Ave Maria. Gisela Sachs

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Ave Maria - Gisela Sachs


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neben der Haustür, sagt: »Bin gleich wieder da. Ich gehe Haselnüsse holen.«

      Schuldbewusst spähe ich aus dem Küchenfenster, weiß, dass ich gerade mal wieder übel mit Mama umgesprungen bin, und sehe, wie sie sich mit dem Handrücken die Tränen vom Gesicht wischt.

      Verdammte Scheiße!

      Ich gehe ohne Frühstück aus dem Haus, Mama ist immer noch nicht zurück. Ich fahre wie immer mit dem Fahrrad zur Hochschule. Mein Weg ist nicht weit, aber ich hätte trotzdem gerne, wie die meisten meiner Kumpels ein Auto gehabt, mache meinem Ärger darüber auch immer wieder lautstark Luft.

      Ein Krankenwagen fährt mit rasender Geschwindigkeit knapp an mir vorbei, der Fahrer hat sein Fenster geöffnet, ich höre den Soundtrack von ‚Spiel mir das Lied vom Tod’. Die wehenden Haare des Mannes verdecken sein halbes Gesicht. Ich sehe einen kauenden Mund, spüre den Lufthauch des Wagens in meiner rechten Gesichtshälfte und im Nacken, falle fast vom Rad.

      »Arschloch!«

      Es folgt ein Polizeiauto mit kreisendem Blaulicht.

      »X hoch 2 plus PX plus Q gleich 0. Mitternachtsformel?

      X hoch 2 plus PX plus Q ist wie viel?« Zwei Feuerwehrautos.

      Nichts Außergewöhnliches. Die städtische Feuerwehr hat ihren Sitz in unmittelbarer Nähe der Hochschule, trotzdem erschrecke ich tierisch. Das Sirenengeheul tut mir in den Ohren weh.

      »X hoch 2 plus PX plus Q gleich 0. X hoch 2 plus PX gleich 0.

      Wie lautet verflixt noch mal die Mitternachtsformel? Mathe kotzt mich an!«

      Ich stelle mein Rad auf dem überfüllten Parkplatz am Campus ab, kette es sorgfältig an einem Baum fest, (es ist schon mein Drittes), und sehe aus den Augenwinkeln einen weiteren Einsatzwagen des Rettungsdienstes die Straße entlang rasen.

      »X hoch 2 plus PX plus Q gleich 0. X 2 plus Q plus PX gleich 0.

      X hoch 2 plus PX plus Q ist dadada. Scheiße!

      Ich werde mir diese verdammten Formeln nie merken können!«

      »Sprichst du immer mit dir selbst?«, lacht Maren, die plötzlich hinter mir steht. Ihr Atem geht stoßweise, als sie ihr Rad ankettet.

      »Zu schnell in die Pedale getreten«, japst sie.

      »Schönen Tag noch Davide. Und ganz viel Daumen-Drück für deine Matheklausur. Meine habe ich letzte Woche gründlich verhauen. Mir ist die Zauberformel abhanden gekommen.« Maren lacht.

      Ich treffe die Schweinebacke Hohlmeier vor der Eingangstür. Dieser Fiesling von Prof freut sich immer diebisch, wenn ein Student eine Klausur verhaut.

      »Heute ist deine letzte Chance«, grinst er mich an, als ich ihm die Tür aufhalte. »Blöde Sau!«

      »X2 plus PX plus was ist gleich wie viel? X hoch 2 plus was ist gleich was?«

      »Scheiße!«

      »Ich wecke dich heute Nacht aus dem Tiefschlaf, will die Mitternachtsformel von dir wissen. Das mache ich so lange, mein Sohn, bis sie dir in Fleisch und Blut übergegangen ist.«

      »Das tust du nicht Mama!«

      Und natürlich hat mich meine verrückte Mom aus dem Schlaf gerissen. Drei Nächte hintereinander. Um Mitternacht.

      Ich grinse und löse meine Aufgaben rasch.

      Es klopft, Hohlmeier schüttelt unwillig seinen Kopf, schleicht sich zur Klassenzimmertür, öffnet diese nur einen Spaltbreit, ich sehe schwarze Schuhe und eine grüne Uniform.

      »Sie können hier nicht rein«, sagt Hohlmeier zu dem Polizisten und geht vor die Tür. Die Gelegenheit nutze ich und hole die heroische Formel zur Berechnung des Drachen aus meiner Socke raus.

