David Copperfield. Charles Dickens

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David Copperfield - Charles Dickens


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dachte – denn ich sollte dem Leichenbegängnis beiwohnen. Ich fühlte, daß mich etwas wie eine Würde vor den übrigen Schülern auszeichnete und absonderte, und daß ich in meiner Betrübnis eine wichtige Person war.

      Wenn jemals ein Kind einen aufrichtigen Schmerz fühlte, so war ich es. Aber ich erinnere mich dennoch, daß mir diese Wichtigkeit eine Art Befriedigung gewährte, als ich nachmittags während der Schulstunden auf dem Spielplatze spazieren ging, während die andern in der Klasse waren; und als ich sah, wie die Knaben an den Fenstern nach mir herunterblickten, fühlte ich mich ausgezeichnet und nahm ein bekümmertes Aussehen an und ging langsamer. Als die Schule vorüber war und sie herauskamen und mich anredeten, rechnete ich es mir fast hoch an, daß ich gegen keinen stolz war und alle ebenso sehr beachtete wie früher.

      Ich sollte nächsten Abend nach Hause zurückkehren, nicht mit der Eilpost, sondern mit der langsamen Landkutsche, die man den »Pächter« nannte und die meistens von Landleuten benutzt wurde, die nur kurze Strecken auf der Tour reisten. Das Geschichtenerzählen unterblieb für diesen Abend, und Traddles bestand darauf, mir sein Kissen zu leihen. Ich weiß nicht, was es mir nützen sollte, denn ich besaß selber eines, aber der arme Kerl hatte weiter nichts zu verschenken außer einem Bogen Briefpapier voll Gerippe, und den gab er mir zum Abschied als Tröster für meinen Schmerz und Wiederhersteller meines Seelenfriedens.

      Ich verließ Salemhaus am nächsten Nachmittag, ohne im mindesten zu ahnen, daß ich nicht wieder zurückkehren sollte. Wir fuhren die ganze Nacht hindurch sehr langsam und erreichten Yarmouth erst um neun oder zehn Uhr am nächsten Morgen. Ich sah mich nach Mr. Barkis um, aber er war nicht da; anstatt seiner erschien am Kutschenfenster ein dicker, kurz atmender, lustig aussehender, kleiner, alter Mann, in schwarzem Rock und Hosen mit fadenscheinigen schwarzen Schleifen an den Knien und einem breitkrempigen Hut, kam an das Wagenfenster gekeucht und sagte:

      »Master Copperfield?«

      »Ja, Sir!«

      »Wenn Sie mich begleiten wollen, junger Herr,« sagte er und machte die Tür auf, »so werde ich das Vergnügen habe, Sie mit nach Hause zu nehmen.«

      Ich gab ihm meine Hand, im stillen überlegend, wer es sein mochte, und wir gingen nach einem Laden in einem engen Gäßchen, über dem geschrieben stand: »Omer«, Tuchhändler, Schneider, Schnittwarenhändler, Leichenbesorger usw. Eine drückende und dumpfe Atmosphäre herrschte in dem kleinen Laden, der vollgepfropft war mit fertigen und halbfertigen Kleidern aller Art mit Einschluß eines Fensters voll Filzhüte und Mützen. Wir traten alsdann in ein kleines Stübchen hinter dem Laden, wo drei Mädchen eine große Menge schwarzen Stoff bearbeiteten, der über den ganzen Tisch ausgebreitet war und von dem kleine Schnitzel ringsum auf dem Fußboden zerstreut lagen. In der Stube brannte ein scharfes Feuer, und es roch stark nach schwarzem Krepp – aber ich kannte damals diesen Geruch noch nicht und habe ihn erst später kennen gelernt! Die drei Mädchen, die sehr fleißig und vergnügt zu sein schienen, blickten auf, um mich anzusehen, und nähten dann unermüdlich weiter. Stich stich stich! Zu gleicher Zeit erklang aus einem Arbeitsschuppen auf einem kleinen Hofe vor dem Fenster ein takt= und ewig gleichmäßiges Hämmern: Ratt tatat tatt – tatat tatt – tatat!

      »Nun«, sagte mein Geleitsmann zu einem der drei Mädchen, »wie weit seid ihr, Mimi?«

      »Wir werden zur rechten Zeit zum Anpassen fertig«, erwiderte sie munter, ohne aufzublicken. »Sei ohne Sorgen, Vater.«

      Mr. Omer nahm den breitkrempigen Hut ab, setzte sich hin und keuchte. Er war so dick, daß er einige Zeit weiter keuchen mußte, ehe er sagen konnte:

      »Das ist schön.«

      »Vater,« sagte Mimi lächelnd, »wie entsetzlich dick du wirst!«

      »Ja, ich weiß nicht, wie es kommt, liebes Kind«, sagte er nach einigem Überlegen. »Aber es ist nunmal wirklich so.«

      »Du hast es zu gut, daher kommt's«, sagte Mimi. »Und dann nimmst du die Dinge alle auf die leichte Schulter!« .

