David Copperfield. Charles Dickens

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David Copperfield - Charles Dickens


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Mr. Chillip.

      Miß Murdstone antwortet nur mit einem zurückweisenden Blick und einem steifen Knicks. Mr. Chillip geht eingeschüchtert in eine Ecke, nimmt mich mit sich und tut den Mund nicht mehr auf. Ich bemerke es, weil ich alles bemerke, was um mich herum vorgeht, nicht weil mir daran lag meinetwegen oder weil mir seit meiner Rückkehr nach Hause daran gelegen hatte.

      Und jetzt fängt die Sterbeglocke zu läuten an; Mr. Omer kommt mit einem Gehilfen, uns anzukleiden und zum Leichenbegängnis bereit zu machen. Wie Peggotty mir schon mehr als einmal erzählt hatte, war dies dasselbe Zimmer, worin auch das Leichengefolge meines Vaters mit dem Trauerputz versehen worden war, um ihn zum selben Grabe zu geleiten.

      Es sind da Mr. Murdstone, unser Nachbar Mr. Grayper, Mr. Chillip und ich. Als wir zur Türe heraustreten, sind die Träger und ihre Bürde schon im Garten und bewegen sich langsam den Pfad hinab, an den Ulmen vorbei und durch das Gartentor in den Friedhof, wo ich so manchen Sommermorgen die Vögel habe singen hören.

      Wir stehen in einem Kreis um das Grab. Der Tag scheint mir anders als jeder andere Tag, und das Licht nicht von derselben Farbe zu sein, sondern trüber. Jetzt ist eine feierliche Stille, die wir mit dem, was im Staube ruht, aus dem Hause mit hergebracht haben, und während wir entblößten Hauptes dastehen, höre ich die Stimme des Geistlichen, die hier im Freien so fern und doch so deutlich und klar klingt: »Ich bin die Auferstehung und das Leben, spricht der Herr!«

      Jetzt höre ich schluchzen und sehe, abseits unter den Zuschauern stehend, die gute treue Magd, die ich jetzt von allen Menschen aus Erden am liebsten habe, zu der, wie mein kindliches Herz die felsenfeste Überzeugung hegt, der Herr des Himmels einst sagen wird: »Dein Werk war wohlgetan auf Erden!«

      Unter den Umstehenden sind viele Gesichter, die ich kenne; Gesichter, die ich von der Kinderzeit her aus der Kirche kenne; Gesichter, die meine Mutter sahen, als sie in ihrer Jugendblüte in das Dorf kam. Ich kümmerte mich – nur mit meinem Schmerz beschäftigt – nicht um sie, und dennoch sehe und kenne ich sie alle, und sehe selbst im Hintergrund Mimi zuschauen und auf ihren Schatz blicken, der nicht weit von mir steht.

      Es ist vorbei – das Grab ist zugeschüttet, und wir wenden uns wieder heimwärts. Vor uns steht das Haus, so hübsch, so unverändert, so eng verknüpft in meinem Geist mit dem jugendschönen Bilde der Geschiedenen, daß all mein bisheriger Schmerz nichts ist gegen den Schmerz, den sein Anblick hervorruft. Aber sie ziehen mich mit sich fort, und Mr. Chillip spricht mir freundlich zu, und als wir nach Hause kommen, gibt er mir etwas Wasser zu trinken, und da ich bitte, ob ich auf mein Zimmer gehen darf, heißt er mich mit weiblicher Zärtlichkeit gehen.

      Alles das, sage ich, kommt mir so vor, als wär es erst gestern geschehen. Spätere Ereignisse sind hinübergespült worden zu jenem Strande, wo alles Vergessene wieder auftauchen wird: aber dieses eine Ereignis steht wie ein hoher Fels im weiten Meere.

      Ich wußte, daß Peggotty zu mir aufs Zimmer kommen würde. Die Sabbatstille jener Zeit (der Tag war wie ein Sonntag, das vergaß ich zu erwähnen) entsprach so recht unserer beider Stimmung. Sie setzte sich neben mich auf mein kleines, Bett; dann nahm sie meine Hand, und während sie diese manchmal an ihre Lippen drückte und streichelte, wie wenn sie meinen kleinen Bruder hätte beruhigen wollen, erzählte sie mir in ihrer einfachen Weise, wie alles gekommen war. »Sie befand sich seit langer Zeit schon gar nicht mehr recht wohl«, sagte Peggotty. »Sie fühlte sich nicht glücklich. Als das Kleine zur Welt kam, glaubte ich anfangs, es werde sich mit ihr bessern, aber sie war angegriffener als je und nahm mit jedem Tage mehr ab. Vor der Geburt des Kindes pflegte sie viel allein zu sitzen und dann weinte sie; aber später sang sie dem Kinde vor – so leise, daß ich manchmal, wenn ich sie hörte, dachte, es sei wie eine Stimme in der Luft, die immer höher und höher steigt und endlich ganz verschwebt.

