Nikolas Nickleby. Charles Dickens
Читать онлайн книгу.sich im vollen Glanze ihrer Wirklichkeit zeigen zu können, aufrecht erhalten hätte.
Endlich war jetzt alles, was herbeigeschafft werden mußte, beisammen, das, was stören konnte, aus dem Wege geräumt und alles in schönster Ordnung. Überdies hatte der Wassersteuereinnehmer zugesagt, und so blieb denn für das ungetrübte Glück des Abends nichts mehr zu wünschen übrig.
Die Gesellschaft war bewundernswert zusammengestellt. Erstens einmal Mr. Kenwigs und Frau Gemahlin nebst vier Kenwigs-Sprößlingen, die zum Abendessen aufbleiben durften – einmal, weil es nicht mehr als billig war an einem solchen Tage, zweitens, weil ihr Zubettgehen in Gegenwart der Gesellschaft unpassend, um nicht zu sagen, unschicklich gewesen wäre –, ferner die junge Dame, die die Toilette der Festgeberin besorgt und in der zuvorkommendsten Weise ihr Bett für das jüngste Kenwigs-Reis, ein Knäblein in der Wiege, hergegeben und ein Mädchen für seine Bewachung besorgt hatte, und dann als passende Gesellschaft für die junge Dame ein junger unverheirateter Herr, dessen Bekanntschaft Mr. Kenwigs in früheren Jahren gelegentlich gemacht hatte und der von den Damen sehr geschätzt wurde, da er in dem Rufe eines Bruders Lüderlich stand. Hierzu kam noch ein unvermähltes Paar, das bei Kenwigs kürzlich Brautvisite gemacht hatte, und eine Schwester Mrs. Kenwigs' die als ausgemachte Schönheit galt. Nicht zu vergessen noch ein anderer junger Herr, von dem man sagte, daß er honette Absichten auf die obenerwähnte junge Dame habe, und Mr. Noggs, weil er früher ein Gentleman gewesen. Eine ältliche Dame aus dem Erdgeschoß, dann noch eine jüngere, die nächst dem »Löwen« Steuereinnehmer vielleicht die größte »Löwin« der Gesellschaft war, da sie einen Theaterspritzenmann zum Vater hatte, bisweilen als Statistin auftrat und das ausgezeichnetste dramatische Talent besaß, von dem man je gehört, machten den Schluß.
Die Freude, einen solchen Freundeskreis um sich zu sehen, wurde Mrs. Kenwigs nur durch den einen unangenehmen Umstand verbittert, daß die Dame aus dem Erdgeschoß – die sehr beleibt und über die sechzig hinaus war – in einem ordinären Musselinkleid und kurzen Lederhandschuhen erschien, was Mrs. Kenwigs so verdroß, daß sie ihrer Schwester zuflüsterte, sie würde diese unverschämte Person auf der Stelle wieder ausgeladen haben, wenn nicht bereits das Nachtessen auf dem Kochherde des Parterrestübchens stünde.
»Meine Liebe«, meinte Mr. Kenwigs, »wäre es nicht am besten, wenn wir gleich ein Gesellschaftsspiel begännen?«
»Lieber Kenwigs«, versetzte die Hausfrau, »wie kommst du mir vor?! Du willst ohne den Onkel anfangen?«
»Oh, auf den Steuereinnehmer habe ich ganz vergessen«, entschuldigte sich Mr. Kenwigs; »nein, das geht allerdings nicht gut.«
»Mein Onkel ist so eigen«, erklärte Mrs. Kenwigs der andern verheirateten Dame; »er hat gesagt, er werde uns für immer aus seinem Testament streichen, wenn wir je ohne ihn begännen.«
»Ist es möglich?« rief die verheiratete Dame.
»Sie haben keine Idee, wie eigen er ist! Obgleich er sonst der gutmütigste Mensch von der Welt ist.«
»Die liebevollste Seele, die je existierte«, bekräftigte Mr. Kenwigs.
»Es schneidet ihm, sagt man sich allgemein, ins Herz, den Leuten das Wasser absperren zu müssen, wenn sie nicht bezahlen können«, meldete sich der Bruder Lüderlich, um einen Witz zu machen.
»George! Nichts der Art, wenn ich bitten darf!« verwies Mr. Kenwigs würdevoll.
»Es war nur ein Scherz«, entschuldigte sich der junge Mann kleinlaut.
»George!« tadelte Mr. Kenwigs. »Ein Scherz ist zuweilen recht hübsch, wenn aber dieser Scherz die Gefühle meiner Frau verletzt, so muß ich mich dagegen verwahren. Ein Mann, der eine öffentliche Stellung bekleidet, muß sich natürlich Spottreden gefallen lassen, aber die Schuld liegt in seiner hohen Stellung und nicht an ihm selbst. Der Verwandte meiner Frau ist Beamter, George! Er weiß das und kann auch das damit verbundene Unangenehme ertragen; aber abgesehen von meiner Frau, wenn man sie schon trotz einem Anlasse, wie dem gegenwärtigen, nicht aus dem Spiele lassen will, so habe ich selbst die Ehre, mit dem Steuereinnehmer durch meine Ehe verwandt geworden zu sein, und ich kann und darf daher keine solchen Bemerkungen in meinem –« Mr. Kenwigs war im Begriff »Haus« zu sagen, ergänzte aber den Satz mit »– Zimmer dulden.«
Gegen Schluß dieser wortreichen Zurechtweisung, die Mrs. Kenwigs bis zu Tränen rührte und ihren Zweck – die Bedeutsamkeit des Wassersteuereinnehmers der Gesellschaft möglichst vor Augen zu führen – nicht verfehlte, ließ sich der Ton der Klingel vernehmen.
