Bürgerwache. Wildis Streng

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Bürgerwache - Wildis Streng


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von wo aus gleich das ganztägig ablaufende und überaus nervtötende Uff-tata losgehen würde. Bernd nahm einen Schluck Bier und wischte sich mit dem Ärmel der Siederskleidung über den Mund, weil ihm Schaum an der Oberlippe kleben geblieben war.

      Die Tina. Die Tina hatte so getan, als hätte sie gar nicht bemerkt, dass er sie auch gut gefunden hatte, und sich für den Timo entschieden. Der hatte noch alle Haare und wirkte in allen Dingen deutlich dynamischer. Außerdem arbeitete er nicht bloß als kleiner Beamter bei der Stadt, sondern war aufstrebender Junior-Chef in einer Haller Firma. Der Timo kann nichts dafür, sagte Bernd sich, es ist unfair, wenn du einen Hass auf ihn hast. Immerhin sind sie mitgekommen aufs Parkfest. Und wir sind Freunde seit der Grundschule. Er würde sich damit abfinden müssen, dass die beiden zusammen waren. Tina und Timo, hörte sich doch super an, fast wie Tina und Tini. Würde sich ausnehmend gut machen auf Hochzeitseinladungen.

      »Die Horaffen haben’s echt nicht drauf«, meinte Tina gerade, wohl, um ihn irgendwie aufzuheitern. Womöglich merkte sie doch, was Sache war, klar merkte sie das. Alle Frauen wussten, wer hinter ihnen her war, insgeheim. Und die meisten hielten sich ihre Verehrer warm, denn die waren gut fürs Ego. Eine Gemeinheit eigentlich. Aber die war auch nicht wirklich schuld, die Tina.

      Bernd zwang sich zu einem Grinsen, nickte und trank noch einen Schluck.

      In Bernds Hirn hatte sich der Gedanke festgesetzt, dass irgendwie das dumme Geschwätz von dem Horaffen auf dem Kuchen- und Brunnenfest eine Rolle gespielt hatte. Dort saß der Gedanke, blieb da, ging nicht mehr weg. Niemals würde er vergessen, wie die Tina damals fein gelächelt hatte, so unmerklich irgendwie. Aber dennoch – das Lächeln war da gewesen. Sie hatte das alles ganz witzig gefunden. Zumindest unbewusst. Und vielleicht darüber nachgedacht und das dann vielleicht genauso gesehen. Dass er ein bedauernswerter, dicklicher Kerl war, der noch bei seiner Mutter wohnte und es im Bett nicht draufhatte.

      Längst hatte er ihn entdeckt in der Menge. Er trug Uniform, und an seinem Arm hing gerade eine hübsche uniformierte Schwarzhaarige, die der Tina gar nicht so unähnlich war, rein von der Optik her. Bernd Seiler hob das Bierglas und trank die Hälfte, die noch übrig war, in einem Zug aus. Der Baumanns Tobi hatte sich den Falschen zum Verarschen ausgesucht. Der würde das noch bereuen.

      Ezgi blickte sich suchend um, ihre Eiswaffel in der Hand. Der Tobi hatte sich schon mal hinsetzen wollen, um einen Platz für sie beide zu suchen. Wo war er denn jetzt? Ach, dahinten, da saß er, in der Nähe des »Weinstandes«, landläufig als »Bar« bezeichnet, an dem außer Wein Spirituosen aller Art ausgeschenkt wurden. Sie rückte ihre Uniformjacke zurecht, es war unglaublich heiß. Sobald es ginge, würde sie das Teil ausziehen. Den Helm mit den grün gefärbten Gänsefedern hatte sie bereits abgenommen und trug ihn lässig unter dem linken Arm, in der Rechten hielt sie ihre Eiswaffel. Sie steuerte auf ihren Tobi zu, bei dem Freddy mit seiner Freundin Kathrin Platz genommen hatte – soweit Ezgi wusste, waren die beiden noch nicht allzu lange zusammen. Ezgi musste sich zu einem Grinsen zwingen, Kathrin war eine blöde, überkandidelte Tussi. Aber was soll’s, für Small Talk würde es ausreichen. Sie ließ sich auf der Bank nieder, küsste ihren Tobias flüchtig und lächelte den beiden anderen so freundlich wie möglich zu.

      »Traumhaftes Wetter, nicht?«, begann sie und leckte an ihrem Eis – Schokolade und Pfirsich.

      »Ja, total«, freute sich die goldblonde, blauäugige Kathrin und wunderte sich augenblicklich: »Ach, du bist in der Kompanie?«

      Ezgis Lächeln verkrampfte. »Ja. Warum nicht?«

      Kathrin druckste herum, bevor sie hervorbrachte: »Dürfen Frauen das auch?«

      Fred lachte dröhnend und ließ eine seiner Pranken auf Ezgis linke Schulter niedersausen. »Die Ezgi war eines unserer ersten Flintenweiber. Und eine Trefferquote hat die, das sag ich dir, besser als jeder Kerl!«

      Ezgi schnalzte mit der Zunge und sandte Fred einen tadelnden, aber augenzwinkernden Blick, bevor sie Kathrin aufklärte: »Frauen dürfen auch zur Kompanie. Wieso denn auch nicht?«

      »Und das macht dir Spaß, diese Ballerei? Und wie heißt du noch mal?«, fragte Kathrin zurück und nippte elegant an einem Glas Weißwein, das vor ihr stand und schon beinahe leer war.

