Infiziert. Teri Terry
Читать онлайн книгу.Tasche. Mum streicht ihn glatt, liest und sieht mich fragend an.
»Ich habe sie gesehen. Ich habe dieses Mädchen gesehen. Ich muss anrufen.«
»Erzähl mal.« Also berichte ich ihr die ganze Geschichte. Dabei zieht sie mich in die Küche und macht einen speziellen Kräutertee, der beruhigend wirken soll. Schmeckt abartig.
»Bist du dir sicher, dass es das Mädchen war? Ist ja schon ziemlich lange her. Täuschst du dich auch nicht?«
»Nein.«
»Und das ist keine dieser verrückten Geschichten, die deine Freundin Iona bloggt?«, fragt sie vorsichtig. »Du verwechselst da doch nichts, oder?«
»Natürlich nicht!«
»Okay, ich wollte nur sichergehen. Ich glaube dir ja.«
»Wann sind wir letzten Sommer weggefahren?«
Mum legt die Stirn in Falten und überlegt. Dann wühlt sie in einer Schublade und hält triumphierend einen Kalender vom letzten Jahr hoch. Nachdem sie ihn aufgeschlagen hat, macht sie ein langes Gesicht. »Am 30. Juni.«
»Also habe ich sie am 29. gesehen, an dem Tag, an dem sie verschwunden ist.«
»Soll ich da anrufen?«
Ich schüttle den Kopf. »Nein, mache ich schon selbst.«
Als ich die Nummer wähle, zittern mir die Hände ein wenig. Hätte ich doch bloß damals gleich die Polizei angerufen. Wenn das Auto nur eine Minute später gekommen wäre, hätte ich das auch. Aber vielleicht war der Mann ja auch ihr Vater. Vielleicht ist sie erst später an dem Tag verschwunden und ich hätte nichts tun können.
Es klingelt: einmal, zweimal, dreimal, viermal. Kopfschüttelnd sehe ich Mum an. Endlich wird abgenommen.
»Hallo. Leider können wir nicht persönlich ans Telefon gehen, bitte hinterlassen Sie uns doch eine Nachricht.« Eine warme männliche Stimme, gehobene Ausdrucksweise, mit leichtem Akzent.
»Anrufbeantworter«, zische ich und frage mich, was ich sagen soll.
Piep.
»Ähm, hallo. Ich habe Ihren Aushang gelesen. Über Calista. Und …«
»Hallo, hallo? Hier spricht Kai Tanzer. Ich bin Calistas Bruder. Weißt du, wo sie steckt?« Es ist die Stimme vom Anrufbeantworter. Die Worte sprudeln nur so aus ihm heraus, er ist voller Hoffnung. Auch wenn ich ihn überhaupt nicht kenne, fällt es mir schwer, das im Keim zu ersticken.
»Nein, tut mir leid. Ich weiß nicht, wo sie ist. Aber ich habe sie gesehen.«
»Wo? Wann?«
»Es ist schon länger her. Ich bin erst heute auf die Anzeige gestoßen, aber ich habe Calista im letzten Jahr gesehen, an dem Tag, an dem sie verschwunden ist. 29. Juni stand da.« Ein Flyer, der im Supermarkt am Schwarzen Brett hing, an dem ich bestimmt schon hundertmal vorbeigegangen bin und der mir nie aufgefallen war. »Es war am späten Nachmittag. Calista ging spazieren und stieg dann zu einem Mann in einen Wagen. Ich nahm an, es sei ihr Vater.« Habe ich das wirklich geglaubt? Oder rede ich mir das jetzt ein, weil ich ein Unglück hätte verhindern können, wenn ich nachgehakt hätte?
»Ah, verstehe«, sagt er. Da ist Schmerz in seiner Stimme. »Verschwunden ist sie schon morgens. Weißt du noch, wie der Mann aussah?«
»Ich glaube schon.«
»Wo wohnst du denn?«
»In der Nähe von Killin in Stirlingshire. Schottland.« Ich gebe ihm unsere Adresse, erkläre ihm, dass er der einspurigen Straße den Berg hinauf folgen muss. Und der Wegweiser Addy’s Folly ihn zu uns führt.
