Die Zeit mit Anaïs. Georges Simenon

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Die Zeit mit Anaïs - Georges  Simenon


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als geisteskrank durchzugehen?«

      »Ich bin nicht geisteskrank.«

      »Als du den Schuss abgegeben hast, warst du also vollkommen zurechnungsfähig?«

      »Ja.«

      »Du warst dir darüber im Klaren, dass du einen Menschen töten und damit ein Verbrechen begehen würdest?«

      »Ja.«

      »Da komme ich nicht mit. Hast du mir sonst nichts zu sagen?«

      »Ich tue ja mein Bestes, um auf Ihre Fragen zu antworten. Machen Sie ruhig weiter.«

      »Aber du antwortest nicht auf die entscheidende Frage.«

      Mit dem Gesichtsausdruck eines wohlerzogenen Jungen sagte er noch einmal:

      »Ich bitte Sie um Verzeihung.«

      Mit leiser Stimme fügte er hinzu, wandte dabei aber den Blick ab:

      »Ich habe großen Hunger.«

      Er hatte die Reaktion darauf richtig eingeschätzt, denn der Polizist, der doch einiges gewohnt sein musste, starrte ihn stirnrunzelnd an, verblüfft, ja, empört darüber, dass ein Unmensch wie er ein natürliches Bedürfnis verspürte.

      »Soso, Hunger hast du!«

      »Ja.«

      Der Inspektor erhob sich, ging nervös im Büro auf und ab, sein Blick fiel auf die angebrochene Tafel Schokolade, und er warf sie ihm quer durch den Raum auf den Schoß. Dann setzte er sich wieder an die Schreibmaschine, las gut zehn Minuten in den eben getippten Seiten, strich hier und da eine Zeile mit dem Bleistift an und verglich manche Stellen mit seinen Notizen, die er sich vermutlich während seiner Telefongespräche mit Paris gemacht hatte.

      »Könnte ich einen Schluck Wasser haben?«, fragte Bauche, als der Inspektor zu Ende gelesen hatte.

      Der Inspektor holte welches im Flur, wo sich ein Waschbecken befand. Wegen der Handschellen, an die Bauche sich noch nicht gewöhnt hatte, verschüttete er die Hälfte des Wassers auf seine Hose.

      »Danke. Es tut mir leid, Ihnen solche Umstände zu machen.«

      Der Inspektor wandte ihm achselzuckend den Rücken zu und setzte sich wieder an die Maschine. Er schien aufgegeben zu haben. Die weiteren Fragen, die er Bauche mit ausdrucksloser Stimme stellte, waren reine Formsache.

      »Dein Name ist Albert Bauche, und wenn meine Informationen stimmen, bist du siebenundzwanzig Jahre alt.«

      »Ja, Monsieur.«

      Die Pariser Polizei hatte bereits mit den Ermittlungen begonnen, und zum ersten Mal kam Bauche in den Sinn, dass man wohl auch Fernande schon vernommen hatte.

      »Wo bist du geboren?«

      »In Montpellier.«

      »Was war dein Vater von Beruf?«

      »Er war Lagerverwalter bei einem Großhandel für Drogeriewaren. Dann wurde er im Krieg verwundet und hat dabei einen Arm verloren …«

      Das interessierte den Inspektor nicht.

      »Lebt er noch?«

      »Er ist vor sieben Jahren gestorben.«

      »Und deine Mutter?«

      »Lebt noch.«

      »In Paris?«

      »Nein, in Le Grau-du-Roi, Département Gard. Dort haben wir die meiste Zeit gewohnt.«

      »Hast du Geschwister?«

      »Eine verheiratete Schwester, sie lebt in Marseille.«

      »Bist du auch verheiratet?«

      »Seit vier Jahren.«

      »Hast du in Paris geheiratet?«

      »Ja. Ich bin kurz nach dem Tod meines Vaters dorthin gezogen.«

      »Wovon hast du gelebt, bevor du bei Serge Nicolas gearbeitet hast?«

      »Ich habe Zeitungsartikel geschrieben, mich irgendwie durchgeschlagen.«

      Sie wurden durch das Klingeln des Telefons unterbrochen. Der Inspektor stand auf und ging zu seinem Schreibtisch hinüber.

