Briefe über den Yoga. Sri Aurobindo

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Briefe über den Yoga - Sri Aurobindo


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Mit Prakriti ist die universale Prakriti gemeint. Die universale Prakriti, die in das vitale Wesen eintritt, erzeugt Begierden, die dann, indem sie immer wieder auftauchen, die individuelle Natur zu sein scheinen; doch wenn die gewohnheitsmäßigen Begierden, die sie hereinwirft, zurückgewiesen und verbannt werden, dann bleibt allein das Wesen zurück, und die alte individuelle Prakriti des vitalen Begehrens ist nicht länger vorhanden – eine neue menschliche Natur wird gebildet, die auf die Wahrheit über ihr reagiert und nicht mehr auf die niedere Natur.

      3. Die universale Prakriti bestimmt die Gewohnheit der Reaktion, und die Seele oder der Purusha nimmt sie an. Im Annehmen liegt die Verantwortlichkeit. Der Purusha ist derjenige, der zustimmt oder ablehnt. Im Tier reagiert das vitale Wesen auf die gewöhnlichen Lebenswellen, auch der Mensch reagiert auf sie, doch hat er die Möglichkeit einer mentalen Kontrolle. Er hat auch, sofern der mentale Purusha in ihm wach ist, die Macht zu wählen, ob er sich sein Begehren erfüllt oder sein Wesen darin übt, es zu überwinden. Schließlich besteht noch die Möglichkeit, eine höhere Natur herabzubringen, die dem Begehren nicht unterworfen ist, sondern nach einem anderen vitalen Prinzip handelt.

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      Es ist für das individuelle Mental unmöglich, das Wirken des Kosmischen Willens zu verstehen, solange es in seiner Persönlichkeit eingeschlossen bleibt, denn die Normen des gewöhnlichen Bewusstseins sind hierauf nicht anwendbar. Eine Zelle im Körper, sofern sie bewusst ist, mag ebenfalls denken, dass das menschliche Wesen und seine Taten lediglich aus den Beziehungen und Wirkungsweisen einer Anzahl von Zellen hervorgehen, wie sie selbst eine ist, und nicht aus dem Wirken eines geeinten Selbstes. Erst wenn man in das kosmische Bewusstsein eintritt, lernt man die Kräfte erkennen, die am Werk sind, und die Richtung, in der sie wirken; erst dann bekommt man eine Ahnung des Kosmischen Selbstes und des Kosmischen Mentals und Willens.

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      Es gibt keine Unwissenheit, die nicht Teil der Kosmischen Unwissenheit ist, und erst in der Individualität wird sie ein begrenztes Gebilde, eine begrenzte Bewegung; die Kosmische Unwissenheit hingegen ist die gesamte Bewegung des Weltbewusstseins, das sich von der höchsten Wahrheit getrennt hat und in einer niederen Bewegung wirkt, in welcher die Wahrheit entstellt und vermindert und mit Falschheit und Irrtum vermischt und verhüllt ist. Kosmische Wahrheit ist der Standpunkt eines kosmischen Bewusstseins, von dem aus die Dinge in ihrer wahren Essenz gesehen werden, in ihrer wahren Beziehung zum Göttlichen und zueinander.

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      Die kosmische Wahrheit ist diejenige Wahrheit der Dinge, die sich gegenwärtig im Universum ausdrückt. Die Göttliche Wahrheit ist unabhängig vom Universum, sie steht darüber und ist sein Ursprung.

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      Die Erfahrungen des Yogi sind spirituelle Erfahrungen – nämlich die Erfahrung des Spiels der Kräfte und seiner Beziehung zum Selbst, die Erfahrung des Wirkens des Lenkenden, die Erfahrung dessen, was hinter der Erscheinungsform der Dinge und Geschehnisse usw. steht, des tatsächlichen und wirklichen Wirkens von Purusha und Prakriti usw. Die Göttliche Wahrheit ist die Wahrheit der Göttlichen Essenz, des Göttlichen Bewusstseins, des Selbstes, Wissens, Lichtes, der Göttlichen Macht und Seligkeit. Aus ihr stammt der Kosmos mit all seinen Bewegungen, doch ist sie mehr als der Kosmos.

