Infiziert. Teri Terry
Читать онлайн книгу.entdeckt. Jedenfalls lief diese Person den Berg hinauf, was mich ärgerte. Das ist mein Platz, den ich extra gewählt habe, weil sonst keiner Lust hat, mit dem Rad oder zu Fuß diese verrückte Steigung zu erklimmen. Wer drang da in mein Reich ein?
Doch als sie näher kam, sah ich, dass es ein Mädchen war, wesentlich jünger als ich. Vielleicht zehn oder elf Jahre alt. Mit Jeans und rotem Kapuzenpulli bekleidet, ihr dickes, dunkles Haar hing ihr offen über den Rücken. Und mir fiel noch etwas an ihr auf. Sie hatte ein ziemliches Tempo drauf, nahm den Anstieg mit entschlossenen Schritten. Sah nicht nach rechts, nicht nach links. Lächelte nicht.
Als sie mich fast erreicht hatte, rief ich: »Hallo. Hast du dich verlaufen?«
Sie zuckte heftig zusammen und sah sich mit wirrem Blick nach mir um.
Ich winkte ihr zu. »Ich bin’s nur, keine Angst. Hast du dich verlaufen?«
»Nein«, sagte sie plötzlich merkwürdig gefasst und lief weiter.
Und ich ließ sie achselzuckend weiterziehen. Aber nach kurzer Zeit machte ich mir doch Sorgen. Dieser Weg führt zu einer abgelegenen Straße, da ist kilometerweit nichts und der Rückweg ist ebenfalls lang. Selbst wenn sie sofort umgekehrt wäre, wäre sie nicht vor Einbruch der Dunkelheit im Tal.
Ich schnappte mir das Rad und stapfte hinter ihr her. An der Straße blieb sie stehen und sah sich um. Rechts führt die Straße zurück nach Killin, die Strecke nehme ich meistens, fliege den Berg hinunter über den Asphalt. Das Mädchen wandte sich aber nach links. Sie muss sich verlaufen haben, dachte ich damals. Wenn sie nicht mit mir redet, sollte ich die Polizei anrufen.
Ich versuchte es erneut. »Hallo? Da ist nichts. Wo willst du denn hin?«
Keine Antwort. Ich lehnte mein Fahrrad gegen einen Baum, nahm den Rucksack ab, um nach meinem Handy zu kramen. Gerade als ich es gefunden hatte, kam ein Wagen aus Richtung Killin angefahren. Er brauste an mir vorbei, verlangsamte sein Tempo und hielt an.
Ein Mann stieg aus.
»Da bist du ja«, sagte er zu dem Mädchen. »Steig ein.«
Sie blieb wie angewurzelt stehen. Er hielt ihr die Hand hin und sie trat zu ihm, nahm aber nicht seine Hand. Dann öffnete er die Autotür und sie stieg auf den Rücksitz. Der Mann nahm auf dem Fahrersitz Platz und brauste kurz darauf davon.
Ich war erleichtert, denn ich hatte eigentlich keine Lust gehabt, die Polizei anzurufen und mich einzumischen. Schließlich wollten Mum und ich am nächsten Morgen verreisen, mit dem Rucksack durch Europa, und ich hatte noch nicht gepackt.
Aber ganz wohl war mir bei der Sache trotzdem nicht. Irgendwie seltsam: Für ein Kind in ihrem Alter war das ein ziemlicher Marsch und dann auch noch allein. Und wie der Mann gesagt hatte: Da bist du ja. Als wäre sie verschüttgegangen. Oder weggelaufen. Und wenn sie sich wirklich verlaufen hätte, hätte sie dann nicht gelächelt und wäre froh gewesen, als ich sie ansprach?
Allerdings hatte ich in dem Alter selbst oft mit dem Gedanken gespielt wegzulaufen. Sogar jetzt manchmal noch. Mich ging das also nichts an.
Ich fuhr nach Hause und vergaß das Mädchen.
Bis heute.
Ich ziehe den zerknitterten Zettel aus der Hosentasche. Er ist staubig, als hätte er schon ewig am Schwarzen Brett gehangen. Ich streiche ihn glatt und hole tief Luft. Keine Frage, das ist sie auf dem Foto; nur bei den Worten darüber dreht sich mir der Magen um.
Calista, 11 Jahre. Vermisst.