      Ezgi leckte Eis, bevor sie antwortete. »Ezgi. Das ist ein türkischer Name. Und weißt du was? Klar macht mir das Spaß, wir Dschihadisten bringen gern Leute um die Ecke, das weißt du doch!«

      »So hab ich das doch gar nicht …«, begann Kathrin.

      Ezgi besann sich. »Entschuldige. Ich bin da ein bisschen ein gebranntes Kind, das musst du verstehen. Und ziemlich empfindlich. Crailsheim ist meine Heimatstadt, und ich finde es wichtig, die Traditionen zu erhalten. Und da ich leider total unmusikalisch bin und auch zu ungeschickt für die Majoretten, bin ich eben in die Kompanie eingetreten.«

      Tobias Baumann erhob sich. Er spürte die Halbe. Verdammt, er wurde alt. Früher hätte er die locker weggesteckt. Er war vernünftig, eine, nicht mehr, und dazu ein Gulasch, das brachte ja auch was beim Nüchternbleiben. Eine war die Obergrenze, denn immerhin musste er noch den Schellenbaum tragen. In 20 Minuten war sein Zug dran, es war an der Zeit, sein Instrument zu holen. Ganz schön schwer war das Teil, aber er war ja kräftig.

      »Bis nachher«, raunte er, drückte seiner Ezgi einen Kuss auf die Wange und nickte den anderen grüßend zu.

      Dann kletterte er aus der Bank und wandte sich links von der Bühne am Bauernhofeisstand vorbei zu den Gebäuden der VHS. Hier, in einer kleinen Kammer, lagerte der Schellenbaum, wohlverschlossen. Tobias ging die paar Schritte zum Gebäude, steckte den Schlüssel ins Schloss und wunderte sich kurz, dass das Aufschließen nicht wie gewohnt funktionierte, irgendwas blockierte das Schloss. Schließlich wurde ihm klar, dass die Tür gar nicht abgeschlossen war – komisch. Mit gerunzelter Stirn drückte er die Klinke herunter und tastete nach dem Lichtschalter. Ein elektrisches Summen ertönte, die Leuchtstoffröhren flackerten und das Licht ging an. Puh, gut, es sah nicht so aus, als würde etwas fehlen. Glück gehabt. Er würde nachher dem Kommandanten melden, dass nicht abgeschlossen gewesen war, so was war nachlässig und durfte sich nicht wiederholen. Dahinten an der Wand stand der zwei Meter hohe Schellenbaum, in einem kühlen Silberton leuchtete er im Licht der Glühlampen. Perfekt poliert war das Metall. Ein goldener Adler breitete schützend die Flügel über die gelb-schwarze Schellenbaumfahne mit der Aufschrift »Bürgerwache Crailsheim« und dem Wappen der Stadt aus. Vier goldene Adlerköpfe waren an den Enden der beiden metallenen Schwingen befestigt, an denen die Glöckchen und silbernen sechszackigen Sterne befestigt waren. In der Mitte prangte ein sonnenartiges Emblem, das von den Mitgliedern der Bürgerwache scherzhaft »Monstranz« genannt wurde. Und von den Schnäbeln der Adler hingen vier Rosshaarschweife in den Stadtfarben Gelb und Schwarz herunter. Tobias Baumann trat zu seinem Instrument. Er zog sich die Uniformjacke zurecht, entfernte ein Stäubchen auf seinem Revers und bewunderte kurz das Rosshaar. Sanft ließ er die feinen Haare durch seine Finger gleiten. Dann fasste er den Schellenbaum mit beiden Händen am Stab.

      Im selben Moment durchfuhr Starkstrom seinen Körper. Der Schellenbaumträger war außerstande, den Schellenbaum loszulassen, auch wenn das der einzige, verzweifelte Gedanke war, der sein Hirn durchzuckte, immer und immer wieder, erfolglos. Seine Muskeln waren verkrampft, er war nicht in der Lage, sich zu rühren. Stattdessen wurde sein Körper in unkontrollierten Zuckungen geschüttelt. Ihm war so heiß, so unglaublich heiß, er fürchtete, dass er kochte. Womöglich kochte er auch, sein Blut, sein Hirn siedete, ach was, konnte das sein? War das möglich? Er wollte schreien, aber es kam kein Laut über seine Lippen. Sein Blick wurde trüb. Die Augäpfel traten hervor, geweitet, entsetzt. Ein letztes Mal setzte er all seine Willenskraft ein, um das verdammte Ding loszulassen, vergeblich. Es war das Letzte, was er in seinem Leben in Angriff nahm. Sein Kreislauf kapitulierte, und sein Herz hörte von einer Sekunde auf die andere auf zu schlagen. Noch kurz verharrte sein Körper in aufrechter Haltung, dann fiel er zusammen mit dem Schellenbaum, der ihn getötet hatte, wie ein Brett nach hinten um, und das Klingeln der Glöckchen wäre ohrenbetäubend gewesen, wenn draußen nicht gerade der Musikzug die Himmelfahrts-Polka gespielt hätte.

      »Seid ihr komplett?«, fragte Christian in die Runde und ließ den Blick über den Spielmannszug schweifen. Gleich würde nach


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