Infiziert. Teri Terry
Читать онлайн книгу.einmal steht Kai ganz verlegen in der Tür. Anstelle von Wut verströmt er unendliche Traurigkeit. Ich wünschte, ich könnte ihn irgendwie aufheitern.
Ich schreibe zurück: Ja.
SHETLAND INSTITUTE, SCHOTTLAND
Time Zero: 26 Stunden
Ich folge dem pfeifenden Techniker und dem Staubsaugerbeutel mit der Aufschrift Subjekt 369 X durch Gänge und Türen. Jede Tür ist doppelt gesichert, man geht durch eine, wartet, bis sie sich schließt, und tritt dann durch die nächste. Ich halte mich so dicht hinter dem Mann, dass ich nicht mittendrin stecken bleibe.
Doch dann führt eine Tür nicht zur nächsten. Stattdessen gelangen wir in einen Raum mit Bänken und ausgefallenen Apparaturen. Vielleicht ein Labor? Dort sitzen zwei Wissenschaftler, die ebenfalls in glänzenden Overalls stecken. Der Techniker hört auf zu pfeifen. »Ich habe noch einen für Sie, Doc«, sagt er. Einer der Wissenschaftler erhebt sich und nimmt den Beutel an sich.
»Ah, ja, das X-Mädchen«, sagt er. »Wie spannend.«
Der Techniker verschwindet. Ich bleibe im Labor bei meinem Beutel. Der Wissenschaftler geht mit dem Beutel zu einer Tür im hinteren Teil des Labors und betritt einen weiteren Raum. Ich folge. Die Atemluft des Mannes steigt als weißer Nebel auf. Auch wenn ich nichts spüre, ist es offenbar kalt hier und riesig ist es auch. Unter der Decke ist so ein Förderband mit Haken, an dem Beutel wie meiner hängen. Mit Nummern drauf.
Der Mann drückt auf einen Knopf neben der Tür und das Förderband dreht sich wie bei einer Reinigung. Ein Beutel nach dem anderen zuckelt an uns vorbei. Dann hält es an. Zwischen Beutel 368 und 370 ist ein freier Haken. Dorthin verfrachtet er meine Asche.
Waren all diese Beutel einst Menschen wie ich? Mit Namen?
Ich bin nicht 369 X!
Nie, nie wieder werde ich eine Nummer sein.
ICH BIN CALLIE!
KILLIN, SCHOTTLAND
Time Zero: 25 Stunden
Ich liege in meine Decke gemummelt im Bett, aber ich bin nicht müde.
Mum kam früh zurück. Auf der Arbeit war angeblich nichts los. Wer’s glaubt.
Trotzdem war ich froh, als sie kam. Wir hatten schon gegessen – Pasta, das einzige Gericht, das ich halbwegs passabel hinbekomme –, und Kai war so höflich, es zu loben und zu antworten, wenn ich ihn etwas gefragt habe. Bei meinen kläglichen Konversationsversuchen bekam ich immerhin heraus, dass er und seine Mutter allein in Newcastle leben. Seine Mutter ist Ärztin und arbeitet irgendwo in der Forschung. Er hat gerade Abi gemacht und soll nach den Sommerferien zur Uni gehen. Dieses »soll« klang allerdings nicht so, als hätte er wirklich vor zu studieren. Kai hat mir sogar beim Abwasch geholfen. Aber es war ihm anzumerken, dass er keine Lust hatte, sich zu unterhalten, und allein sein wollte.
Auch wenn es für einen Freitagabend noch früh war, wollte ich mich gerade mit einem demonstrativen Gähnen nach oben flüchten, als Mum kam. Dennoch wurmte es mich gewaltig, dass sie mich wie ein kleines Kind ins Bett schickte.
Unten höre ich ihre Stimmen. Verstehen kann ich nichts, es ist ein Gemurmel. Meistens redet Mum, Kai antwortet kurz.
Noch nicht mal Mum kann ihn knacken?
Das überrascht mich. Wenn es ein Problem gibt, ganz gleich, ob Liebeskummer, Todesfall in der Familie oder Bad Hair Day, wenden sich immer alle an Mum. Deshalb ist sie im Pub ja auch so beliebt. Die Leute kommen, reden mit ihr und trinken. Man muss nur gut zuhören können, sagt sie.