      »Es hilft nichts, Kind, wenn man sie anders nimmt«, sagte Mr. Omer.

      »Freilich, freilich«, entgegnete seine Tochter. »Wir sind alle ziemlich munter hier, Gott sei Dank! Nicht wahr, Vater?«

      »Das will ich hoffen, mein Kind«, sagte Mr. Omer. »Da ich jetzt wieder zu Atem gekommen bin, will ich diesem jungen Studenten hier Maß nehmen. Wollen Sie so gut sein und mit mir in den Laden kommen, Master Copperfield?«

      Ich erfüllte seinen Wunsch und ging in den Laden, und nachdem er mir ein Stück Tuch gezeigt hatte, das, wie er mir sagte, extrasuperfein, und für alles andere, als für Trauer um Eltern, zu sein war. Dann nahm er mir das Maß und schrieb die Zahlen in sein Buch ein. Während er sie buchte, lenkte er meine Aufmerksamkeit auf seine Waren, und zeigte mir verschiedene Moden, die, wie er sagte, »eben aufkämen«, und andre, die »eben abgekommen« wären.

      »Dabei verlieren wir oft ein schweres Stück Geld«, sagte Mr. Omer. »Aber mit den Moden ist's wie mit den menschlichen Wesen. Sie kommen, niemand weiß wann, wie oder warum, und sie gehen wieder, und niemand weiß wann, wie und warum? Alles gleicht dem Leben, meiner Meinung nach, wenn Sie's von dem Standpunkt aus ansehen.«

      Ich war zu betrübt, um auf die Frage einzugehen, die aber vielleicht selbst unter andern Umständen für mich zu schwierig zum Lösen gewesen wäre, und Mr. Omer komplimentierte mich in die Stube zurück, selbst auf diesem kurzen Wege schweratmend.

      Dann rief er eine hinter der Tür gelegene schmale, halsbrecherische Stiege hinunter: »Bringt Tee und Butterbrot herauf.« Ich setzte mich hin, sah mich um, grübelte, horchte auf das Sticheln im Zimmer und auf die Melodie, die dort hinten im Hofe gehämmert wurde, und nach einiger Zeit wurde ein Brett mit Tee und Butterbrot gebracht, und zwar für mich.

      »Ich kenne Sie schon seit sehr langer Zeit, mein junger Freund«, sagte Mr. Omer, nachdem er mich eine Zeitlang beobachtet hatte und während der ich von dem Frühstück nur wenig genoß, denn die schwarze Umgebung benahm mir den Appetit.

      »Wirklich, Sir?«

      »Ihr ganzes Leben lang«, sagte Mr. Omer. »Ich könnte sagen, vorher schon. Ich kannte schon Ihren Vater. Er war 5 Fuß 9 1/2 Zoll lang und er liegt 25 Fuß tief.«

      Ratt – tatat tatt – tatat tatt – tatat ging es draußen im Hofe.

      »Er liegt 25 Fuß tief, ganz genau«, sagte Mr. Omer munter. »Es geschah entweder auf sein oder auf ihr Verlangen, ich weiß nicht mehr recht.« »Wissen Sie, was mein kleiner Bruder macht, Sir?« fragte ich.

      Mr. Omer schüttelte mit dem Kopfe.

      Ratt – tatat tatt – tatat tatt – tatat.

      »Er liegt in seiner Mutter Armen«, sagte er.

      »Ach, der arme Kleine! Ist er tot?«

      »Grämen Sie sich nicht mehr darum, als Sie müssen«, sagte Mr. Omer. »Ja, das Kind ist tot.«

      Meine Wunde brach bei dieser Nachricht von neuem auf. Ich ließ das kaum berührte Frühstück stehen, stand auf und legte den Kopf auf den andern Tisch in einer Ecke des kleinen Zimmers, den Mimi hastig aufräumte, damit ich nicht die Trauersachen, die darauf lagen, mit meinen Tränen benetze. Sie war ein hübsches, gutherziges Mädchen, und strich mir mit sanfter freundlicher Hand das Haar aus den Augen; aber sie war sehr heiter, weil sie ihre Arbeit getan hatte und rechtzeitig fertig geworden war, und ihr war ganz anders zumute als mir.

      Jetzt hörte das Hämmern auf, und ein junger hübscher Bursche kam über den Hof in das Zimmer. Er hatte einen Hammer in der Hand und den Mund voll kleiner Nägel, die er herausnehmen mußte, ehe er reden konnte.

      »Nun, Joram!« sagte Mr. Omer. »Wie weit seid Ihr?«


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