David Copperfield. Charles Dickens

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David Copperfield - Charles Dickens


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      Salemhaus war ein viereckiger Hauskasten aus roten Ziegeln, mit einem Flügel auf jeder Seite, und sah sehr kahl und unwohnlich aus. Überall war es so still, daß ich zu Mr. Mell sagte, die Schüler müßten wohl spazieren gegangen sein, aber er schien sich zu wundern, daß ich nicht wußte, daß Ferien waren, und die Schüler alle nach Hause gereist wären, daß sich Mr. Creakle, der Eigentümer, nebst Frau und Tochter im Seebade befand, und daß man mich zur Strafe für meine Missetat während der Ferien hierher geschickt hatte. Dies alles setzte er mir unterwegs auseinander.

      Die Schulstube erschien mir als der ungemütlichste, ödeste, traurigste Platz, den ich jemals auf, Gottes Erdboden gesehen hatte. Es war ein langes Zimmer mit drei Reihen von Pulten und sechs Reihen von Bänken, ringsum starrend von Kleiderhaken und Nägeln zum Aufhängen der Schiefertafeln. Fetzen von Schreib- und Übungsheften bedeckten den schmutzigen Fußboden. Schächtelchen aus demselben Material für Seidenwürmer lagen auf den Pulten umher. Zwei erbärmliche, kleine weiße Mäuse, die ihr Besitzer zurückgelassen hatte, rannten in einem aus Draht und Pappe gefertigten, stinkig riechenden Häuschen rastlos auf und ab und spähten mit ihren roten Augen in allen Winkeln nach Futter. Ein Vogel in einem Käfig, nur wenig größer als er selbst, macht ein trauriges Gerassel, wenn er auf sein zwei Zoll hohes Stängelchen hinauf- und von da wieder hinabhüpft, singt aber weder, noch zwitschert er. Ein eigentümlicher, ungesunder Geruch erfüllt die Stube, wie von schimmligem Juchtenleder, faulenden Äpfeln, denen die frische Luft fehlt, und nassen, stockigen Büchern. Und Tinte überall umhergespritzt in solchen Massen, daß es nicht ärger sein könnte, wenn das Zimmer von Stunde seines Baues an nie eine Decke gehabt und es Tinte zu allen Jahreszeiten hereingeregnet, -geschneit, -gehagelt hätte.

      Mr. Mell hatte mich allein gelassen, während er seine unflickbaren Stiefel hinauftrug, und ich ging unterdessen leise nach dem obern Ende des Zimmers. Als ich an den Tisch des Lehrers kam, fand ich eine Pappe mit der schön geschriebenen Inschrift: »Achtung! Er beißt.« Ich kletterte sofort auf das Pult hinauf, denn ich fürchtete, es sei unten ein großer Hund versteckt. Aber obgleich ich mich überall besorgt umsah, konnte ich doch nichts entdecken. Ich forschte immer noch, als Mr. Mell zurückkehrte und mich fragte, was ich da oben täte.

      »Ich bitte um Verzeihung, Sir,« sagte ich, »ich suche den Hund.«

      »Hund?« sagte er. »Welchen Hund?«

      »Ist's kein Hund, Sir?«

      »Was soll ein Hund sein?«

      »Vor dem man sich in acht nehmen soll, der beißt.« »Nein, Copperfield,« sagte er ernst, »das ist kein Hund, das ist ein Knabe. Ich habe Befehl, Copperfield, diesen Zettel auf deinen Rücken zu heften. Es tut mir leid, daß ich so mit dir anfangen muß, aber ich muß es tun.«

      Bei diesen Worten hob er mich vom Pulte herunter und band mir die Pappe, die zu diesem Zwecke sinnreich vorgerichtet war, wie eine Buckelmappe auf den Rücken, und von nun an hatte ich den Trost, sie überall, wo ich hinging, mitzunehmen.

      Was ich von dieser Warnungstafel zu leiden hatte, kann sich niemand vorstellen. Ob mich Leute sehen konnten oder nicht, immer bildete ich mir ein, jemand läse es. Es war für mich keine Beruhigung, wenn ich mich umdrehte und niemand erblickte; ich konnte den Gedanken nicht loswerden, daß stets jemand hinter meinem Rücken stehe. Der niederträchtige Kerl mit dem hölzernen Beine verschlimmerte noch mein Leiden. Er hatte Amtsgewalt, und wenn er sah, daß ich mich an einen Baum, an eine Wand oder an das Haus lehnte, so schrie er mir aus seinem Häuschen mit fürchterlich lauter Stimme zu: »Heda, Copperfield! verstecke die Tafel nicht, sonst zeige ich dich an!«