      »Hallo! Ja … Ich bin selbst am Apparat … Er ist hier, ja … Nein, ich weiß nicht recht, wie ich das beantworten soll … Ich habe getan, worum Sie mich gebeten haben. Nein … Ich bin fast fertig … Ich war gerade dabei, seine Personalien aufzunehmen … Wenn Sie einen Augenblick Zeit haben, lese ich Ihnen am besten das Vernehmungsprotokoll vor …«

      Er holte die Blätter zu sich herüber.

      »Können Sie mich hören? … Also … Ich habe alles direkt in die Maschine getippt, es muss noch ins Reine geschrieben werden …

      Frage: Bist du betrunken?

      Antwort: Nein.

      Frage: Verstehst du, was ich sage?

      Antwort: Ja. Ich glaube schon.«

      Im weiteren Verlauf des Gesprächs ging der Inspektor dazu über, nur noch die Anfangsbuchstaben von ›Frage‹ und ›Antwort‹ auszusprechen.

      Das Ganze wurde in monotonem Singsang, wie ein unendlich langer Rosenkranz abgespult, und es erinnerte ihn an das Gerede der beiden Polizisten während der Fahrt nach Orléans. Zwar vermochte er die Worte zu unterscheiden, doch ihre Bedeutung begriff er kaum.

      Er fühlte sich ganz stumpf, so niedergeschlagen war er, und er hätte sie am liebsten nach ihrem Gutdünken schalten und walten lassen und ihnen weder antworten noch zuhören mögen.

      »Mehr war bisher nicht aus ihm herauszubringen. Er verhält sich ruhig. Im Wirtshaus von Ingrannes soll er vier Gläser Schnaps getrunken haben, aber er kommt mir nicht betrunken vor. Als der Wachtmeister im Wald sein Auto untersucht hat, hat er um die Erlaubnis gebeten auszutreten. Erst eben hat er mir gesagt, dass er hungrig sei, und hat Schokolade gegessen. Das ist alles. Wie, bitte? Oh, ich wusste nicht, dass sie in Ihrem Büro ist. Darüber haben wir nicht gesprochen. Ich kann ihn ja mal fragen. Bleiben Sie am Apparat.«

      Er wandte sich an Bauche.

      »Seit wann ist deine Frau die Geliebte von Serge Nicolas?«

      »Ich weiß es nicht.«

      »Du weißt nicht, dass sie seine Geliebte war?«

      »Das habe ich nicht gesagt. Ich weiß nur nicht, seit wann.«

      Der Inspektor sprach wieder in den Apparat:

      »Hallo, Chef … Ja, er wusste davon … Wie, bitte? … Eine Sekunde …«

      Wieder an Bauche gewandt:

      »Wann hast du es erfahren?«

      »Das ist schon lange her.«

      »Mehrere Monate?«

      »Ja.«

      »Über ein Jahr?«

      »Ich glaube schon. Ja, bestimmt.«

      »Er wusste es seit über einem Jahr, Chef. Die Frage scheint ihn nicht sonderlich zu interessieren … Schon möglich … Ja, die Zeit sollte reichen … Ich muss nur zusehen, dass jemand im Büro bleibt … Augenblick, bitte.«

      Er verließ den Raum im Eilschritt, und verblüfft hörte ihn Bauche die Treppe hinunterrennen. Man ließ ihn ohne jede Überwachung mutterseelenallein neben einem abgenommenen Telefonhörer sitzen, als bestünde keine Gefahr, dass er einen Fluchtversuch unternehmen könnte. Er hatte im Übrigen nicht die geringste Lust, sich von seinem Stuhl zu erheben. Unverwandt starrte er auf den Hörer, aus dem fernes Stimmengemurmel drang.

      Der Inspektor kam schon wieder zurück.

      »Hallo! Unten ist nur Mazerel, gerade eben eingetroffen. Vielleicht sollte am besten er ihn begleiten, denn er weiß hier oben noch nicht so gut Bescheid,


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