David Copperfield. Charles Dickens
Читать онлайн книгу.am allerwenigsten zu einer solchen Zeit. Er trat durch die halbgeöffnete Tür ins Zimmer, sobald er nur abkommen konnte, und sagte in seiner sanftesten Weise zu meiner Tante:
»Madame, es freut mich, Sie beglückwünschen zu können.«
»Wozu?« sagte meine Tante scharf.
Mr. Chillip wurde wieder verlegen bei der außerordentlichen Schroffheit meiner Tante; er machte daher eine zierliche Verbeugung und verzog sein Gesicht zu einem sanften Lächeln, um sie zu besänftigen.
»O über diesen Mann, was er nur macht!« rief meine Tante ungeduldig. »Kann er nicht sprechen?« »Seien Sie ruhig, meine liebe Madame«, flötete er mit seiner sanftesten Stimme. »Es ist durchaus keine Ursache mehr zur Besorgnis vorhanden, Madame, beruhigen Sie sich bitte.«
Man hat es damals fast als ein Wunder betrachtet, daß ihn meine Tante nicht umschüttelte, um das, was sie hören wollte, aus ihm herauszuschütteln. Sie schüttelte nur das eigene Haupt, aber auf eine Art, die ihn zittern machte.
»Nun, Madame«, begann Mr. Chillip von neuem, sobald er wieder etwas Mut gefaßt hatte. »Es freut mich, Sie beglückwünschen zu können, alles ist nun vorbei, Madame, und glücklich vorbei.«
Während der fünf Minuten, die Mr. Chillip zu dieser Rede brauchte, sah ihn meine Tante scharf an.
»Wie befindet sie sich?« fragte sie und kreuzte ihre Arme, an deren einem immer noch der Hut hing, vor der Brust übereinander.
»Nun, Madame, sie wird sich bald ganz Wohl befinden, hoffe ich,« erwiderte Mr. Chillip, »so wohl, als wir von einer jungen Mutter und unter so betrübten häuslichen Umständen erwarten können. Es steht gar nichts im Wege, wenn Sie sie jetzt besuchen wollen, Madame. Es dürfte ihr gut tun.«
»Und sie? Wie geht es ihr?« sagte meine Tante kurz.
Mr. Chillip legte den Kopf noch ein wenig mehr auf die eine Seite und sah meine Tante an wie ein gezähmtes Vögelchen.
»Das Kind, das Mädchen«, sagte meine Tante. »Was macht es?«
»Madame,« erwiderte Mr. Chillip, »ich glaubte, Sie wüßten es schon. Es ist ein Junge.«
Meine Tante sagte kein Wort, sondern packte ihren Hut wie eine Schleuder beim Bande, führte damit einen Streich gegen Mr. Chillips Kopf, stülpte den Hut auf und verschwand und kam nicht wieder. Sie verschwand wie eine beleidigte Fee oder wie eines jener übernatürlichen Wesen, die ich dem Volksglauben nach zu schauen die Gabe hatte, und kehrte nie wieder zurück.
Nein. Ich lag in meinem Korbe, und meine Mutter lag in ihrem Bette. Aber Betsey Trotwood Copperfield war für immer hinüber geschwunden in das Land der Träume und Schatten, in jene geheimnisvolle Region, aus der ich vor so kurzer Zeit gekommen war; und das Licht, das durch das Fenster unseres Zimmers hinausschien, erleuchtete den irdischen Bezirk unserer Mitpilger aus diesen Gefilden und schien auf den Hügel über dem Staube und der Asche dessen, ohne den ich nie gewesen wäre.
Zweites Kapitel. Ich beobachte.
Die ersten Gegenstände, die deutlich vor meinem Geiste erscheinen, wenn ich weit zurück in das Dunkel meiner ersten Kinderjahre blicke, sind meine Mutter mit ihrem schönen Haar und der jugendschlanken Gestalt, und Peggotty ohne alle Figur und mit so dunkeln Augen, daß sie alles in ihrer Nähe zu verdunkeln schienen, und mit so roten und drallen Backen und Armen, daß es mich wunderte, warum die Vögel nicht lieber daran als an den Äpfeln pickten.
Ich glaube die beiden noch heute in nächster Nähe von mir zu sehen, wie sie sich klein machten oder auf den Boden hinkauerten, wählend ich mit taumelnden Schütten von der einen zur andern trippelte. ^
Ich habe auch noch einen dunkeln Eindruck behalten, den ich von wirklicher Erinnerung nicht unterscheiden kann, eine Vorstellung von Peggottys Zeigefinger, den ich anfaßte und der von der Nadel so rauh war wie ein kleines Muskat-Reibeisen.
