen Mantel mit Pelzkragen, der den Blick auf ihre Seidenbluse freigab. Die saß so straff, dass man hätte meinen können, die Brustspitzen würden sie gleich durchbohren. Die Frau war mollig und vulgär und roch nach Reispuder, nach starkem Parfüm, aber gleichzeitig auch nach käuflicher Liebe, und ihre Stimme war rau.

      »Ich nehme an, das heißt ›ja‹. In solchen Momenten hat man doch immer Lust auf eine Zigarette. Ich wundere mich nur, dass sie dir keine gegeben haben. Das ist sonst üblich. Was will man machen, sie sind eben Gendarmen.«

      Sie nahm eine Zigarette aus ihrer Handtasche, zündete sie an der ihren an, erhob sich mit einem Seufzer, als würde ihr eine große Anstrengung abverlangt, und steckte sie Bauche zwischen die Lippen. Zwei purpurrote Halbkreise prangten auf dem Zigarettenpapier, das zuckrig schmeckte.

      »Was hast du ausgefressen? Ich wette, du hast einen kleinen Griff in die Kasse deiner Bank getan?«

      Er nahm es ihr nicht übel, dass sie ihn für einen Angestellten hielt. Er antwortete nur deshalb nicht sofort, weil er fürchtete, sie würde sich dann wie die anderen verhalten.

      »Oder hast du etwa ein Auto geklaut?«

      Sie stand jetzt an den Schreibtisch gelehnt und sah ihn mit herablassender Freundlichkeit an.

      Er folgte ihrem Blick, der auf seiner verschlammten Hose und den lehmigen Schuhen verweilte.

      »Vom Wald«, sagte er, als ob er auf eine Frage antwortete.

      »Du hast wohl versucht abzuhauen?«

      »Nein.«

      Er wurde sich bewusst, dass er andauernd auf ihren Busen starrte. Er konnte einfach nicht davon ablassen und errötete. Ihre Brüste waren schwer wie die von Anaïs und mochten sich ganz ähnlich anfühlen. Die Frau hatte sicher auch ebenso dicke, fleischige Schenkel, kannte dieselben obszönen Gebärden.

      Um diese Bilder zu vertreiben, sagte er:

      »Ich habe einen Mann getötet.«

      Die Frau rührte sich nicht von der Stelle, gab nur ein kurzes »Ah!« von sich.

      Dann wandte sie die Augen von ihm ab. Erst nach einer Weile veränderte sie ihre Haltung, drehte sich um, drückte ihre Zigarette im Aschenbecher aus, der auf dem Schreibtisch stand, begann dann auf und ab zu gehen, vermied es, sich ihm zuzuwenden. Zwei- oder dreimal kam sie an der Tür vorbei und war drauf und dran zu rufen, und vielleicht hätte sie irgendwann die Geduld verloren, wenn nicht jemand den Knauf gedreht hätte. Die Tür ging einen Spaltbreit auf, und man vernahm die Stimmen von Männern, die sich voneinander verabschiedeten, dann die Schritte der Gendarmen, die sich zur Treppe wandten.

      »Du bist ja noch da«, sagte der Inspektor, der eine besorgte Miene machte. »Ich gebe dir gleich deine Bescheinigung. Aber lass dich nicht noch mal erwischen, sonst weißt du, was dir blüht.«

      »Keine Angst!«

      Er setzte sich an seinen Schreibtisch, schrieb ein paar Zeilen auf ein Blatt Papier mit Briefkopf, suchte nach dem richtigen Gummistempel, den er neben seiner Unterschrift aufdrückte. Wahrscheinlich hatten die beiden etwas miteinander. Man sah ihm an, dass er sie gern wieder mit ins Nebenzimmer genommen hätte, und man merkte ebenfalls, dass sie damit rechnete, denn sie verfolgte alle seine Bewegungen mit anzüglichem Lächeln.

      Er reichte ihr das Blatt, dann einen Ausweis, der auf dem Schreibtisch gelegen hatte.

      »Und jetzt?«

      »Du kannst gehen.«

      »Ist das alles?«

      »Das ist alles.«

      Auch für die beiden hatten die Wörter eine Nebenbedeutung, die nur sie verstanden.

      Sobald die Frau fort war, begann der Inspektor einen Bleistift zu spitzen, dann wandte er sich Bauche zu und blickte ihn lange an. In seinen Augen glühte etwas wie kalte Wut.

      Er war höchstens fünfzig, sah jedoch so verwahrlost und kränklich aus, dass er deutlich älter wirkte.

      »Du hast dich also zu guter Letzt dazu entschlossen, dich der Polizei zu stellen?«

      »Ich hatte nie die Absicht zu fliehen.«

      »Du hattest nicht die Absicht zu fliehen und bist auch nur zufällig


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