David Copperfield. Charles Dickens
Читать онлайн книгу.haben, Peggotty gute Nacht zu sagen oder mir ein Licht geben zu lassen. Als sie vielleicht eine Stunde später hereintrat, um nach mir zu sehen, wachte ich darüber auf. Sie sagte, meine Mutter sei sehr betrübt zu Bett gegangen und Mr. und Miß Murdstone saßen unten noch allein.
Am nächsten Morgen ging ich etwas zeitiger hinunter als gewöhnlich und blieb draußen vor der Stubentür stehen, als ich drinnen meiner Mutter Stimme hörte. Sie bat Miß Murdstone dringend und sehr zerknirscht um Verzeihung, wozu sich diese Name großherzig verstand, und dann fand eine vollständige Aussöhnung statt. Seitdem habe ich meine Mutter nie wieder über irgend etwas eine Meinung aussprechen hören, ohne daß sie sich erst an Miß Murdstone gewendet oder durch ein sicheres Mittel in Erfahrung gebracht hatte, was Miß Mudstones Meinung über die Sache war; und nie wieder sah ich Miß Murdstone, wenn sie übler Laune war (und das passierte ihr zuweilen), nach dem harten Beutel greifen, als ob sie die Schlüssel herausnehmen und sie meiner Mutter übergeben wollte, ohne daß diese in große Angst geraten wäre.
Das schwarze Etwas, das in den Adern der Murdstones floß, gab auch der Religion der Murdstones eine düstere Färbung von Strenge und Zorn. Ich habe später einsehen gelernt, daß sie diesen Charakter annehmen mußten infolge der Festigkeit von Mr. Murdstone, die es nicht erlaubte, daß er irgend jemand die härtesten Strafen erlassen konnte, wenn er einen Vorwand dafür gefunden hatte. Sei dem wie ihm wolle, so kann ich mich noch recht gut der entsetzlich feierlichen Gesichter erinnern, mit denen wir in die Kirche gingen, und des veränderten Eindrucks, den die Kirche jetzt auf mich machte. Wieder kommt der gefürchtete Sonntag, und ich marschiere zuerst in den alten Kirchenstuhl wie ein bewachter Gefangener, der zu einem Sträflings-Gottesdienst geführt wird. Dicht hinter mir folgt Miß Murdstone in einem schwarzen Samtkleide, das aussieht, als ob es aus einem Bahrtuche gemacht wäre; dann kommt meine Mutter, dann ihr Gatte. Peggotty geht jetzt nicht mehr mit wie früher. Wieder höre ich, wie Miß Murdstone die Responsen der Liturgie brummelt und auf alle strafenden Worte mit grausamem Behagen besonderen Nachdruck legt. Wieder sehe ich, wie ihre dunklen Augen in der Kirche umherschweifen, wenn sie sagt: »Elende Sünder«, als wenn sie die ganze Gemeinde unter diesem Namen begreifen wollte. Deutlich sehe ich ab und zu meine Mutter, die, zwischen beide eingeklemmt, schüchtern ihre Lippen bewegt, während ihr von rechts und links das Gemurmel wie ferner Donner in die Ohren schallt. Wieder überkommt mich eine plötzliche Angst, ob vielleicht doch unser guter Pfarrer unrecht und Mr. und Miß Murdstone recht haben und alle Engel im Himmel rächende Vernichtungsengel sein könnten? Und wieder, wenn ich einen Finger bewege oder mit einem einzigen Muskel meines Gesichts zucke, stößt mich Miß Murdstone mit ihrem Gebetbuch in die Seite, daß es mich schmerzt.
Ja, und wieder bemerke ich auf dem Nachhauseweg, wie einige Nachbarn mich und meine Mutter ansehen und untereinander tuscheln. Und wieder, wie die drei Arm in Arm vor mir gehen und ich allein hinterher komme, folge ich der Richtung dieser Blicke und frage mich, ob meiner Mutter Gang wirklich nicht mehr so leicht ist und heiter wie früher, und ob das lächelnde Glück ihres hübschen Gesichts wirklich fast ganz verschwunden ist? Dann frage ich mich, ob sich wohl einer der Nachbarn noch daran erinnert, wie vergnügt sie, ehedem mit mir nach Hause ging? Und ich grüble darüber mit dumpfen Sinnen den ganzen freudlosen, langweiligen Tag hindurch.
Von Zeit zu Zeit war davon die Rede gewesen, mich in eine Erziehungsanstalt zu schicken. Mr. und Miß Murdstone hatten den Gedanken angeregt, und meine Mutter hatte natürlich beigestimmt. Die Sache gedieh jedoch für jetzt noch nicht zum Abschluß. Mittlerweile hatte ich Lehrstunden zu Hause.
