Dombey und Sohn. Charles Dickens

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Dombey und Sohn - Charles Dickens


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Florence zu Richards darf, so oft sie will; auch kann sie mit ihr ausgehen und dergleichen. Ich will, daß man die Kinder zusammen lasse, so oft Richards es wünscht.«

      Das Eisen war jetzt heiß und Richards schmiedete tapfer darauf los – handelte es sich doch um eine gute Sache, und das gab ihr Mut, obschon sie sich instinktiv vor Mr. Dombey fürchtete. So stellte sie nun das Gesuch, man möchte Miß Florence hin und wieder herunterschicken, damit sie sich mit ihrem kleinen Bruder befreunden könne. Als der Diener sich mit dieser Weisung entfernte, stellte sie sich, als spiele sie mit dem Kinde; indes glaubte sie zu bemerken, daß Mr. Dombeys Farbe sich veränderte, daß der Ausdruck seines Gesichtes ganz anders wurde, und daß er sich hastig abwendete, als möchte er gerne seine, ihre oder beider Worte widerrufen, wenn ihn nicht die Scham davon abhielte.

      Und sie hatte recht. Er hatte sein vernachlässigtes Kind zum letztenmal gesehen, wie es in der schmerzlichen Umarmung seiner sterbenden Mutter lag, und dieser Rückblick war für ihn mit einem Male eine Enthüllung sowohl als ein Vorwurf. Mochte er, so sehr er wollte, von dem Sohn in Anspruch genommen sein, auf den er so hohe Hoffnungen baute, diese Schlußszene konnte er nicht vergessen, und stets mußte sich ihm die Erinnerung aufdrängen, daß er keinen Teil daran gehabt hatte. Sie war so voll tiefer, klarer Innigkeit und Wahrheit gewesen; die beiden Gestalten hatten sich mit ihren Armen umschlungen, während er, ganz ausgeschlossen davon, von einer kleinen Erhöhung aus als bloßer Zuschauer, fremd und kalt auf sie herabsah.

      Er konnte diese Dinge nicht aus seinem Gedächtnis verdrängen und seinen Geist nicht frei halten von den unvollkommenen Gestalten, die sich zur Läuterung der Wahrheit ihm aufdrangen, als wollten sie gewaltsam durch den Nebel seines Stolzes brechen. Seine frühere Gleichgültigkeit gegen die kleine Florence ging in ein ganz außergewöhnliches Unbehagen über, und es kam ihm fast vor, als ob das Kind ihn bewache und Mißtrauen in ihn setze – als habe es den Schlüssel zu einem Geheimnis in seiner Brust, dessen Wesenheit er selbst kaum kannte, – als erschaue es instinktartig eine schrille mißtönende Saite in seiner Seele, die es schon durch seinen Atem zum Vibrieren bringen könne.

      Seine Gefühle gegen die Kleine waren schon von ihrer Geburt an bloß negativ gewesen. An eine Abneigung dachte er nie, denn diese hätte der Zeit und Mühe nicht verlohnt. Sie war ihm nie ein entschieden unangenehmer Gegenstand gewesen, aber jetzt fühlte er sich um ihretwillen beunruhigt. Sie störte seinen Frieden. Wie gerne hätte er die Gedanken an sie ganz und gar beseitigt, wenn er nur gewußt hätte, wie er es angreifen sollte. Vielleicht fürchtete er sich – wer vermag in solche Mysterien einzudringen? – daß er zuletzt so weit kommen könnte, sie zu hassen.

      Als die kleine Florence schüchtern eintrat, unterbrach Mr. Dombey sein Hin- und Hergehen, um sie ins Auge zu fassen. Würde er sie mit größerer Teilnahme und mit dem Auge eines Vaters betrachtet haben, so hätte er in ihrem scharfen Blicke die Gründe und die Besorgnisse, unter denen sie erbebte, erfassen können – den leidenschaftlichen Wunsch, auf ihn zuzueilen, ihr Antlitz an seiner Brust zu verbergen und ihm zuzurufen: »O Vater, versuche es, mich zu lieben! Es ist ja kein fremdes, es ist dein eigenes Kind!« – die Furcht vor einer Zurückweisung, die Scheu, als zu dreist zu erscheinen und ihm Anstoß zu geben, die Hoffnung auf irgendeine Ermutigung oder Beruhigung. Ach, das arme, schwer bedrückte junge Herz sehnte sich nach einem natürlichen Ruheplatz für sein Leid, für seine Innigkeit.

      Aber er sah nichts von alledem – nur daß sie unschlüssig an der Tür stand und ihn ansah, weiter nichts.

      »Nur herein«, sagte er; »komm herein. Wovor fürchtet sich denn das Kind?«

      Sie trat ein, und nachdem sie sich einen Augenblick mit unsicherer Miene umgesehen hatte, blieb sie in der Nähe der Tür stehen und preßte ihre Händchen fest zusammen.