      »Davide«, sagt Hohlmeier plötzlich leise hinter mir. Ich hatte ihn nicht hereinkommen hören und zucke erschreckt zusammen. Jetzt flieg ich raus, er hat mich beim Spicken erwischt, denke ich.

      »Davide«, flüstert die Schweinebacke heiser. »Komm doch mal mit vor die Tür.«

      Die Mama war gleich tot, musste nicht leiden …

       2. Kapitel

      Time to say good-bye.

      Andrea Boccelis und Sarah Brightmanns Stimmen erfüllen den Raum. Mama liegt im Sarg als würde sie schlafen. Ich streichele ihr sanft über das kalte Gesicht, mit schweißnasser, zitternder Hand über ihre Haare. Die Altarkerzen links und rechts des Sarges werfen Schatten an die Wände. Weiße Lilien. Überall weiße Lilien.

      Zeit ‚Auf Wiedersehen’ zu sagen. Orte, die ich nie mit dir gesehen und besucht habe. Jetzt, ja werde ich dort leben mit dir, werde ich abreisen auf Schiffen und Meere. Ich weiß. Nein, nein ich existiere nicht mehr. Es ist Zeit ‚Auf Wiedersehen’ zu sagen.

      Scheiß Müsli!

      Am Ausgang der Aussegnungshalle wartet Papa auf mich. Er schaut mich fragend an, will mich umarmen. Ich schleudere seine tastende Hand von mir weg und renne aus dem Friedhof.

      In unserem Haus schwebt mir eine Wolke von Mamas Parfüm entgegen. Der Duft von All about Eve ist nachhaltig, Mamas Kleider an der Garderobe verbreiten diesen fruchtig frischen Duft durch das ganze Haus.

      »Du riechst wie ein Apfel Mom.«

      »Beiß nicht in mich hinein.«

      Danach rennt sie spielerisch um den Wohnzimmertisch herum.

      »Pass auf die Glasvase auf Mom!«

      »Klar doch. Bin doch nicht von gestern.«

      Wir spielen Fangen durch das ganze Haus und kichern dabei wie Grundschulkinder.

      Die Küche sieht aus, wie vor meiner Matheklausur. Mein Frühstücksgedeck steht noch so auf dem Tisch, wie Mom es für mich hingestellt hatte. Ich will es abräumen, und entdecke einen zusammengefalteten Zettel unter dem Teller mit dem Obst für mein Müsli. Obenauf ein Lippenstiftküsschen von Mum.

      ‚Hot Paprika’ – von Lorèal. Den Lippenstift hatte sie sich zum Geburtstag gewünscht.

      Ich drücke dir die Daumen, Davie, und denke ganz fest an dich. Deine Matheklausur wird schon hinhauen. Halte einfach deine sieben Sinne zusammen. Wenn du heimkommst, wartet eine Überraschung auf dich.

      Hdl. Mama.

      Es ist so, als ob Mom direkt neben mir spricht, ich kann sie förmlich spüren. Eine Überraschung hat sie für mich.

      »Was hast du dir jetzt schon wieder einfallen lassen Mom? Wo soll ich denn die Überraschung dieses Mal suchen?«

      Grinsend schaue ich auf die Küchenuhr. Es dauert noch ein Weilchen, bis Mom von der Arbeit heimkommt.

      Mama ist tot. Die Erkenntnis trifft mich wie ein eiskalter Guss Wasser. Ich lasse die Rollos herunter und verkrieche mich in meinem Bett. Das Telefon läutet, ich reiße das Kabel aus der Steckdose. Es klingelt, ich stelle die Haustürglocke ab. Im Wohnzimmer fällt mein Blick auf die vielen bunten Sofakissen auf der Couch. Die sind, wie immer, fein säuberlich nach Farben und Größen aufgereiht. Grün, gelb, orange, blau, violett. Mit perfektem Schlitz in der Mitte. Mama hat da immer mit der flachen Hand hinein gehauen.

      ‚My home is my Castle’ hatte Mama immer gesagt, wenn ich sie dieser Pedanterie wegen ausgelacht habe.

      »Was ist heute eigentlich für ein Tag Mom?«

      »Wann muss ich den Orchideen ein Schnapsglas voll Wasser geben?«

      »Wir machen das immer sonntags, dann vergessen wir es auch nicht mein Kleiner«, hatte Mama vor vielen Jahren mir den Orchideengießauftrag übergeben. Das war an dem Tag, als Papa uns wegen einer anderen Frau verlassen hatte.

      Nach dem Blumengießen wollten wir Eis essen gehen. Zu ‚Dellarte’ – unserem Lieblings-Eiscafé.

      »Die


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