David Copperfield. Charles Dickens

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David Copperfield - Charles Dickens


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Haupt geflogen war.

      Der arme Traddles, in einem engen himmelblauen Anzug, worin seine Arme und Veine wie Bratwürste aussahen, war der lustigste und zugleich unglücklichste unter allen Schülern. Er bekam immer Schläge – ich glaube, in diesem Semester an jedem Tag, mit Ausnahme eines Ferienmontags, wo er nur mit dem Lineal etwas auf die Hand bekam – und wollte immer deshalb an seinen Onkel schreiben und unterließ es doch stets. Nachdem er mit dem Kopf eine kleine Weile auf dem Pult gelegen hatte, wurde er wieder heiter und fing zu lachen an und, auf seine Schiefertafel Gerippe zu zeichnen, ehe noch seine Augen trocken waren. Ich konnte mir lange Zeit nicht erklären, welchen Trost Traddles im Zeichnen dieser Skelette fand, und betrachtete ihn als eine Art Einsiedler, der sich durch diese Symbole der Vergänglichkeit ins Gedächtnis zurückrufen wollte, daß Schläge nicht ewig dauern können. Aber ich glaube jetzt, er zeichnete die Klappermänner nur, weil sie so leicht waren und er ihnen keine Gesichter zu geben brauchte.

      Traddles war sehr ehrenhaft, das ist wahr, und er betrachtete es als eine heilige Pflicht der Schüler, treu einander beizustehen. Er hatte dafür mehr als einmal zu leiden, und vornehmlich einmal, wo Steerforth während des Gottesdienstes lachte und der Kirchendiener glaubte, es sei Traddles gewesen, und ihn hinaus führte. Ich sehe ihn noch jetzt, wie er in den Karzer hinausging, von der Gemeinde verabscheut. Er verriet niemals den eigentlichen Täter, obgleich er es den nächsten Tag zu fühlen bekam und so viel Stunden eingesperrt wurde, daß er einen ganzen Kirchhof voll Gerippe in seinem lateinischen Wörterbuch mit herausbrachte. Aber er erhielt auch seinen Lohn. Steerforth sagte, Traddles sei ein grundbraver Kerl, und hätte nicht die mindeste Anlage zu einer Petze, und wir fühlten alle, daß dies das höchste Lob war. Ich selbst hätte viel ertragen mögen, obschon ich weniger herzhaft als Traddles war und noch lange nicht so alt, um eine solche Belobigung einzuheimsen.

      Steerforth Arm in Arm mit Miß Creakle in die Kirche vor mir hergehen zu sehen, war nichts Kleines. Ich konnte Miß Creakle, der kleinen Emilie hinsichtlich der Schönheit nicht gleichstellen, und ich liebte sie nicht (das wagte ich überhaupt nicht), aber sie erschien mir doch als eine junge Name von ungewöhnlichen Reizen und von unübertrefflicher Eleganz des Benehmens. Wenn Steerforth in weißen Beinkleidern einherstolzierte und ihr Sonnenschirmchen trug, so war ich stolz auf seine Freundschaft und ich glaubte, das Fräulein müsse ihn von Herzen bewundern. Mr. Sharp und Mr. Mell waren ja beides wichtige Persönlichkeiten in meinen Augen, aber Steerforth war im Vergleich zu ihnen, was die Sonne gegen zwei Sterne ist.

      Steerforth blieb mein Beschützer und zeigte sich mir als einen sehr nützlichen Freund, da niemand einem Knaben, dessen Gönner er war, etwas zu tun wagte. Gegen Mr. Creakle konnte er mich allerdings nicht schützen, oder er tat es wenigstens nicht, und dieser war sehr hart gegen mich; aber wenn er mich einmal härter gestraft hatte als gewöhnlich, sagte er mir stets, mir fehlte ein wenig von seinem Mute, und er würde es nicht ertragen haben. Damit beabsichtigte er, mich zu trösten, und ich fand es sehr freundlich. Einen Vorteil, aber nur einen einzigen, hatte Mr. Creakles Strenge. Die Pappe auf meinem Rücken genierte ihn, wenn er mir im Vorbeigehen an den Bänken eins überziehen wollte, und aus diesem Grunde wurde sie entfernt: – ich sah sie nicht wieder.

      Ein zufälliger Umstand befestigte das vertrauliche Verhältnis zwischen Steerforth und mir in einer Weise, die mich mit stolzer Befriedigung erfüllte, obgleich sie manchmal etwas beschwerlich war. Als er mir einmal die Ehre erwies, auf dem Spielplatze mit mir zu sprechen, erwähnte ich, daß der oder jener, oder dies oder das Vorkommnis – was es war, habe ich vergessen, einer entsprechenden Szene in Peregrine Pickle ähnlich war. Er sagte nichts; aber als wir abends zu Bett gingen, fragte er mich, ob ich das Buch besitze.

      Ich sagte: nein, und erzählte ihm, wie ich es gelesen habe, und erwähnte auch die andern Bücher, an denen ich mich damals gelabt hatte.

      »Und weißt du die Geschichten noch?« sagte Steerforth.

      »O ja«, gab ich zur Antwort; ich hatte ein gutes Gedächtnis und glaubte sie fast auswendig zu wissen.