»Bleib, wo du bist. Ich komme zu dir. Geh nirgendwohin, okay?«
»Ich bleibe hier.«
»Ich brauche vielleicht zwei, zweieinhalb Stunden. Wie heißt du?«
»Shay.«
Die Leitung ist tot.
SHETLAND INSTITUTE, SCHOTTLAND
Time Zero: 28 Stunden
Die Zeit vergeht schleppend.
Endlich regt sich was. An einer Wand öffnet sich eine Tür und ich verdrücke mich in die hinterste Ecke. Menschen in Schutzanzügen kommen rein.
Von mir nehmen sie keine Notiz, sodass ich mich nach einer Weile aus meiner Ecke raustraue. Ich fuchtele ihnen mit den Händen vor dem Gesicht herum. Keine Reaktion.
Mit Instrumenten überprüfen sie die Asche am Boden, entnehmen kleine Proben, die sie unter Sensoren halten. Sie scheinen zufrieden zu sein und zücken einen Besen. Nicht gerade Hochtechnologie. Was von mir übrig ist, wird zu einem Haufen zusammengekehrt, und dann wird ein silbernes Teil zum Einsatz gebracht, noch eine Düse aufgesteckt … Und schwups hat man einen Staubsauger. Ich werde aufgesaugt. Einfach so. Futsch.
Anschließend nehmen sie den Sauger wieder auseinander und schreiben »Subjekt 369 X« auf den Beutel.
Jetzt werde ich aber sauer. Richtig sauer.
»Ich bin Callie!«, brülle ich.
Beklommen halten sie inne. Tauschen Blicke, zucken die Achseln und sammeln ihre Instrumente zusammen. Als sie durch die Tür gehen, bin ich ihnen dicht auf den Fersen. Ich will nicht in diesem kahlen Raum festsitzen.
Den Reaktionen nach konnten sie mich hören, jedenfalls ein wenig. Auch wenn ich nicht weiß, was ich bin, kann ich zumindest wieder sprechen – die Maske bin ich los. Ich hatte so lange keine Stimme, dass ich richtig glücklich darüber bin.
Ich kann sogar singen! Ich stimme ein Lied an, das ich manchmal von den Schwestern gehört habe, als ich krank im Bett lag; einer der Techniker vor mir pfeift im Takt mit.
KILLIN, SCHOTTLAND
Time Zero: 27 Stunden
»Soll ich wirklich nicht dabei sein?«, fragt Mum und bleibt unsicher im Türrahmen stehen.
»Zum hundertsten Mal: nein. Geh endlich! Ich komm allein zurecht.«
»Du rufst mich an, wenn …«
»Wenn was? Wenn er ein Axtmörder ist? Ich weiß nicht, ob das klappt. ›Entschuldigung, könnten Sie Ihre Axt kurz weglegen. Ich habe meiner Mami versprochen anzurufen!‹« Mum sieht mich entnervt an. »Alles gut. Du hast ja seinen Namen und die Telefonnummer. Geh!«
Sie gibt mir einen Kuss auf die Stirn und verlässt das Haus.
Am liebsten würde ich sie zurückrufen, aber ich verkneife es mir. Ich bin sechzehn, fast siebzehn, da kann ich mich nicht mehr hinter meiner Mutter verstecken. Warum bin ich nur so aufgeregt?
Seufzend lasse ich mich aufs Sofa plumpsen und lehne mich an Ramsay, meinen riesigen Plüscheisbären. »Sei doch ehrlich, Shay«, sage ich laut und fahre erschrocken zusammen, als meine Stimme durch das leere Haus dringt. Wenn ich diesem Jungen die ganze Geschichte erzähle, wird er fragen, warum ich nichts unternommen habe, und mich womöglich für Calistas Schicksal verantwortlich machen.
Vielleicht denke ich insgeheim genauso. Normalerweise hätte ich keinen Gedanken mehr an eine solche zufällige Begegnung verschwendet. Ich kann mich so gut daran erinnern, weil mir bei der Sache nicht wohl war. Und ich habe nichts unternommen.
Die Zeit will nicht vergehen. Endlich höre ich Motorengeräusche. Ich stehe auf und ziehe den Vorhang beiseite. Die Sonne verschwindet gerade hinter den