»Da ist er!« flüsterte Mr. Kenwigs aufgeregt. »Morlina, liebes Kind, eile hinunter und lasse den Onkel ein; vergiß aber nicht, ihm sogleich einen Kuß zu geben. – Hm, fangen wir irgendein Gespräch an.«
Mr. Kenwigs' Aufforderung eifrig nachkommend, begann die Gesellschaft sogleich eine sehr laute Unterhaltung, um unbefangen zu erscheinen. Man hatte indessen kaum angefangen, als ein kleiner, alter Herr in gelben Beinkleidern und Gamaschen und mit einem Gesicht, das wie aus lignum sanctum geschnitzt aussah, von Miss Morlina Kenwigs unter fröhlichem Hüpfen hereingeführt wurde.
»Ach, lieber Onkel, wie freut es mich, dich zu sehen!« rief Mrs. Kenwigs und küßte den Steuereinnehmer zärtlich auf beide Wangen. »Ich bin unsagbar froh.«
»Möge der Tag oft und glücklich wiederkehren, meine Liebe«, gratulierte der Wassersteuereinnehmer.
Wirklich und wahrhaftig, es war ein erhebender Anblick.
Ein Wassersteuereinnehmer ohne sein Buch, ohne Feder und Tinte, ohne seinen schreckenerregenden Doppelschlag – ein Steuereinnehmer, der eine hübsche Frau küßte, tatsächlich küßte, und Steuern, Vorladungen, Mahnzettel usw. ganz beiseite ließ! Es war eine wahre Lust, mitanzusehen, wie die Gesellschaft, ganz hingerissen von diesem Anblick, den Herrn von allen Seiten beaugenscheinigte und sich gegenseitig durch Nicken und Blinzeln das innere Vergnügen zu erkennen gab, das man über dem Umstande empfinden mußte, daß bei einem Steuereinnehmer soviel Leutseligkeit zu finden war.
»Wo wollen Sie Platz nehmen, Onkel?« fragte Mrs. Kenwigs mit voller Entfaltung ihres Familienstolzes.
»Wo du mich hinsetzest, meine Liebe«, antwortete der Steuereinnehmer. »Ich bin darin nicht eigen.«
Nicht eigen! Welch ein bescheidener Steuereinnehmer! Wenn er ein Schriftsteller gewesen wäre, der sich seiner untergeordneten Stellung bewußt ist, hätte er nicht bescheidener sprechen können.
»Mr. Lillyvick«, wendete sich Mr. Kenwigs ehrfurchtsvoll an den Steuereinnehmer, »es sind hier einige Freunde von uns, die sich schon lange nach der Ehre Ihrer Bekanntschaft gesehnt haben. – Mr. und Mrs. Cutler, Sir.«
»Ich bin stolz darauf, Ihre werte Bekanntschaft zu machen, Sir«, versicherte Mr. Cutler, »zumal ich schon so oft von Ihnen gehört habe.«
Das waren durchaus nicht etwa bloße Worte der Höflichkeit, denn, da Mr. Cutler in Mr. Lillyvicks Sprengel gewohnt hatte, hatte er in der Tat sehr oft von ihm gehört. – Der Einnehmer war nämlich peinlich genau mit dem Einkassieren.
»George, ich glaube, du kennst Mr. Lillyvick bereits«, fuhr Mr. Kenwigs fort. – »Die Dame aus dem Erdgeschoß – Mr. Lillyvick. Mr. Snewkes – Mr. Lillyvick. Miss Green – Mr. Lillyvick. Mr. Lillyvick – Miss Petowker vom Königlichen Drury Lane Theater. Ich bin stolz darauf, hiermit zwei öffentliche Charaktere miteinander bekannt machen zu können. – Liebe Frau, möchtest du nicht die Spielkarten herausgeben?«
Mrs. Kenwigs beeilte sich, dieser Aufforderung – assistiert von Newman Noggs, von dem man sich nur so im allgemeinen zuflüsterte, er sei ein verarmter Gentleman, sonst aber, seinem ausdrücklichen Wunsche entsprechend, weiter keine Notiz nahm – nachzukommen, und der größere Teil der Gäste setzte sich sogleich zum Kartenspiel nieder, während Newman, Mrs. Kenwigs selbst und Miss Petowker vom Königlichen Drury Lane Theater sich mit der Zurüstung der Abendtafel zu schaffen machten.
Solange die Hausfrau in dieser Weise beschäftigt war, richtete Mr. Lillyvick seine ganze Aufmerksamkeit auf das Spiel, und da alles Fisch sein muß, was in eines Wassersteuereinnehmers Netz kommt, zierte sich der gute, alte