Das letzte Mahl. Harald Schneider
Читать онлайн книгу.spüre ich meine blauen Flecken«, konterte KPD ungewohnt schlagfertig. »Aber ich lasse mich deswegen nicht gehen. Nur wegen des desolaten Zustands meiner Uniform müssen wir jetzt schleunigst unauffällig zu unserem Wagen. Bleiben Sie ein paar Schritte hinter mir, damit mir von dem Gestank nicht übel wird.«
Meiner jahrelangen Erfahrung als psychologisch geschulter Kriminalbeamter hatte ich es zu verdanken, dass ich es förmlich roch, wenn in meiner direkten Umgebung irgendetwas nicht stimmte. Das Riechen war in diesem Fall zwar nicht wörtlich zu nehmen, trotzdem erkannte ich das Besondere: Einige Meter von uns entfernt stand ein Mann in auffälliger Bekleidung verdeckt hinter einem Container und fotografierte mit einem Mordstrumm an Teleobjektiv die Personen, die vor dem Eingangsbereich standen. Der Beschreibung seiner Kleidung nach konnte das der Kerl gewesen sein, den Rustik auf dem Hänger gesehen hatte. Nur wegen unserer momentanen Position konnte ich ihn sehen. Ich wusste sofort, dass dies kein offiziell für dieses Fest bestellter Fotograf war, viel zu heimlich war sein Tun. Um die Person länger beobachten zu können, verlangsamte ich meinen Schritt. Dafür erhielt ich von KPD umgehend einen Rüffel und die Aufforderung, mich zu beeilen. Ich entschied mich dafür, meinem Chef Folge zu leisten, da der heimliche Fotograf Sache des Pfalzmarkts war. Eine kriminelle Tat konnte ich mit dem Fotografieren der Gäste nicht in Verbindung bringen. Um den Rest wollte sich ja mein Chef kümmern. Umgehend strich ich meine Beobachtung aus dem Kurzzeitgedächtnis.
Der Chauffeur rechnete zu dieser frühen Stunde nicht mit uns. Er lag in der Stretch-Limousine und gönnte sich einen älteren Zombiefilm, der in einem Einkaufszentrum spielte, als mein Chef die Tür mit den abgedunkelten Scheiben aufriss.
»Da sind Sie ja!«, schrie er.
Der Chauffeur sprang erschrocken und mit rotem Kopf aus dem Wagen. Dann sah beziehungsweise roch er unseren Zustand. »Was ist mit Ihnen passiert?«
»Nichts«, entgegnete KPD. »Halten Sie mir jetzt endlich die Tür auf, damit ich einsteigen kann? In Schifferstadt fahren Sie bitte direkt in den Hof und halten neben meinem Dienstwagen an. So, wie ich aussehe, darf mich niemand sehen, verstanden?«
Der Chauffeur nickte. Nachdem KPD in der Limousine saß, wandte er sich mir zu. »So kann ich Sie leider unmöglich mitnehmen. Den Wagen kriege ich nie mehr sauber, wenn sich das Zeug in den Polstern festsetzt.«
»Soll ich heimlaufen?«
»Ich könnte Ihnen ein Taxi bestellen, kann aber nicht garantieren, dass Sie mitgenommen werden.«
»Und die Badewanne?«, fragte ich dreist.
Nach kurzem Überlegen nickte der Chauffeur. »Sie bleiben aber in der Wanne liegen und fassen nichts an, einverstanden?«
So kam es, dass ich das erste Mal in meinem Leben in einer Badewanne liegend in einem Auto fuhr. Der Chauffeur war so nett, mich nach meinem Chef zu Hause vor der Haustür abzusetzen. Ich achtete beim Ausstieg peinlich genau darauf, nicht von meiner Nachbarin erwischt zu werden, die bestimmt hinter einem Fenster lauerte. Doch dieses Mal war ich schneller. In Riesenschritten sprang ich zu unserem Hauseingang und schloss die Tür auf. Im Flur stand zufällig Stefanie.