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      Das Wort „Mental“ bezieht im allgemeinen Sprachgebrauch unterschiedslos das gesamte Bewusstsein mit ein, denn der Mensch ist ein mentales Wesen und mentalisiert alles; doch in der Sprache dieses Yoga werden die Worte „Mental“ und „mental“ benutzt, um insbesondere den Teil der Natur zu bezeichnen, der mit Erkennen und Vernunft zu tun hat, mit Ideen, mit mentalen oder gedanklichen Wahrnehmungen, mit den Reaktionen des Gedankens auf die Dinge, mit wahren mentalen Regungen und Gestaltungen, mit mentaler Schau, mentalem Willen usw., die alle Teil seines Verstandes sind. Das Vital muss sorgfältig vom Mental unterschieden werden, auch wenn es von einem mentalen Element durchsetzt ist; das Vital ist die Lebensnatur, die sich aus Begierden, Gefühlen, Erregungen, Leidenschaften, Tat-Energien, dem Begierden-Willen und den Reaktionen der Begierden-Seele im Menschen zusammensetzt und aus jenem ganzen Spiel von besitzergreifenden und anderen, verwandten Instinkten, wie Ärger, Furcht, Gier, Lust usw., die alle in diesen Bereich der menschlichen Natur gehören. Mental und Vital werden an der Oberfläche des Bewusstseins miteinander vermengt, doch sind sie in sich ganz getrennte Kräfte; sobald man aber hinter das gewöhnliche Oberflächenbewusstsein gelangt, erkennt man sie als getrennt, man entdeckt ihren Unterschied und vermag mit Hilfe dieses Wissens ihre Vermengung an der Oberfläche zu analysieren. Es ist durchaus möglich und sogar üblich, dass das Mental während einer längeren oder kürzeren Zeit – manchmal während einer sehr langen Zeit – das Göttliche oder das yogische Ideal annimmt, während das Vital noch nicht überzeugt ist, sich nicht hingibt und widerspenstig seinen Weg des Begehrens, der Leidenschaft und des Hingezogenseins zum gewöhnlichen Leben fortsetzt. Ihre Verschiedenheit oder ihr Zwiespalt ist die Ursache der tieferen Schwierigkeiten der Sadhana.

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      St. Augustin war ein großer Heiliger und ein Mann Gottes, doch sind große Heilige nicht immer – oder nicht oft – große Psychologen oder große Denker. Seine Psychologie hier ist von sehr oberflächlicher Art, wenn nicht überhaupt die des Mannes von der Straße; in ihr sind ebenso viele Fehler wie psychologische Äußerungen enthalten – und mehr, denn einige werden nicht direkt ausgedrückt, sondern gehen aus dem, was er schreibt, hervor. Ich bin mir bewusst, dass solche Fehler praktisch universal sind, denn die psychologische Forschung in Europa (und ohne Forschung gibt es kein stichhaltiges Wissen) steht erst an ihrem Anfang und ist noch nicht sehr weit gekommen; was bislang das Denken der Menschen beherrschte, ist eine oberflächliche Darstellung der oberflächlichen Erscheinungsformen unseres Bewusstseins, so wie sie sich uns auf den ersten Blick darbieten, und nichts sonst. Wissen beginnt jedoch erst, wenn wir uns von den Phänomenen der Oberfläche entfernen, um hinter ihnen ihr wahres Wirken und ihre Ursachen zu suchen. Für die oberflächliche Sicht des äußeren Mentals und der Sinne ist die Sonne ein kleiner feuriger Ball, der in der Luft um die Erde kreist, und die Sterne sind ein glitzerndes, winziges Etwas am Nachthimmel, vorhanden, um uns zu erfreuen. Wissenschaftliche Forschung macht diesen kindlichen „Auf-den-ersten-Blick-Eindruck“ zunichte. Die Sonne ist ein ungeheures Etwas (Millionen Meilen von unserer Lufthülle entfernt), um das die kleine Erde kreist, und die Sterne sind unendlich ferne, gewaltige Bestandteile eines riesigen Systems und haben offensichtlich nichts mit der winzigen Erde und ihren Geschöpfen zu tun. Die Wissenschaft widerlegt den Eindruck der Sinne oder den oberflächlichen Anschein der Dinge und macht Wahrheiten geltend, die der gewöhnliche und ununterrichtete Verstand nicht ahnt. Dem gleichen Vorgang muss man in der Psychologie folgen, wenn man wirklich wissen will, was unser Bewusstsein ist, wie es aufgebaut und gemacht ist, was das Geheimnis seiner Wirkungsweise und der Ausweg aus seiner Unordnung ist.

      Es gibt hier [bei Augustin] mehrere grundlegende und allgemeine Fehler:

      1. Dass Mental und Spirit das gleiche sind.

      2. Dass man von dem gesamten Bewusstsein als vom „Mental“ sprechen kann.

      3. Dass das gesamte Bewusstsein daher aus einer spirituellen Substanz besteht.

      4. Dass der Körper lediglich Materie und nicht bewusst und daher etwas vom spirituellen Teil der Natur ganz und gar Verschiedenes ist.

      Erstens, Spirit und Mental sind zwei verschiedene Dinge und sollten nicht miteinander verwechselt werden. Das Mental ist eine instrumentale Wesenheit oder ein instrumentales Bewusstsein, dessen Funktion es ist zu denken und wahrzunehmen – der Spirit ist eine essentielle Wesenheit oder ein essentielles Bewusstsein, das nicht zu denken oder wahrzunehmen braucht, weder auf dem Weg des Mentals noch auf dem der Sinne, denn all sein Wissen ist ein direktes oder essentielles Wissen, svayam-prakasa.

      Als nächstes folgt, dass nicht alles Bewusstsein notwendigerweise spirituellen Charakter haben muss, und es braucht nicht wahr zu sein und ist nicht wahr, dass der Befehlende und der Befehlsempfänger dasselbe sind und nicht völlig verschieden, dass sie von der gleichen Substanz und daher aneinander gebunden sind


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