Das beruht vielleicht auf Einbildung, obgleich ich meine, daß das Gedächtnis der meisten Menschen in eine viel fernere Kinderzeit zurückreicht, als man gewöhnlich annimmt, ebenso wie ich glaube, daß die Beobachtungsgabe bei vielen kleinen Kindern an Schärfe und Genauigkeit ganz wunderbar ist. In der Tat bin ich der Ansicht, daß die meisten Erwachsenen, die sich in dieser Beziehung auszeichnen, richtiger gesagt, jene Gabe nur nicht verloren, aber sich diese später nicht angeeignet haben, um so mehr, als man an jenen Leuten eine gewisse Frische, Liebenswürdigkeit und Genußfähigkeit bemerkt die auch ein aus ihrer Kindheit herübergerettetes Erbteil find.
Vielleicht gerate ich mit dieser Bemerkung in den Verdacht des Abschweifens, aber sie läßt mich doch sagen, daß ich diese Schlüsse zum gewissen Teil auf meine eigene Erfahrung aufbaue, und, wenn aus irgend etwas in dieser Erzählung hervorgeht, daß ich ein scharf beobachtendes Kind war und als Mann ein lebhaftes Gedächtnis an meine Kindheit bewahrt habe, daß ich fraglos Anspruch auf diese beiden Eigenschaften erhebe.
Wenn ich also in das früheste Kindheitsdunkel zurückblicke, so sondern sich aus dem Wirrwarr von allerlei Dingen zunächst die beiden Gestalten meiner Mutter und Peggottys ab. Was weiß ich sonst noch? Wir wollen einmal sehen. –
Da taucht aus dem Nebel der Erinnerung unser Haus in seiner, mir von frühester Erinnerung her vertrauten Gestalt hervor. Im Erdgeschoß ist Peggottys Küche, die auf den Hinterhof hinausgeht, wo in der Mitte ein Taubenhaus auf einer Stange steht, aber ohne Tauben, eine große Hundehütte in einer Ecke, aber kein Hund darin, und eine, Anzahl Hühner, die mir schrecklich groß vorkamen, stolzierten drohenden und wilden Wesens darin herum. Ein Hahn fliegt auf einen Pfosten, um zu krähen, und scheint sein Auge ganz besonders auf mich zu werfen, wie ich ihn durch das Küchenfenster ansehe, und darüber zittere ich vor Furcht, weil er so kampflustig aussieht. Von den Gänsen draußen am Seitentürchen, die mir mit lang ausgestreckten Hälsen nachwatscheln, wenn ich vorbeigehe, träume ich nachts, wie ein Mann, der in der Nähe von wilden Tieren lebt, von Löwen träumen mag. Dann ist da ein langer Gang – in meiner Erinnerung eine endlose Perspektive – der von Peggottys Küche nach der vorderen Haustür führt. Eine dunkle Vorratskammer mündet auf diesen Gang – wo ich nachts stets nur vorbeihusche, denn wer weiß was hinter diesen Krügen, Tonnen und alten Teekisten stecken mochte, wenn niemand mit einer matt leuchtenden Kerze darin ist – und eine dumpfige Luft strömt heraus, in der sich der Geruch von Seife, Pickles, Pfeffer, Lichtem und Kaffee vermischt. Dann sind unten die beiden Wohnzimmer: das eine, in dem wir, meine Mutter, ich und Peggotty, abends sitzen – denn Peggotty leistet uns Gesellschaft, wenn sie ihre Arbeit gemacht hat und wir allein sind – und das gute Zimmer, wo wir Sonntags sitzen – feierlich, aber nicht so traulich. Für mich hat dies Zimmer etwas Wehmütiges, denn Peggotty hat mir erzählt – ich weiß nicht mehr wann, aber es muß lange, lange her sein – wie mein Vater begraben wurde und hier die Leichenträger ihre schwarzen Mäntel umhingen. Und eines Sonntags abends liest meine Mutter Peggotty und mir vor, wie Lazarus auferstand von den Toten. Und ich ängstige mich so sehr darüber, daß sie mich aus dem Bette herausnehmen und mir aus dem Schlafzimmerfenster den stillen Kirchhof zeigen müssen, wo die Toten alle in feierlichem Mondlicht friedlich im Grabe ruhen.
Kein Grün dünkte mir jemals so grün wie das Gras auf diesem Kirchhofe, keine andern Bäume auch nur halb so schattig, und nichts so lautlos still wie die Grabsteine dort. Wenn, ich frühmorgens in meinem Bettchen knie, das in einer Wandnische in der Schlafstube meiner Mutter steht, so sehe ich die Schafe dort grasen, und die Morgenröte die Sonnenuhr bestrahlen, und ich denke im geheimen: Ob sie sich wohl freut, wieder einen Tag verkünden zu können?
Da ist unser Kirchenstuhl. Was er für eine hohe Lehne hat! Und ein Fenster ist in seiner Nähe, durch das man unser Haus sehen kann; und wie oft während des Frühgottesdienstes sieht Peggotty hinüber, ob sich keine Diebe einschleichen oder kein Feuer ausbricht. Aber obschon sie ihre Augen fleißig herumschweifen läßt,