David Copperfield. Charles Dickens

Читать онлайн книгу.

David Copperfield - Charles Dickens


Скачать книгу
Murdstone! Sir!« rief ich. »Bitte, schlagen Sie mich nicht! Ich habe mir alle Mühe gegeben, zu lernen, Sir, aber ich kann nicht lernen, wenn Sie und Miß Murdstone da sind! Ich kann es wirklich nicht!«

      »Kannst du es wirklich nicht, David?« sagte er. »Wirklich nicht? Nun, wir wollen das einmal versuchen.«

      Er hielt meinen Kopf fest wie in einem Schraubstock, aber es gelang mir doch noch einmal, mich umzudrehen und ihn einen Augenblick hinzuhalten, um ihn nochmals zu bitten, mich nicht zu schlagen. Doch das war nur ein augenblicklicher Aufschub, denn gleich darauf versetzte er mir einen derben Schlag, und in demselben Augenblick haschte ich seine Hand, mit der er mir den Mund zuhielt, faßte sie zwischen die Zähne und biß sie durch und durch. Es knirscht mir jetzt noch in den Zähnen, wenn ich daran denke.

      Nun hieb er auf mich los, als ob er mich zu Tode prügeln wollte. Über all den Lärm, den wir machten, hörte ich die andern die Treppe hinaufgestürzt kommen und schreien. Ich hörte meine Mutter schreien und Peggotty. Dann war er fort, und die Tür wurde von draußen verschlossen, und ich lag fieberheiß und zerbläut und wund und bebend auf den Dielen und raste in ohnmächtiger Wut.

      Wie gut ich mich noch erinnere, als ich wieder ruhig wurde, welche unnatürliche Stille im ganzen Hause zu herrschen schien! Wie gut ich mich erinnere, als sich Schmerz und Leidenschaft in mir legten, wie schlecht ich mir vorkam.

      Ich saß lange Zeit still da, aber es war kein Laut zu vernehmen. Ich krabbelte mich mühsam vom Erdboden auf und sah im Spiegel mein Gesicht so geschwollen und rot und häßlich, daß ich mich davor förmlich entsetzte. Die Striemen waren wund und geschwollen und ich mußte aufschreien, wenn ich mich rührte; aber dieser Schmerz war nichts gegen mein Schuldgefühl. Es lag schwerer auf meiner Brust, als wenn ich der abscheulichste Verbrecher gewesen wäre.

      Es fing an dunkel zu werden, und ich hatte das Fenster zugemacht (ich hatte die meiste Zeit mit dem Kopf auf dem Fensterbrett gelegen und abwechselnd geweint, abwechselnd halb geschlafen oder gedankenlos hinausgesehen), als sich der Schlüssel im Schlosse drehte und Miß Murdstone mit Brot, Fleisch und Mich hereintrat. Das setzte sie ohne ein Wort zu sprechen auf den Tisch, starrte mich während der ganzen Zeit mit unnachahmlicher Festigkeit an, entfernte sich wieder und schloß die Tür hinter sich zu.

      So saß ich noch lange nach dem Dunkelwerden da und grübelte, ob noch sonst jemand kommen werde. Als dies für diesen Abend unwahrscheinlich wurde, zog ich mich aus und ging zu Bette; und hier fing ich an mich zu ängstigen über das, was mit mir geschehen werde und zu überlegen, ob ich ein Verbrechen begangen hatte? Ob man mich verhaften und ins Gefängnis stecken werde? Ob man mich am Ende gar hängen könnte?

      Ich werde niemals das Erwachen am nächsten Morgen vergessen, wo ich mich für den ersten Augenblick froh und erleichtert fühlte, und wie mich dann plötzlich wieder die aufwachende Erinnerung niederdrückte. Miß Murdstone erschien wieder, ehe ich aufstand, sagte mir mit kurzen Worten, daß ich eine halbe Stunde aber nicht länger, im Garten spazieren gehen dürfe, und ging wieder. Sie ließ diesmal die Tür offen, damit ich von der Erlaubnis Gebrauch mache.

      Ich benutzte diese Erlaubnis wie an jedem Morgen meiner Gefangenschaft, die fünf Tage dauerte. Wenn ich meine Mutter allein hätte sehen und sprechen dürfen, so wäre ich vor ihr auf die Knie niedergefallen und hätte sie um Verzeihung gebeten; aber ich sah während der ganzen Zeit niemand außer Miß Murdstone. Eine Ausnahme bildete die Stunde des Abendgebetes in der Wohnstube; dorthin spedierte mich Miß Murdstone, nachdem alle ihre Plätze eingenommen hatten, und ich mußte als junger Sträfling ganz allein an der Tür stehen bleiben, und ehe sich die andern wieder erhoben hatten, transportierte mich meine Kerkermeisterin mit pompöser Feierlichkeit ins Gefängnis zurück. Ich bemerkte nur, daß meine Mütter am allerweitesten von mir postiert war und ihr Gesicht von mir abgewendet hatte, so daß sie mich nicht sehen konnte, und daß Mr. Murdstones Hand mit einem Leinwandstreifen verbunden war.