      Der Spielplatz war ein kahler, mit Kies bestreuter Hof, von den Fenstern der Küche und Gesindestube und der ganzen Rückseite des Hauses aus zu überblicken, und ich wußte, daß die Dienerschaft, der Fleischer und der Bäcker den Zettel lasen, mit einem Worte, daß jeder, der früh, wenn ich auf dem Spielplatz spazieren gehen mußte, im Hause ab und zu ging, las, daß man sich vor mir in acht nehmen müsse, weil ich beiße. Ich erinnere mich, daß ich mich vor mir selbst zu fürchten anfing, als vor einem jungen Menschenfresser, der beißt. An jenem Spielplatz befand sich eine alte Tür, darin die Knaben ihre Namen zu schneiden pflegten. Sie war mit solchen Inschriften über und über bedeckt. In meiner Furcht vor dem Ende der Ferien und der Rückkehr der Zöglinge konnte ich keinen dieser Namen sehen, ohne mir vorzustellen, in welchem Ton und mit welchem Ausdruck der Eigentümer laut lesen würde: »Achtung! Er beißt.« Da war ein Knabe, ein gewisser J. Steerforth, der seinen Namen sehr häufig und sehr tief eingeschnitten hatte, und von dem ich mir dachte, er würde es mit recht kräftiger Stimme lesen und mir dann das Haar zerzausen. Ferner gab es einen andern, einen Tommy Traddles, von dem ich besorgte, er würde sich lustig darüber machen, und so tun, als fürchte er sich entsetzlich vor mir. Bei einem dritten, George Demple, ängstigte ich mich, daß er ihn singen würde. Ich kleiner, zitternder Wicht habe die Tür angesehen, bis ich meinte, die Besitzer aller dieser Namen – (fünfundvierzig Zöglinge waren jetzt in der Anstalt, sagte Mr. Mell) – wollten mich unter allgemeiner Zustimmung fortjagen und jeder rief in seinem eigentümlichen Sprachton: »Achtung! Er beißt!«

      Ebenso war es mit den Plätzen an den Pulten und auf den Schulbänken. Ebenso zwischen den Reihen leerer Bettstellen, nach denen ich auf dem Wege in mein eigenes Bett scheu hinblickte. Ich träumte eine Nacht nach der andern, daß ich bei meiner Mutter wäre, so wie früher, oder zu einer Gesellschaft zu Mr. Peggotty ginge, oder oben auf der Landkutsche führe, oder wieder in Gemeinschaft mit meinem unglücklichen Freunde, dem Kellner, zu Mittag speiste, und bei jeder dieser Gelegenheit fingen die Leute an zu gaffen und laut zu kreischen, denn sie machten die traurige Entdeckung, daß ich nichts anhatte, als mein Nachthemdchen und die Warnungstafel.

      In der Einförmigkeit meines Lebens und in der beständigen Furcht vor der Wiedereröffnung der Schule war dies für mich ein unerträgliches Leiden! Ich hatte jeden Tag lange Lektionen bei Mr. Mell, und da Mr. und Miß Murdstone nicht anwesend waren, bewältigte ich sie glücklich, ohne in Strafe zu verfallen. Vor und nach den Lehrstunden ging ich spazieren, überwacht von dem Mann mit dem hölzernen Beine. Wie lebhaft erinnere ich mich noch der Nässe in der Nähe des Hauses, der grünbemoosten zersprungenen Steinfliesen im Hof, der alten undichten Wassertonne, der fahlen Stämme von einigen alten Bäumen, die viel mehr Regen und viel weniger Sonne als andere Bäume erhalten zu haben schienen.

      Um ein Uhr pünktlich speisten Mr. Mell und ich am obern Ende des langen, kahlen Eßsaals, der voll kienerne Tische stand und nach altem Fett roch. Dann haben wir wieder zu arbeiten bis zum Tee, den Mr. Mell aus einer blauen Teetasse und ich aus einem zinnernen Kruge trank. Den ganzen Tag lang, bis sieben oder acht Uhr abends, hatte Mr. Mell an seinem alleinstehenden Pult im Klassenzimmer zu arbeiten; der wirkte unablässig mit Feder, Tinte, Lineal, in Büchern und auf Schreibpapier, denn (wie ich herausbekam), setzte er die Rechnungen für das verflossene halbe Jahr auf. Hatte er seine Arbeit für die Nacht beiseite gelegt, nahm er die Flöte heraus und blies, daß ich schier meinte, er würde sich selbst in das große Loch an der Spitze hineinblasen und durch die Klappen verduften.

      Ich stelle mir meine kleine Gestalt in der schwacherleuchteten Stube vor, den Kopf auf die Hand gestützt, Mr. Mells klagenden Flötentönen zuhörend und mir dabei die Aufgaben für den nächsten Tag einprägend. Ich stelle mich mir vor, mit schon zugeklappten Büchern immer noch Mr. Mell zuhörend, und in den Klängen Erinnerungen an meine Heimat suchend, wie sie früher war, und an das Pfeifen des Windes über den Strand von Yarmouth, wobei ich mich recht betrübt und einsam fühlte. Ich sehe mich allein zu Bett gehen, oben in den fremden Zimmern, und weinend auf meiner Bettkante sitzen, voller Sehnsucht nach einem herzlichen Wort von Peggotty. Dann komme ich morgens herunter und sehe durch das lange unheimliche, tiefeingeschnittene Treppenfenster nach der Schulglocke, die oben auf einem Nebengebäude angebracht ist, mit einem Wetterhahn darüber, und fürchte mich vor der Zeit, in der sie J. Steerforth und die andern zur Arbeit rufen wird: und doch steht diese Besorgnis noch jenem ahnungsvollen Schauer nach, vor der Stunde, in der der Stelzfuß das verrostete Gitter aufschließt, um den gefürchteten Mr. Creakle zu empfangen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ich unter diesen Umständen ein sehr gefährliches


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