Werde ich jemals diese Lehrstunden vergessen? Angeblich führte meine Mutter die Aufsicht, aber tatsächlich Mr. Murdstone und seine Schwester, die immer anwesend waren und dabei eine günstige Gelegenheit fanden, meiner Mutter Unterricht in der von ihnen so sehr mißverstandenen Festigkeit zu geben, die uns das Leben vergiftete. Ich glaube, man behielt mich nur deshalb zu Hause! Ich hatte gut und willig gelernt, als meine Mutter und ich noch allein miteinander lebten. Ich kann mich noch schwach erinnern, wie ich auf ihrem Schoß das Alphabet lernte. Wenn ich noch heutigestags auf die großen schwarzen Buchstaben einer Fibel sehe, so steht mir die verwirrende Neuheit ihrer Gestalten wieder vor Augen, und ich sehe die leicht zu unterscheidenden O's und Q's so deutlich, wie ich sie zuerst kennen lernte. Aber sie rufen mir keine Empfindung des Abscheus oder Widerwillens wach. Im Gegenteil scheint es mir, als sei ich einen Blumenpfad gewandelt bis zu dem Krokodilbuch, und wäre dabei durch die sanfte Stimme und Art meiner Mutter zum Vorwärtsschreiten ermuntert worden. Aber die feierlichen Lektionen, die nach diesen kamen, treten vor mich hin als der Tod meines Seelenfriedens und als eine tägliche, jämmerliche Plage und als ein tägliches Elend. Sie waren sehr lang, sehr zahlreich, sehr schwer – einige vollkommen unverständlich für mich – und sie verblüfften mich meistens ebensosehr wie wahrscheinlich meine arme Mutter selber. Ich will mir einmal ein Beispiel, wie es dabei an einem solchen Morgen zuzugehen pflegte, in meine Erinnerung zurückrufen.
Nach dem Frühstück trete ich in unser zweitbestes Wohnzimmer mit meinen Büchern, einem Übungsheft und einer Schiefertafel. Meine Mutter erwartet mich bereits an ihrem Schreibtische, aber viel mehr noch erwarten mich Mr. Murdstone in seinem Lehnstuhl am Fenster, obwohl er anscheinend ein Buch liest und Miß Murdstone, die in der Nähe meiner Mutter sitzt und Stahlperlen auf einen Faden reiht. Der bloße Anblick der beiden Geschwister übt einen so verwirrenden Einfluß auf mich, daß ich fühle, wie die von mir mit unsäglicher Qual eingebüffelten Worte unwiederbringlich entschwinden. Nebenbei gesagt: ich möchte wirklich wissen, wohin sie eigentlich immer verschwinden?
Ich überreiche das erste Buch der Mutter, vielleicht ist es Geographie, Grammatik oder Geschichte, und werfe schnell noch einen verschwimmenden letzten Blick auf die aufgeschlagene Seite, dann leiere ich im raschesten Tempo her, was mir noch frisch im Gedächtnisse haftet. Da stolpere ich über ein Wort. Mr. Murdstone blickt auf. Ich stolpere über ein zweites. Miß Murdstone blickt auf. Ich werde rot, mache noch ein halb Dutzend Schnitzer und bleibe stecken. Ich glaube, meine Mutter möchte mich ins Buch sehen lassen, wenn sie sich nur getraute, aber sie getraut es sich nicht und sagt nur sanft:
»O Davy, Davy!«
»Jetzt, Klara, sei fest mit dem Jungen. Sage nicht: o Davy, Davy! Das ist kindisch. Entweder kann er seine Lektion oder er kann sie nicht!«
»Er kann sie nicht!« fällt Miß Murdstone in schrecklichem Tone ein.
»Ich fürchte, er kann sie nicht«, sagt Meine Mutter.
»Also, Klara, mußt du ihm das Buch zurückgeben und es ihm begreiflich machen.« »Ja, liebe Jane, das will ich. Also, Davy, versuchen wir's noch einmal, und sei recht gescheit.«
Aber ich bin nichts weniger als gescheit. Bei der Wiederholung verwickele ich mich an einer Stelle, über die ich vorhin glatt hinwegkam und noch dazu in einem Stück, das ich sonst sehr gut konnte. Aber nun halte ich an, sitze fest und habe keine Gedanken mehr für meine Lektion. Ich denke darüber nach, wieviel Ellen Spitzen wohl Miß Murdstones Haube enthält, was Mr. Murdstones Ausgehrock kosten mag, oder über etwas ähnlich Albernes, was mich gar nichts angeht und womit ich auch gar nichts zu tun haben will. Mr. Murdstone macht eine Bewegung der Ungeduld, was ich längst erwartet habe. Miß Murdstone desgleichen. Meine Mutter sieht unterwürfig zu ihnen hinüber, klappt das Buch zu und legt es einstweilen als rückständige Leistung beiseite, die abgearbeitet werden muß, bevor ich andere Aufgaben erledigt habe.
Aber der Stoß des »einstweilen beiseite Gelegten« wird immer größer und wächst an wie ein gewälzter Schneeball, und je größer er wird, desto dümmer werde ich. Der Fall ist so hoffnungslos, und ich fühle mich so tief in einem wahren Morast von Unsinn stecken, daß ich alle Gedanken auf ein Entrinnen aufgebe und mich meinem Schicksal überlasse. Es ist ein gar melancholischer Anblick, wie wir beide, ich und meine Mutter, uns mit kläglichen Blicken anschauen, während ich immer weiter holpre und stolpre. Manchmal, wenn sie sich unbeobachtet wähnt, versucht es meine Mutter, mir das, was ich nicht weiß, durch lautloses Sprechen mit der Lippenbewegung anzudeuten. Aber sofort läßt Miß Murdstone, die nur darauf gelauert hat, ihre tiefe, warnende Stimme vernehmen: »Klara!«
Meine Mutter schrickt