      Die entsetzliche Länge dieser fünf Tage kann ich niemand begreiflich machen. Sie nehmen in meiner Erinnerung den Raum von Jahren ein. Die Spannung, mit der ich allen Vorgängen im Hause, die sich hörbar machten, lauschte, dem Schellen der Klingeln, dem Öffnen und Zumachen der Türen, dem Stimmengemurmel, dem Tritt auf der Treppe, dem Lachen, Pfeifen oder Singen draußen, was mir in meiner Einsamkeit und Verbannung trübseliger klang als alles andere – die völlige Unwissenheit über das Vorrücken der Zeit, die mit ihren Stunden, vorzüglich des Nachts, zu schleichen schien und wo ich oft im Glauben aufwachte, es sei Morgen, während die Familie noch gar nicht zu Bette gegangen war und ich also noch die ganze lange Nacht vor mir hatte – die bösen Träume, die mich quälten – die Wiederkehr von Tag, Mittag, Nachmittag und Abend, wo die Knaben draußen auf dem Friedhof spielten und ich sie vom Hintergrunde des Zimmers aus beobachtete, weil ich mich schämte, mich am Fenster zu zeigen, damit sie nicht merkten, ich sei ein Gefangener – das seltsame Gefühl, mich niemals sprechen zu hören – die schnell entschwindenden Augenblicke erleichterter Stimmung, die mit dem Essen und Trinken kamen und wieder mit ihm gingen – der Regen eines Abends mit seinem frischen Geruch, wie er immer dichter und dichter niederging zwischen mir und der Kirche, bis er und das wachsende Dunkel mich wie in Nacht und Angst und Reue zu hüllen schienen – alles das scheint Jahre – anstatt Tage gedauert zu haben, so lebendig und tief ist es meiner Erinnerung eingeprägt.

      In der letzten Nacht meiner Haft erweckte mich das Rufen meines Namens im Flüsterton. Ich richtete mich im Bette auf, breitete meine Arme im Dunkeln aus und sagte:

      »Bist du's, Peggotty?«

      Es kam nicht sogleich eine Antwort, aber nicht lange darauf hörte ich wieder meinen Namen in einem so geheimnisvollen und schauerlichen Tone, daß ich vor Schrecken Krämpfe bekommen hätte, wenn es mir nicht eingefallen wäre, daß es durch das Schlüsselloch kommen müßte.

      Ich tappte bis an die Tür, legte den Mund an das Schlüsselloch und flüsterte:

      »Bist du's, liebe Peggotty?«

      »Ja, mein lieber, guter Herzens-Davy«, erwiderte sie. »Sei stille wie ein Mäuschen, sonst hört uns die Katze.«

      Ich verstand sogleich, daß sie Miß Murdstone meinte, und fühlte die Notwendigkeit größter Vorsicht, denn ihr Zimmer war dicht nebenan.

      »Was macht Mama, liebe Peggotty? Ist sie recht böse auf mich?«

      Ich hörte Peggotty auf ihrer Seite des Schlüssellochs leise weinen, gleich mir, ehe sie antwortete: »Nein, nicht sehr.«

      »Was wird denn mit mir geschehen, liebe Peggotty? Weißt du's?« »Schule. Nicht weit von London«, war Peggottys Antwort. Sie mußte es noch einmal wiederholen, denn sie hatte es zuerst in meine Kehle hineingesprochen, weil ich vergessen hatte, den Mund vom Schlüsselloche zu nehmen und das Ohr daran zu legen, und obgleich mich ihre Worte sehr im Halse kitzelten, konnte ich doch nichts davon verstehen.

      »Wann, Peggotty?«

      »Morgen.«

      »Hat deswegen Miß Murdstone meine Kleider aus der Kommode genommen?« Sie hatte das nämlich getan, obgleich ich vergessen hatte, es zu erwähnen.

      »Ja,« sagte Peggotty, »Koffer.«

      »Werde ich Mama nicht wiedersehen?«

      »Ja«, sagte Peggotty. »Morgen früh.«

      Dann legte Peggotty die Lippen so dicht an das Schlüsselloch und sprach die folgenden Worte mit solchem Gefühl und solcher Innigkeit, wie kaum jemals Worte durch ein Schlüsselloch befördert worden sind, indem sie jeden abgebrochenen kleinen Satz nach einer kurzen Pause ohne Rücksicht auf den Sinn hindurchpustete.

      »Guter Davy! Wenn ich letzthin nicht mehr ganz so zutunlich – mit dir bin wie früher – so geschah das nicht, weil ich dich nicht – so sehr und noch mehr liebe, als früher mein Herzenspüppchen – sondern nur weil ich


Скачать книгу