Nach einer Weile verebben die Stimmen. Das Haus ist still, dunkel. Es hat lange gedauert, bis ich in dieser absoluten Stille einschlafen konnte. Nach dem Londoner Verkehrslärm, den Sirenen und Menschen, die zu jeder Tages- und Nachtzeit unten auf der Straße singen oder rumbrüllen, war die Stille in diesem abgelegenen Haus ohrenbetäubend.
Jetzt muss ich vor allem eines tun: mich erinnern. Wenn ich mir die Situation mit Calista noch einmal ganz klar vor Augen führe, gibt es vielleicht noch einen Hinweis, den ich bisher übersehen habe.
Zwar verfüge ich über ein fotografisches Gedächtnis, aber nur, wenn ich mich konzentriere. Und das muss ich wohl letztes Jahr getan haben, ansonsten hätte ich Calista auf dem Foto nicht sofort wiedererkannt. Nun geht es darum, nach all der Zeit Zugang zu den Erinnerungen zu finden. Dann kann ich mir alles in Ruhe anschauen, wie ein Video, das ich nach Belieben anhalten, zurückspulen und immer wieder ansehen kann.
Konzentrier dich, Shay. Konzentrier dich …
SHETLAND INSTITUTE, SCHOTTLAND
Time Zero: 24 Stunden
Selber schuld. Hätte ich doch bloß den Kühlraum mit dem Wissenschaftler verlassen, aber ich habe mich so geärgert, dass ich erst bemerkt habe, dass er gegangen ist, als die Tür scheppernd ins Schloss fiel. Dann wurde das Licht gedimmt und ich war allein.
Ich stemme mich gegen die Wände, die Tür, den Boden, sogar gegen die Decke, doch es bringt nichts. Der Raum ist komplett abgedichtet. Was habe ich davon, ein Geist zu sein, wenn ich nicht mal durch Wände gehen kann?
Überall hängen Beutel wie meiner herum. Mir wird mulmig. Steckt in ihnen auch die Asche von toten Menschen? Sind sie auch Geister? Wo sind sie?
Wie viele sind es überhaupt?
Viele.
Ich bekomme Panik. Schön ein- und ausatmen und bis zehn zählen, haben sie mir eingeschärft. Versuch, die Panik zu bekämpfen, bevor es richtig losgeht. Aber wie soll das gehen, wenn man nicht mehr atmet?
Ich werde zählen. Zähle sämtliche Beutel von Anfang an.
Ich folge der Schiene über mir bis zum Beutel mit der Nummer 1 und fange an: 1, 2, 3, 4 … 99, 100, 101 … 243, 244, 245 …
Zähle und zähle. Bis hoch zu Nummer 368 und da bin ich: 369 X. Und weiter. 370, 371, 372 bis zu 403. Danach gibt es noch viele leere Haken. Warum hängen schon so viele Beutel hinter meinem? Ich muss spät dran gewesen sein.
Auf keinem der anderen Beutel steht ein X, nur auf meinem. Was bedeutet das X wohl?
Über vierhundert Tote hängen hier.
Wo sind nur ihre Geister? Zeigen sie sich vielleicht bei Nacht?
Ist es Tag oder Nacht? Keine Ahnung.
Ich habe Angst. Ich rolle mich zusammen und werfe mich gegen die Tür.
»Lasst mich raus!«, brülle ich wieder und wieder und wieder.
In mir wachsen Panik und Wut, werden größer und größer, schwappen wie eine heiße Welle über mich und dann …
Piep-piep. Piep-piep.
Ein leiser Alarm erklingt. Vielleicht von draußen?
Piep-piep. Piep-piep.
Kurz darauf geht die Tür auf. Ich stürze hinaus, direkt in die Arme des Wissenschaftlers, der mich gerade eben aufgehängt hat. Er bleibt wie angewurzelt stehen. Hinter ihm warten zwei Techniker in weißen Schutzanzügen, ungeduldig drängen sie an ihm vorbei in den Kühlraum.
»Ich verstehe nicht, warum die Temperatur angestiegen ist«,