»Du bist ja ganz außer Atem«, rief sie überrascht. Ihre Nase benötigte nur eine Sekunde länger als die Augen. »Boah, hast du in einer Biotonne gesteckt? Das ist ja nicht auszuhalten. Und wie du wieder aussiehst! Geh gleich durch auf die Terrasse und zieh dich aus.«
»Danke der Nachfrage«, sagte ich im Vorbeigehen. »Übrigens, ich bin nicht verletzt, und mir geht es gut, falls du danach fragen wolltest.«
Mit dieser Spitze hatte ich die Vorwurfsattacke meiner Frau pariert. Ihr nächster Satz klang deutlich milder. »Sag schon, was ist passiert? Warum bist du so früh zu Hause?«
Ich lächelte sie an. Meinem Lächeln konnte sie nur selten etwas entgegensetzen. Der kurze Kuss, den ich ihr geben wollte, ging ihr aber wegen der Geruchsbelästigung zu weit. Geschickt wich sie aus. »Ich hole dir frische Klamotten, du wirst bestimmt duschen wollen. Was darf ich dir zu essen machen?«
Ich nickte, ohne ihr zunächst eine konkrete Antwort zu geben. Ich hatte zwar einen Bärenhunger, aber keinerlei Appetit. Das Geruchsensemble, das an mir hing, war für mich mit einer Nahrungsaufnahme nicht in Einklang zu bringen. »Ich war mit KPD auf einer Eröffnungsfeier des Pfalzmarkts. Leider ist da ein bisschen was schief gegangen.«
»Jetzt verstehe ich«, sagte Stefanie. »Dieser penetrante Geruch erinnerte mich sofort an mehrere Gemüsesorten, was bei dir eigentlich auszuschließen ist. Was ist konkret passiert?«
»Es sind ein paar Gemüsekisten auf KPD und mich gestürzt. Es muss auch irgendeine Flüssigkeit dabei gewesen sein. Genauer kann ich es dir nicht sagen, weil es mich nicht interessiert hat. Jedenfalls muss ich nach dem Duschen wieder weg.« Um den fragenden Blick Stefanies zu beantworten, fügte ich an: »KPD und ich müssen zu einer verdächtigen Landwirtin bei Hochdorf fahren.« Die Sache mit dem Abendessen behielt ich für mich. »Mein Chef meint wieder einmal, es habe ein Attentat auf ihn gegeben.« Ich machte mit der Hand eine Wischbewegung vor meinem Gesicht. »Er vermutet, dass diese Landwirtin im Auftrag des Vorstands des Pfalzmarkts das Gemüse auf uns stürzen ließ.«
»Ist Herr Diefenbach verletzt?«
»Nicht die Bohne«, antwortete ich, »ein paar blaue Flecken, sonst nichts. Auch sonst wurde niemand verletzt. Und Tote gab es auch keine.«
Stefanie verdrehte die Augen. »Und deswegen macht Diefenbach solch einen Aufstand?«
»Du kennst ihn ja«, bestätigte ich. »Blöd, dass er mich mitnehmen will. Du weißt, wie ich zu dem ganzen Gemüsegedöns stehe.«
»Ich würde mir den Pfalzmarkt gerne mal anschauen. Bestimmt könnte ich mir da die eine oder andere Anregung für unsere Küche holen. Was gibt es dort für Sorten, Reiner?«
»Alle«, antwortete ich. »Eher noch mehr.«
Sie seufzte. »Vermutlich hättest du nicht einmal Kartoffeln erkannt.«
»Die gibt’s dort nicht. Das weiß ich 100-prozentig.« Bevor meine Frau ins Detail gehen konnte, verschwand ich in Richtung Bad.
Nachdem ich mich wenig später geruchsneutral fühlte, spielte ich ein paar Minuten mit den zweijährigen Zwillingen Lisa und Lars, die sich inzwischen zu permanenten Stressfaktoren entwickelt hatten. Ich war mir sicher, dass die beiden mittels Gedankenübertragung kommunizierten. Mit schöner Regelmäßigkeit lenkte einer der beiden Zwillinge uns Eltern ab, während der andere irgendetwas Saublödes anstellte, was man bisher eigentlich für ausgeschlossen hielt. Was mich besonders beunruhigte, war, dass die Ergebnisse der Zwillingsaktionen um ein Vielfaches fieser waren als die Dinge, die mein Sohn Paul tat, als er in deren Alter war. Dass man Pauls Heldentaten steigern konnte, hätte ich bis vor Kurzem noch für unmöglich gehalten.
»Kannst du mich mit deinem Wagen zur Dienststelle fahren, Stefanie?«, säuselte ich.
»Erst in einer halben Stunde, wenn Melanie und Paul von der Schule da sind. Paul bekommt heute übrigens eine versetzungsrelevante Mathearbeit zurück. Und nächste Woche steht der Elternabend an.«
Da ich wenig erpicht auf die Ausreden meines Sohnes war, zog ich es vor, den brutal weiten Weg von fast einem Kilometer zu Fuß zurückzulegen.
»Wieso bist du nicht verletzt?«, fragte Jutta, als ich deren Büro betrat. Kollege Gerhard saß wie heute früh am Besprechungstisch und las seine Zeitschrift. »KPD hat vor ein paar Minuten von seinem Büro aus angerufen und gesagt, dass ihr schwerverletzt einem Attentat entkommen seid.«
»Der spinnt wie immer. Ein bisschen Gemüse ist auf uns gefallen«, spielte ich die Sache herunter »Zufall, Unfall, keine Ahnung. KPD wurde vorher in seiner angeblichen Wichtigkeit gedemütigt, daher geht er davon aus, dass man ihm nach dem Leben trachtete. Ihr kennt das ja, es ist jedes Mal dasselbe.«
»Gedemütigt?« Gerhard wurde hellhörig und legte das Heft weg. »Lass mal hören, Reiner.«
Zur Freude und zur Unterhaltung meiner Kollegen erzählte ich die Begegnung unseres Chefs mit dem Führungspersonal des Pfalzmarkts.