Vermisst? Mir ist schlecht, und ich setze mich hin, um den restlichen Text zu lesen. Sie wird seit dem 29. Juni vermisst, seit fast einem Jahr also. Und als sie zuletzt nur ein paar Meilen von hier gesehen wurde, trug sie Jeans und einen roten Kapuzenpulli.
Oh, mein Gott.
Wann genau habe ich sie denn gesehen? Bevor oder nachdem sie vermisst wurde? Ich denke scharf nach, aber das Datum will mir nicht einfallen. Es muss schon um die Zeit rum gewesen sein, in Schottland fangen die Sommerferien früh an. Mum und ich sind gleich am ersten Ferientag gefahren, bloß wann genau das war, weiß ich nicht mehr.
Es kann doch nicht sein, dass das Mädchen da schon vermisst wurde! Sonst hätten wir davon gehört. Es wäre überall in den Nachrichten gekommen.
Unter dem Foto steht: Wenn Sie Calista gesehen haben oder Hinweise zu ihrem Aufenthaltsort geben können, rufen Sie bitte unter dieser Nummer an. Ganz gleich, wie belanglos die Information erscheint. Wir lieben Calista und möchten sie zurück.
SHETLAND INSTITUTE, SCHOTTLAND
Time Zero: 32 Stunden
Schmerz. Noch nie zuvor habe ich solchen Schmerz empfunden. Er brennt sich nicht nur durch meinen Körper, meine Knochen, sondern durch jeden Gedanken, jedes Gefühl. Am Ende bleibt nur noch ein Wort übrig: Callie, Callie, Callie. Durch meinen Namen halte ich mich verzweifelt an mir fest, aber ich bestehe nur noch aus Schmerz. Flammen verschlingen meine Haut, meine Lungen, mein ganzes Inneres.
Und dann hört der Schmerz plötzlich auf. Die Flammen brennen weiter und ich schwebe über mir. Das Feuer muss richtig heiß sein, sogar die Knochen verkohlen. Bald ist auch von ihnen nur noch Asche übrig.
Bin ich tot?
Muss ich ja wohl. Oder?
Ich stehe in Flammen und verspüre keinen Schmerz. Lebewesen können das nicht. Ich strecke die Hand aus, ich kann sie sehen, es beruhigt mich, eine kühlende Dunkelheit inmitten des Flammenmeers. Auch meine Beine sind noch da, dunkel und ganz.
Nach einer Weile versiegen die Flammen. Die Hitze nimmt ab, die Wände verlieren ihre Strahlkraft.
Ich untersuche die Wände, jeden Winkel, den Boden und die Decke auch, aber es gibt keinen Weg hinaus. Ich lege mich auf den Boden und starre die Decke an. Aus lauter Langeweile lege ich mich irgendwann unter die Decke und starre den Boden an. Für mich scheint die Erdanziehung nicht mehr zu gelten. Aber wenn ich ein Geist wäre, könnte ich dann nicht durch Wände gehen, diesen Ort verlassen? Doch so sehr ich mich auch anstrenge, ich komme nicht hindurch. Die Wände schmecken nach Metall, sie sind meterdick.
KILLIN, SCHOTTLAND
Time Zero: 29 Stunden
»Ich bin zu Hause«, rufe ich, kicke die Schuhe weg und laufe keuchend Richtung Treppe. Heute hatte ich kein Handy dabei und bin darum so schnell wie möglich nach Hause geradelt.
Mum tritt in den Flur. »Das sehe ich. Hast du schon wieder die Milch vergessen?«
»Ähm, ganz so war es nicht.« Ich habe jetzt keine Lust auf lange Erklärungen. Diese Sache kann nicht länger warten.
»Jetzt mal im Ernst, Sharona. Manchmal weiß ich echt nicht, was in deinem Kopf vorgeht. Dabei bist du doch angeblich so schlau.«
»Shay. Bitte nenn mich Shay.«
Mum verdreht die Augen, lacht, dann schaut sie mich genauer an. »Ist was passiert?«
Obwohl sie mich oft wahnsinnig macht: Wenn etwas nicht stimmt, merkt sie es sofort. Mum ist so eine Art Hippie. Mit langem Rock steht sie vor mir, ihr dunkles Haar ist lockig wie meines, nur trägt sie es nicht schulterlang wie ich, sondern bis zur Taille. Um den Hals hängen lange, bunte Perlenketten. Was Vergesslichkeit angeht, hat sie gerade gut reden. Ohne mich würde sie ständig vergessen zu essen. Dafür bemerkt sie die wichtigen Dinge.
»Und ob was passiert ist.«
»Haben