Infiziert. Teri Terry

Читать онлайн книгу.

Infiziert - Teri Terry


Скачать книгу
wie die Straße unter uns hinwegfliegt. In Nullkommanichts sind wir in Killin, wofür ich mit dem Rad eine halbe Stunde brauche.

      Auf Killins Hauptstraße mit den paar Geschäften, Cafés, der Kirche und dem Pub – was hier eben so als Zivilisation zählt –, drosselt er das Tempo. Strahlend blauer Himmel. Glitzernd spiegelt sich die Morgensonne in den Wasserfällen der Dorchart. Bäume und Berge tragen einen funkelnden Strahlenkranz. Es ist ein warmer Frühlingstag, aber auf den Gipfeln liegt noch Schnee.

      Also gut, an einem Tag wie heute ist es ziemlich schön hier. Nur manchmal wäre es mir lieber, es gäbe mehr Menschen, sodass man anonym bleiben kann. Hier weiß jeder gleich, wer Einheimischer und wer Tourist ist. Und wer keines von beidem ist: ich. Trotz meiner schottischen Mutter bin ich offenbar vom anderen Stern.

      Wir fahren an ein paar Mädchen aus meiner Schule vorbei, die schon früh am Samstagmorgen unterwegs sind. Ich spüre ihre Blicke im Rücken, als Kai das Motorrad parkt. Darüber können sie sich am Montag im Bus die Mäuler zerreißen. Aber wenigstens ist der Grund dieses Mal groß, blond und gut aussehend.

      »War das okay?«, fragt Kai, als er den Helm abnimmt.

      »Es war toll!« Ich strahle über das ganze Gesicht.

      »Wir können ja mal eine richtige Tour machen, wo man auch ein bisschen Gas geben kann.«

      In meinem Bauch kribbelt es. »Gerne«, bringe ich gerade so zustande.

      Kai verstaut den Helm in der Box. Über sein Gesicht huscht ein seltsamer Ausdruck, als würde er die Einladung gerade bereuen. Wahrscheinlich hat er es aus reiner Höflichkeit gesagt. Bestimmt hat er es nicht so gemeint. Ich versuche, es mir nicht zu Herzen zu nehmen; Kai hat wirklich gerade andere Sorgen.

      »Okay. Wo fängt der Weg an?«, fragt er.

      »Komm. Ich zeig’s dir.« Wir laufen über die Straße zur Brücke, die über die Stromschnellen der Dorchart führt. Wie immer lausche ich der Musik des Wassers und ergreife erst wieder das Wort, als wir auf der anderen Seite sind und den Weg unterhalb des Pubs einschlagen. »Warum war deine Schwester überhaupt hier? Wo hat sie gewohnt?«

      »Sie war mit Mum in unserem Ferienhaus. Es gehört zu einer kleinen Siedlung südlich des Sees.« Er deutet zum Loch Tay, der aber hinter den Bäumen verborgen liegt.

      »Die kenne ich.« Dort stehen eine Handvoll sehr, sehr teure Häuser, die selbst in den Ferien kaum bewohnt sind. Übers Wasser sind sie gut zu erreichen, bloß zu Fuß muss man weit um den See herumlaufen. »Das ist aber ein ganz schönes Stück. Es gibt auch kaum Wege, da muss man an der Straße entlanglaufen. Oder ist sie gerudert?«

      »Calista war immer gerne auf dem See. Und ist manchmal auch heimlich ganz allein rausgepaddelt. Doch unser Kanu war noch am Haus.«

      »Mal angenommen, sie ist gelaufen, dann kann ich mir nicht vorstellen, dass sie keiner gesehen hat. Hier kennt jeder jeden, weiß, wer wohin gehört. Garantiert wäre sie jemandem aufgefallen.«

      »Das hat der Detective auch gesagt. Also muss sie den Weg in den Wald eingeschlagen haben. Oder wurde vom Haus entführt.«

      »Was ist mit deiner Mutter? Hat die was gesehen oder gehört?«

      Kai schweigt.

      »Tut mir leid, wenn ich dich so löchere.« Ich bleibe stehen und zeige zu einem Holperpfad. »Hier kommen wir auf den Fahrradweg. Weiter oben zweigt noch ein unmarkierter Pfad ab, der steil hochführt. Dem folgen wir dann.«

      Unterwegs schaue ich immer wieder verstohlen zu Kai. Er wirkt verschlossen, beherrscht, als fürchte er, zu viel von sich preiszugeben.

