Bürgerwache. Wildis Streng

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Bürgerwache - Wildis Streng


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starrte entgeistert auf das vordere Ende des Zuges. Natürlich! Wie hatte ihm das entgehen können!

      »Wo ist denn der Tobi? Ich hab ihn doch vorhin gesehen?«

      Allgemeines Achselzucken, dann meinte einer: »Der ist vorhin in Richtung Kämmerle gelaufen.«

      Applaus brandete auf für den Musikzug.

      »Wir sind jetzt dran!«, zischte irgendjemand, und Christian hörte erstarrt, wie Walter Lilienfelder, der in diesem Jahr noch einmal als Moderator fungierte, den Spielmannszug ankündigte. Kurz spielte er mit dem Gedanken, die Truppe ohne den Schellenbaum auftreten zu lassen. Aber nein, das ging nicht. Das brächte alles durcheinander.

      »Das geht nicht«, sagte er laut zu Philipp, dem Zugführer, der wie ein Mondkalb dastand und offenbar nicht vorhatte, irgendwie tätig zu werden. Christian Blumenstock setzte sich in Bewegung, in Richtung des VHS-Kämmerles. Köpfe drehten sich nach ihm um, kaum dass er die Kameraden passiert hatte. Gleichzeitig zeichnete sich Sorge auf dem hageren Gesicht ab. Dem Tobi würde doch nichts passiert sein?

      »Vielleicht ist ihm schlecht geworden«, vermutete jemand, an dem er vorbeikam.

      Ja. Vielleicht. Christian beschleunigte seinen Schritt. Das sah dem Tobi nicht ähnlich, so gar nicht! Der war nervig, intrigant, oft einfach nur doof und manchmal ein Hallodri, aber in solchen Dingen absolut zuverlässig. Auf der Bühne war es ruhig geworden, das Publikum, das oft sowieso nur mit halbem Ohr zuhörte, würde noch für kurze Zeit mit sich selbst und seinen Gesprächen zufrieden sein.

      »Der Spielmannszug!«, wiederholte Walter nun durch das Mikrofon, das war nicht so schlau, wäre er doch bloß ruhig.

      Christian stand vor der Tür und fand sie halb offen stehend vor.

      »Wenn der Spielmannszug jetzt aufmarschieren könnte … Hallo, Christian?«, beharrte die Stimme aus dem Lautsprecher.

      Christian schluckte und öffnete die Tür vollends. Das Licht war an. Und er sah im selben Moment, was los war. Er schlug die Hand vor den Mund und trat einen Schritt auf die stocksteif daliegende Leiche zu, die unter dem Schellenbaum begraben war. Er streckte die Hand aus, wurde aber von einem »Nicht anfassen!« von der Tür her zurückgehalten.

      Er drehte sich um, es war Freddy. »Der hat sei Beet­le nausgschort«, konstatierte der Kamerad trocken und nahm seine Kopfbedeckung ab.

      »Hä?«, machte Christian vollkommen perplex.

      »Der is hie«, übersetzte Freddy seine Metapher. »Doa kousch nix mehr macha. Ii hobb im Publikum an Bulla gseecha, ii holl en amol.«

      Einige Minuten später standen Lisa und Heiko im Kämmerle der VHS, vor der Leiche von Tobias Baumann. Heiko zückte sein Handy und rief Uwe an, den Crailsheimer Spurensicherer. Der würde womöglich nur wenige Minuten bis zum Tatort brauchen, denn das Crailsheimer Polizeirevier war nur einen buchstäblichen Steinwurf weit entfernt. Hinter Heiko tauchte plötzlich Werner auf, sein Vater, und blickte mit verschränkten Armen interessiert auf die Leiche hinunter. Heiko war gottfroh, dass er nicht sein Smartphone zückte, um Bilder zu machen, wie er es bei so mancher Leiche im Familienkreis schon getan hatte, rein zur Dokumentation, wie er behauptete, als Erinnerungsfoto. In Wahrheit war er überzeugt davon, dass sein Vater Leichen irgendwie faszinierend fand, zumindest interessant.

      »Vatter, etz musch du doa amole weg«, zischte Heiko, besann sich dann aber und bat: »Kousch du amol an Sanitäter holla?«

      Denn dieser dürre Kerl, der das Opfer gefunden hatte, hatte wohl dringend einen nötig, so schockiert, wie der war. Er saß auf dem Boden, mit angewinkelten Beinen, die Arme um die Knie geschlungen.

      »Tobi!«, gellte ein Schrei durch die Szene, und eine junge, schwarzhaarige Frau kam atemlos auf die Kammer zugerannt.