      »Komm her, Florence«, sagte der Vater kalt. »Weißt du, wer ich bin?«

      »Ja, Papa.«

      Die Tränen, die an ihren Wimpern hingen, als sie ihre Augen rasch zu seinem Antlitz erhob, erstarrten ob dem Ausdruck, den sie daselbst wahrnahm. Sie sah wieder zur Erde und streckte die zitternde Hand aus.

      Mr. Dombey nahm sie leicht zwischen seine Hände und blickte einen Moment auf das Kind nieder, als wisse er ebensowenig als Florence, was er sagen oder tun sollte.

      »So! Sei ein gutes Mädchen«, sagte er, ihr den Kopf streichelnd und gewissermaßen mit einem verstohlenen, unruhigen und zweifelhaften Blick auf sie niederschauend. »Geh zu Richards! Geh!«

      Die Kleine zögerte noch einen Augenblick, als möchte sie noch immer sich an ihm festhalten oder als habe sie doch wenigstens die Hoffnung, er könne sie auf seine Arme nehmen und sie küssen. Abermals blickte sie zu seinem Gesicht auf. Da kam ihm der Gedanke, wie sehr der Ausdruck ihres Antlitzes dem gleiche, den er bemerkt hatte, als sie sich in jener Nacht nach dem Doktor umsah. Instinktiv ließ er ihre Hand fallen und wandte sich ab.

      Man konnte leicht bemerken, daß sich Florence in Gegenwart ihres Vaters sehr unfrei benahm. Nicht nur auf dem Geiste des Kindes, sondern auch auf der natürlichen Anmut und Freiheit ihrer Bewegungen lag ein unnatürlicher Zwang. Gleichwohl freute sich Polly über diese Szene und setzte, da sie Mr. Dombey nach sich selbst beurteilte, ein großes Vertrauen in die stumme Berufung, die sich in dem Trauerkleide der armen kleinen Florence aussprach. »'s ist in der Tat hart«, dachte Polly, »daß er nur an das eine mutterlose Kindlein denkt, während er doch ein anderes und dazu noch ein Mädchen vor seinen Augen hat.«

      Und so hielt sie denn Florence so lang als sie nur konnte vor seinen Augen und wußte es mit dem kleinen Paul so einzurichten, daß auch der Vater sehen mußte, das Brüderchen sei nur um so lebhafter und munterer, wenn ihm die Schwester Gesellschaft leiste. Als es Zeit war, wieder hinaufzugehen, hätte sie gar gerne die Kleine in das innere Zimmer geschickt, damit sie ihrem Vater gute Nacht sage; aber das Kind war zu schüchtern und wollte nicht. Als sie aufs neue in Florence drang, verhüllte diese die Augen mit ihren Händchen, als wollte sie sich ihre eigene Unwürdigkeit verbergen, und rief:

      »O nein, nein! Er will nichts von mir. Er will nichts von mir!«

      Der kleine Wortstreit hatte Mr. Dombeys Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Er fragte vom Tische her, wo er bei seinem Weine saß, was es gebe.

      »Miß Florence ist besorgt, Euch zu stören, Sir, wenn sie hineinkäme, um Euch gute Nacht zu sagen«, versetzte Richards.

      »Tut nichts«, entgegnete Mr. Dombey. »Ihr könnt sie kommen und gehen lassen, ohne daß sie auf mich zu achten braucht.«

      Als das Kind das hörte, erbebte es und war fort, ehe ihre bescheidene Freundin wieder sich nach ihr umsehen konnte.

      Gleichwohl triumphierte Polly nicht wenig über den Erfolg ihres wohlangelegten Planes und über die Gewandtheit, die sie dabei zutage gefördert hatte. Als sie wieder wohlbehalten in ihrem oberen Stübchen angelangt war, machte sie dem Sprühteufel eine ausführliche Mitteilung davon. Miß Nipper nahm diesen Beweis ihres Vertrauens und die Aussicht auf einen freieren Verkehr für die Zukunft etwas kalt auf und zeigte sich durchaus nicht enthusiastisch in ihren Freudenbezeugungen.

      »Ich hätte geglaubt, Ihr würdet Euch darüber freuen«, sagte Polly.

      »O ja, Mrs. Richards, ich freue mich recht sehr darüber, danke Euch«, entgegnete Susanne, die plötzlich so kerzengerade geworden war, daß es den Anschein hatte, als habe sie ihrem Schnürleib ein neues Fischbein einverleibt.

      »Ihr zeigt es aber nicht«, sagte Polly.

      »O, da ich ja nur eine permanente Person bin, so kann von mir nicht erwartet werden, daß ich mich dabei wie eine temporäre benehme«, versetzte Susanna Nipper. »Temporäre greifen hier rasch durch, finde ich, aber obgleich eine treffliche Scheidewand zwischen diesem Haus und dem nächsten ist, möchte ich mich doch nicht gerade dort einquartieren, Mrs. Richards.«

      Obgleich die Geschäftsräume von Dombey und Sohn im Freibann der City von London und in Hörweite der Bow Bells lagen, wenn das Geläute derselben nicht durch den Aufruhr in


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