EXIT NOW!. Teri Terry
Читать онлайн книгу.Ava gehört hier keiner Clique an, hat auch keine engen Freunde, jedenfalls ist mir niemand aufgefallen. Zwischen all den Gruppen in der Schule bleibt sie für sich. Sie ist ziemlich isoliert. Ob sie sich einsam fühlt? So wirkt sie aber nicht. Eher unabhängig, als wären wir anderen ihr egal oder als würden wir in ihrer Welt gar nicht vorkommen. Irgendwie schafft sie es so, dass die anderen sie mit ihren üblichen Lästereien in Ruhe lassen – obwohl sie ein Stipendium hat und sich, na ja, nicht gerade super kleidet. Bei solchen Sachen ist man hier sonst nicht unbedingt zimperlich, gerade weil es Schülerinnen wie Charlize und Ruth gibt, deren Kleiderschränke größer sind als die kompletten Häuser von anderen Leuten.
Wenn ich rumlaufen würde wie Ava, würde ich ihre Krallen zu spüren bekommen. Wahrscheinlich würde ich in der Zeitung auf der Liste mit den schlechtangezogensten Leuten landen. Irgendwie beneide ich Ava. Wie kommt sie nur damit durch?
Mir ist bewusst, dass Ava aufgehört hat zu zeichnen und wartet, dass ich fertig werde. Sie beugt sich vor, um einen Blick auf meine Zeichnung zu erhaschen, aber ich halte den Block hoch.
»Noch nicht!«
Sie setzt sich wieder zurück und ich arbeite weiter an ihren Augen, verwische die Linien ein wenig …
Ich arbeite so konzentriert, dass ich zusammenzucke, als sie sich räuspert.
»Kannst du denn überhaupt noch was sehen?«, fragt sie.
Mir ist gar nicht aufgefallen, dass es schon fast dunkel ist. Sofort bekomme ich es wieder mit der Angst zu tun. In den Gebäuden ringsherum geht der Strom immer noch nicht, aber hinter den Fenstern der Bibliothek flackert Licht. Bestimmt haben sie ein paar Kerzen aufgetrieben.
»Lass uns reingehen«, sage ich und klappe den Block zu.
»Darf ich mal sehen?«
Bevor ich es richtig hinbekommen habe, will ich es ihr nicht zeigen, deshalb schüttle ich den Kopf. »Später. Hier ist es zu dunkel, und wenn ich es dir drinnen zeige, sehen es die anderen, das will ich nicht.«
»Okay. Warte mal kurz. Bevor wir reingehen, rufe ich meinen Vater an.«
Ava holt ihr Telefon aus der Tasche, es ist praktisch museumsreif. Kaum zu glauben, dass es noch funktioniert. Kurz darauf spricht sie mit ihrem Dad und erklärt, dass sie noch in der Schule ist und wir keinen Strom haben. Sie hört eine Weile zu und verabschiedet sich dann. Nachdem sie aufgelegt hat, sieht sie mich mit großen Augen an.
»Dad meint, ganz London ist abgeriegelt.«
»Ist er bei der Polizei?«
Sie schüttelt den Kopf, zögert. »Er ist Taxifahrer.« So wie sie es sagt, klingt es fast trotzig. Ich wusste es nicht und bestimmt weiß es auch sonst niemand auf der Schule, sonst hätte das längst die Runde gemacht. Selbst wenn sie unterm Radar fliegt, würde das nicht unbeachtet bleiben. Hat Ava mir gerade etwas anvertraut, was sie sonst für sich behält? »Er weiß immer, was wo vor sich geht.«
Ich krame mein eigenes Handy hervor, es war auf lautlos gestellt. Verpasste Anrufe von Dads Assistentin und einer von Dad. Daneben hat er mir noch eine Nachricht geschrieben: Bist du noch in der Schule? Bleib da.
Ich drücke auf den grünen Hörer und lausche dem Freizeichen.
AVA
In der Bibliothek erwarten uns besorgte Gesichter im Kerzenschein. Sam zieht es gleich zum Licht, mitten in den Kreis der Leute. Immer wieder huscht ihr Blick ängstlich in die dunklen Ecken, als könnte dort etwas lauern.
Wir setzen uns. Ein paar Dutzend Lehrer und halb so viele Schüler sind anwesend. Manche unterhalten sich, andere lesen oder texten, während sich in ihren Augen der gespenstische Schein ihrer Telefone widerspiegelt.