      »Tut mir leid«, sagt er schließlich. »Ist doch völlig in Ordnung, dass du Fragen stellst. Es fällt mir einfach nur schwer, darüber zu reden. Nein, unsere Mutter hat nichts mitbekommen. Als sie morgens spät aufgewacht ist, war Calista verschwunden. Mum hat sich keine Sorgen gemacht, dachte, sie wäre wohl spazieren gegangen oder auf dem See rudern. Aber es wurde immer später. Und als sie nachgeschaut hat, war das Kanu auch noch da. Sie bekam es mit der Angst und rief die Polizei an. Die vermutete, dass sich Calista im Wald verirrt hätte. Suchtrupps wurden organisiert. Tagelang hat man nach ihr gesucht. Keine Spur gefunden.«

      »Glaubst du denn, dass sie sich verlaufen hat und …« Ich verstumme. Wie soll ich den Satz beenden?

      »Das scheint die Theorie der Polizei zu sein. Dass Calista sich verlaufen hat und sie verletzt war. Und dass man ihre Leiche eines Tages im Wald finden wird.« Bei dem Wort Leiche zuckt er zusammen.

      »Aber du glaubst das nicht.«

      »Nein. Ich war überzeugt, dass ihr etwas zugestoßen ist. Verlaufen sieht ihr nicht ähnlich. Für ihr Alter war sie ziemlich vernünftig und hatte einen guten Orientierungssinn. Ansonsten gab es ja keinerlei Anhaltspunkte, nichts. Und weil da nichts war …«, er zuckt die Achseln, »hielt die Polizei an ihrer Theorie fest und gab auf.«

      »Aber jetzt weißt du, dass ich sie gesehen habe.«

      »Ja, nun müssen sie den Fall noch einmal aufrollen«, sagt Kai entschlossen.

      Schweigend laufen wir weiter. Kai hat sich so gefreut, dass ich seine Schwester gesehen habe. Doch als er erfuhr, wie lange das schon her ist, habe ich all seine Hoffnungen wieder zunichtegemacht.

      Dennoch ist jetzt klar, dass Calista sich nicht einfach verirrt hat. Nun muss die Polizei sich erneut auf die Suche nach ihr begeben. Und das scheint Kais gestrige Zuversicht wieder zu beflügeln.

image

      SHETLAND INSTITUTE, SCHOTTLAND

      Time Zero: 14 Stunden

      Da ich nichts essen kann, finde ich es auch langweilig, anderen beim Essen zuzuschauen. Also folge ich ein paar Leuten nach draußen und gehe auf Erkundungstour. Es gibt eine Bibliothek, ein Kino, eine Turnhalle. Zimmer wie Hotelzimmer, nur dass sie bewohnter wirken. Doch auch die haben keine Fenster. Ich weiß nicht, ob es Tag oder Nacht ist. Und am Verhalten der Leute kann ich es auch nicht ablesen, manche machen sich für die Nacht fertig, andere stehen auf, wieder andere kommen gerade an.

      Ich schlendere durch die Gänge, als ich jemanden singen höre. Die Stimme kenne ich. Ich lausche angestrengt und folge dem Klang. Er dringt hinter einer verschlossenen Tür hervor, einer ganz normalen Tür mit Schlitz darunter. Ich schwebe hindurch ins Zimmer.

      Noch immer ertönt der Gesang. Deshalb kommt er mir bekannt vor: Es ist Schwester 11. An ihrem Gesicht hätte ich sie nicht erkannt, denn das habe ich ja kaum gesehen. Nun trägt sie ein Nachthemd, kämmt sich das Haar und singt zu leiser Hintergrundmusik.

      Sie war netter als die meisten Schwestern und Ärzte. Hat mir vorgesungen, wenn die Schmerzen schlimm wurden. Und sie hatte sich auch geweigert, mitzukommen, als die Ärzte mich zur Heilung brachten.

      Ich beobachte sie. Sie hat ein freundliches Gesicht.

      Sie stellt die Musik ab und geht ins Bett. Neben ihr liegt ein Buch, sie nimmt es zur Hand und liest.

      An der Wand hängen Bilder. Kinder. Die meisten sind älter als ich, Teenager, aber ein Mädchen ist jünger, vielleicht mein Alter, zwölf oder dreizehn. Ich schaue mir das Foto an. Schwester 11 lächelt, ihren Arm um das dünne, blasse Mädchen gelegt.

      Wie kann sie hier arbeiten und zulassen, dass mir solche Dinge angetan wurden?

      Wut keimt in mir auf. Wollte sie bei der Heilung nicht dabei sein, weil sie wusste, was mit mir geschehen würde?

      Durch den Lautsprecher an der Wand ertönt plötzlich ein Signal. Schwester 11 legt das Buch beiseite.

      »Achtung. Das ist keine Übung. Begeben Sie sich umgehend zu Ihrem Sammelpunkt und folgen Sie dem Dekontaminierungs-programm 1. Bleiben Sie dann am Sammelpunkt und warten Sie auf weitere Instruktionen.«

Скачать книгу