      Ich glaube, sie wurde in der letzten Zeit immer schüchterner und furchtsamer; und ein hartes Wort war für sie wie ein Schlag, Aber gegen mich blieb sie immer dieselbe. Sie wurde nie anders gegen ihre närrische Peggotty, der liebe Engel.«

      Hier hielt Peggotty inne und klopfte mir ein Weilchen sanft die Hand.

      »Das letztenmal, wo sie ganz wieder war wie früher, das war an dem Abend, wo du nach Hause kamst, liebes Kind. An dem Tage, wo du fortgingst, sagte sie zu mir: ›Ich werde meinen lieben Herzensjungen nie wieder sehen. Das sagt mir eine innere Stimme, die die Wahrheit spricht.‹

      Sie versuchte aber von da ab, sich aufrecht zu erhalten und ein heiteres Gesicht anzunehmen; und so manchesmal, wenn sie ihr sagten, sie sei leichtsinnig und sorglos, stellte sie sich so; aber damit war es vorbei. Sie sagte ihrem Manne nie, was sie mir gesagt hatte – sie fürchtete sich, es jemand anders zu sagen – bis sie eines Abends, kaum acht Tage bevor es geschah, zu ihm sagte: ›Lieber Mann, ich glaube, ich sterbe bald.‹

      ›Jetzt habe ich mir das Herz erleichtert, Peggotty,‹ sagte sie zu mir, als ich sie an diesem Abend zu Bett brachte. ›Es wird ihm in den wenigen Tagen immer deutlicher werden, dem Armen; und dann ist's vorbei. Ich bin sehr müde. Wenn das Schlaf ist, so bleibe bei mir sitzen, während ich schlafe. Verlaß mich nicht! Gott segne meine beiden Kinder! Gott beschütze und behüte meinen vaterlosen Knaben!‹

      Ich habe sie seitdem nicht verlassen«, sagte Peggotty. »Sie sprach oft mit den beiden da unten – denn sie liebte sie; sie mußte jeden lieben, der in ihre Nähe kam – aber wenn die zwei fort waren, wendete sich sie immer wieder zu mir, als ob für sie nur da Ruhe wäre, wo Peggotty war, und anders konnte sie nie einschlafen.

      Am letzten Abend küßte sie mich und sagte: ›Wenn der Säugling mit mir sterben sollte, Peggotty, so sollen sie ihn mir in die Anne legen und uns zusammen begraben.‹ (Es geschah, denn das arme Lämmchen lebte nur noch einen Tag länger.) ›Und mein teuerster Davy soll mit zu meinem Grabe gehen,‹ sagte sie, ›und erzähle ihm, daß seine Mutter als sie hier lag, ihn nicht einmal, sondern tausendmal segnete.‹«

      Hier folgte wieder eine Pause des Schweigens, und sie klopfte mir wieder sanft die Hand.

      »Es war schon tief in der Nacht,« sagte Peggotty, »als sie zu trinken verlangte; und als sie getrunken hatte, da lächelte sie mich so geduldig an und so lieb und so schön!

      Der Tag war schon angebrochen, und die Sonne ging auf, als sie mir erzählte, wie gütig und rücksichtsvoll Mr. Copperfield immer gegen sie gewesen, wie er mit ihr Geduld gehabt, und wie er, wenn sie an sich selbst gezweifelt, zu ihr gesagt hätte, daß ein liebendes Herz besser und stärker sei als Weisheit, und daß er sich glücklich fühle in ihrer Liebe. ›Liebe Peggotty,‹ sagte sie dann, ›lege mich näher an dich heran‹ – denn sie war sehr schwach. – ›Lege deinen lieben Arm unter meinen Kopf‹, sagte sie, ›und wende ihn dir zu, denn dein Gesicht weicht immer ferner und ferner von mir, und ich möchte dir gern so recht nahe sein.‹ – Ich tat, wie sie verlangte; und ach, Davy! die Zeit war gekommen, wo das wahr wurde, was ich beim ersten Abschied von dir gesagt hatte – wo sie froh war, ihren armen Kopf auf den Arm ihrer einfältigen mürrischen, alten Peggotty zu legen – und sie starb wie ein Kind, das in Schlummer sinkt!«

      So endete Peggottys Erzählung.

      Von dem Augenblicke an, wo ich den Tod meiner Mutter erfuhr, war das Bild, das ich mir zuletzt von ihrem Wesen gemacht hatte, verschwunden. Von diesem Augenblicke an stand sie nur vor mir, als die junge Mutter meiner frühsten Erinnerungen, wie sie sich die hellblonden Locken immer um die Finger wickelte und mit mir im Zwielicht in der Wohnstube tanzte. Was Peggotty mir jetzt erzählt hatte, war weit entfernt, mich an die spätere Zeit zu erinnern, es befestigte nur das frühere Bild in meiner Seele. Es mag seltsam klingen, aber es ist wahr. Mit ihrem Tode schwebte sie zurück zu ihrer ruhigen, ungetrübten Jugend, und alles übrige war verwischt und ausgelöscht.

      Die Mutter, die im Grabe lag, war die Mutter meiner ersten Kinderzeit, das kleine Wesen in ihren Armen war ich selbst, wie ich es früher gewesen war, – aber an ihrem Busen auf ewig eingeschlummert.


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