      Lisa stellte sich ihr in den Weg. »Tun Sie sich das nicht an, Frau …«

      »Was ist mit ihm? Geht es ihm gut?«, verlangte die Frau zu wissen. Ihre dunklen Augen waren panisch geweitet. »Was ist los, Chris, los, sag!«, forderte sie, als sie bemerkte, dass sie nicht weiterkommen würde.

      »Bitte beruhigen Sie sich, Frau …«, begann Lisa.

      »Wer sind Sie denn? Lassen Sie mich zu ihm, ich will …«

      »Setzen Sie sich, bitte!«, beharrte Lisa und berührte die Frau mit sanfter Bestimmtheit am Arm. »Wie heißen Sie denn?«

      Die Dame, die ebenfalls eine Bürgerwachen-Uniform trug, schien etwas ruhiger zu werden. »Gündogan, Ezgi. Ich bin seine Frau«, meinte sie tonlos und betrachtete Christian, der das mit dem Hinsetzen ja einfach gelöst hatte.

      »Frau Gündogan«, wiederholte Lisa und schenkte der Frau ein Lächeln.

      Heiko war bei solchen Sachen immer froh, wenn Lisa das übernahm, sie konnte so was viel besser als er. Erleichtert nahm er wahr, dass hinter der jungen Frau jetzt zwei Sanitäter erschienen, und Heiko bedeutete ihnen mit Blicken, sich um die beiden unter Schock Stehenden zu kümmern.

      »Er ist tot, stimmt’s?«, begriff Ezgi, als sie den Mann in der Rotkreuz-Montur sah, und brach in unkontrolliertes Schluchzen aus.

      Heiko entdeckte den Pfarrer, den sein Vater wohl ebenfalls informiert hatte und der sich in hellblau geblümtem Freizeithemd und beigefarbenen Cargoshorts ebenfalls aus dem Hintergrund heranschob. Er winkte ihm und deutete auf die Sanitäter, die würden ihm schon sagen, was jetzt am besten wäre.

      »Fühlen Sie sich in der Lage, uns ein paar Fragen zu beantworten, Herr …«, wandte sich Lisa dann an den jungen Mann, der die Leiche gefunden hatte. Der schien sie erst gar nicht wahrzunehmen, bis der Sanitäter ihn ansprach.

      »Christian? Hast du die Frage gehört?«

      »Beim Spielmannszug gibt es scheint’s Verzögerungen«, kam nun eine Stimme durch den Lautsprecher. »Deshalb spielt jetzt der Musikzug eine wunderschöne Polka – den ›Böhmischen Traum‹!«

      Endlich hob der Mann seinen Blick, und Lisa schaute in bernsteinfarbene, irgendwie kluge Augen. »Blumenstock. Ich heiße Christian Blumenstock. Und ich denke, ja. Wenn Sie mich noch kurz …« Er brach ab, weil die ersten Takte des »Böhmischen Traums« erklangen.

      Lisa nickte verständnisvoll, das passte sowieso gut, weil in diesem Moment Uwe anmarschierte, bereits im weißen Spurensicherer-Outfit.

      »Hi, Uwe«, grüßte Heiko, und der Spurensicherer nickte ernst.

      »Der sei zu Tode geschockt worden?«, begann er, und Heikos Blick wanderte zu Frau Gündogan und Herrn Blumenstock, die Gott sei Dank außer Hörweite waren.

      »Sieht wie ein Stromunfall aus, beziehungsweise ein ›Strommord‹«, sinnierte Heiko und zündete sich eine Zigarette an.

      Uwe schob sich an den Ermittlern vorbei und öffnete die Tür. »Ist die Sicherung jetzt draußen?«, fragte er misstrauisch.

      »Fliegt die nicht automatisch raus bei so was?«, gab Heiko zurück.

      »Scheint’s net«, konstatierte Uwe trocken und wies auf die Leiche. »Hollsch du amol da Fassiliti Mänädscher?«, bat er Heiko.

      Der blinzelte und hakte nach. »Wen?«

      »Da Hausmeischder!«

      »Ach so, ja.«

      Der »Böhmische Traum« hatte geendet, und der Moderator kündigte eine »weitere wunderschöne Polka, nämlich die Herbstabend-Polka« an, die deutlich dynamischer war.

      »Soll ich denen Bescheid sagen, dass sie zu spielen aufhören?«, bot Lisa an.

      Uwe schüttelte den Kopf. »Des is grad recht, wenn das Programm weitergeht. Auf die Weise kommen die neugierigen Leut nicht her.«

      Fünf Minuten später war der Strom abgestellt, zumindest der auf den Steckdosen. Das Licht war noch an.

      »Ihr bleibt draußen«, befahl Uwe und machte sich drinnen zu schaffen.

      »Waasch du, warum der Spielmannszuach net spielt?«,


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