Die stellvertretende Direktorin kommt zu uns. »Die Polizei will sich melden, wenn wir die Schule verlassen können.« Sie fragt nicht direkt, aber in der kleinen Pause am Ende des Satzes schwingt eine Frage an Sam mit. Andere schauen zu uns hinüber und horchen.
Sam zuckt die Achseln. »Ich weiß nur, dass die Straßen abgesperrt sind.« Den Rest, den sie mir nach dem Telefonat mit ihrem Vater erzählt hat, verschweigt sie. Dass nämlich die Polizei die Gegend absucht, weil sie glaubt, dass das Stromnetz sabotiert wurde.
Plötzlich erwachen die Deckenlampen flackernd zum Leben und alle jubeln.
Kurz darauf klingelt Sams Telefon.
»Ja … okay … in zwanzig Minuten? Können wir Ava auch nach Hause fahren? … gut, ich schicke gleich die Adresse.«
Sie legt auf. »Der Fahrer ist auf dem Weg.«
»Wir haben ja noch kein grünes Licht bekommen«, sagt die stellvertretende Direktorin, aber da klingelt auch schon ihr Telefon und sie bestätigt es. Allmählich ziehen sich alle ihre Mäntel an, verabschieden sich, rätseln, was wohl los war und warum sie so lange warten mussten. Die Lehrer stellen sicher, dass die Schüler auch abgeholt werden.
»Wir nehmen Ava mit«, sagt Sam, als sich jemand bei uns erkundigt.
Nun ziehen auch wir uns an und laufen zum Tor.
»Wo wohnst du denn?«, fragt Sam.
»Ich komme schon allein nach Hause, keine Sorge.«
»Sei doch nicht blöd. Es ist spät, wer weiß, was da draußen los ist. Ich muss ihnen nur deine Adresse geben, damit sie die Route freimachen können oder irgend so ein Quatsch.«
»Danke, aber nein.«
Besorgt sieht Sam mich an, dann dreht sie sich um. Hält sie nach der stellvertretenden Direktorin Ausschau? Ich verabschiede mich schnell und verlasse das Gelände über einen Seitenausgang, bevor Sam noch jemandem Bescheid geben kann oder weiter auf mich einredet.
Am Tor gebe ich den Code ein und laufe rasch um die Ecke Richtung Bushaltestelle.
Auf der Straße ist nicht viel los, nur wenige Menschen sind unterwegs. Eigentlich war es ziemlich bescheuert von mir, mich nicht nach Hause fahren zu lassen. Wenn sich der Bus jetzt verspätet oder gar nicht kommt?
Warum habe ich das Angebot ausgeschlagen? Ich seufze. Im Grunde weiß ich es, will es aber nicht zugeben.
Ich wollte nicht, dass sie sieht, wo wir wohnen.
Dabei habe ich geglaubt, mir wäre es gelungen, mich endlich davon frei zu machen, was andere denken. Jetzt das. Und das Schlimmste daran ist, dass es nicht irgendjemand ist, sondern sie.
SAM
Das Tor öffnet sich und schwingt direkt hinter dem Wagen wieder zu, dann erst öffnet sich das nächste. Ohne Strom hätte das gar nicht funktioniert. Gefangene unserer eigenen Sicherheitsvorkehrungen! Ob es so was wie eine Notentriegelung gibt?
Warum wurde das Stromnetz überhaupt sabotiert? Rund um die Schule gibt es nichts als große Häuser, teure Läden und Restaurants. Die gesamte Nachbarschaft ist durch Tore, Alarmanlagen und Kameras geschützt.
Fast alles läuft elektronisch. Manche haben vielleicht eine Reservebatterie, aber es muss ja wohl für alle anderen eine Notentriegelung geben. Sonst würde man beim Stromausfall ja in der Falle sitzen. Was, wenn ein Feuer ausbricht?
Wieder beschleicht mich ein ungutes Gefühl. Die Polizei weiß all das. Haben sie deshalb alles abgesperrt und uns befohlen, uns nicht vom Fleck zu rühren, damit sie die Gegend in Ruhe absuchen können? Es ist nur wenig los auf den Straßen, und je weiter die Schule zurückbleibt und je näher mein Zuhause kommt, desto mehr löst sich meine Anspannung.
Dann knallt es hinter uns plötzlich mehrmals. Ein Auto mit Fehlzündung? Aber es hört überhaupt nicht mehr auf. Wird da geschossen?
Ich drücke auf den Knopf, um mit dem Fahrer hinter der Trennscheibe zu sprechen.
»Was ist denn da los?«
»Polizeiaktion.