      »Dann will ich dir was sagen, kleiner Copperfield,« meinte Steerforth, »dann sollst du sie mir erzählen! Ich kann abends nicht sehr zeitig einschlafen und wache meistens schon früh auf. Wir wollen sie alle miteinander durchmachen. Wir wollen Tausend und eine Nacht spielen.«

      Ich fühlte mich durch diesen Vorschlag außerordentlich geschmeichelt, und wir fingen gleich diesen Abend an. Welche Sünden ich im Verlauf meiner Erzählung an meinen Lieblingsdichtern beging, sie verstümmelte oder entstellte, das weiß ich nicht mehr und möchte es auch gar nicht wissen; aber ich glaubte an sie aufrichtig, und hatte, so viel ich mich erinnern kann, eine einfache und sinnige Weise, zu erzählen: und das entschädigte für vieles, und damit kann man schon weit kommen.

      Die Schattenseite dabei war nur, daß ich abends oft schläfrig oder niedergeschlagen und daher wenig aufgelegt war, die angefangene Geschichte weiter zu erzählen. Dann war es ein saures Stück Arbeit, das jedoch getan werden mußte, denn Steerforth etwas abzuschlagen oder sein Mißfallen zu erregen, war natürlich nicht möglich. Auch morgens, wenn ich noch müde war und gern eine Stunde langer geschlafen hätte, war es recht lästig, wie die Sultanin Scheherazade geweckt zu werden und eine lange Geschichte erzählen zu müssen, ehe die Glocke für das Aufstehen erklang. Aber Steerforth beharrte dabei, und da er mir dafür die Exerzitien und Rechenexempel erklärte, oder was mir sonst an meinen Schulaufgaben zu schwer war, so war dies Abkommen auch nicht unvorteilhaft für mich. Doch will ich selbst gerecht gegen mich sein. Ich ließ mich nicht durch selbstsüchtige oder gewinnsüchtige Absichten leiten, und auch nicht etwa durch Furcht vor ihm. Ich bewunderte und liebte ihn, und seine Anerkennung war mir Lohn genug. Sie war mir so köstlich, daß ich jetzt an diese kleinen Vorfälle mit zuckendem Heizen zurückdenke.

      Doch Steerforth war auch nachsichtig und bewies seine Rücksichtnahme bei einer Gelegenheit auf eine unnachgiebige Weise, die dem armen Traddles und den übrigen Tantalusqualen bereitete. Peggottys versprochener Brief – was für ein kostbarer Brief war's – kam richtig an, ehe das Semester viele Wochen alt war, und in Begleitung des Schreibens ein Kuchen, in einem wahren Nest von Apfelsinen gebettet, und zwei Flaschen Johannisbeerwein. Ich legte diesen Schatz pflichtgemäß zu Steerforths Füßen nieder und bat ihn um dessen Verteilung.

      »Ich will dir was sagen, kleiner Copperfield,« sagte er, »wir wollen den Wein aufheben, um dir den Schnabel feucht zu halten, wenn du Geschichten erzählst.«

      Der Gedanke machte mich erröten, und ich bat ihn in meiner Bescheidenheit, nicht an so etwas zu denken. Aber er sagte, ich sei manchmal ein wenig heiser (»krächzend« wie er sagte), und jeder Tropfen davon sollte für mich allein bleiben. Demnach füllte er die Kruke in eine Medizinflasche um, schloß die Flasche in seinen Koffer ein, und labte mich mit dem Inhalt durch eine im Kork angebrachte Federspule, wenn ich seiner Meinung nach der Stärkung bedurfte. Manchmal war er so gütig, den Trank zu verbessern, Pommeranzensaft hineinzupressen oder ihn mit Ingwer umzurühren oder ein Pfefferminzplätzchen darin aufzulösen, und obgleich ich nicht behaupten kann, daß der Geschmack dadurch sehr verbessert wurde, oder daß er abends vor dem Einschlafen und früh nüchtern genossen besonders magenstärkend war, so trank ich ihn doch dankbar und empfand solche Aufmerksamkeit von Steerforth mit Anerkennung.

      Ich glaube, wir hatten monatelang mit Peregrine Pickle und mehrere Monate mit den andern Geschichten zugebracht. Mangel an Stoff trat nie ein, das weiß ich gewiß, und der Wein hielt fast so lange aus wie der Stoff. Der arme Traddles, dessen ich stets nur mit einer Anwandlung zu lachen gedenken kann, und trotzdem habe ich seinetwegen Tränen in den Augen, spielte dabei gewissermaßen die Rolle des Chorus, bekam entweder bei den komischen Partien förmliche Lachkrämpfe, oder stellte sich von übertriebener Furcht ergriffen, wenn die Erzählung ängstliche Spannung zu erwecken geeignet war. Das brachte mich oft aus dem Konzepte. So z.B. war es ein Hauptspaß von ihm, zu sagen, er könne sich des Zähneklapperns nicht enthalten, wenn in den Abenteuern des Gil Blas ein Alguajil vorkam, oder wenn Gil Blas in Madrid den Räuberhauptmann antraf. Und einmal ahmte der unglückliche Spaßmacher den Angstschauer so natürlich, aber leider zu geräuschvoll nach, daß es ihm wegen ungebührlichen Betragens im Schlafzimmer


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