Flucht durch Schwaben. Rafael Wagner

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Flucht durch Schwaben - Rafael Wagner


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ihr seid erschöpft und habt euch euren Schlaf redlich verdient. Doch muss ich euch noch um eine letzte Sache bitten. Den Menschen, die heute zu uns gestoßen sind, ist Schreckliches widerfahren. Gebt ihnen zu essen. Zeigt ihnen einen Platz zum Schlafen.«

      Währenddessen haben uns die Überlebenden, die in der Nähe des Tors erschöpft am Boden sitzen, aufmerksam beobachtet. Besonders der Blick einer kleinen Gestalt unter einem dicken Umhang erregt dabei meine Aufmerksamkeit. Müde nähern wir uns der Gruppe von Flüchtlingen, und ich erkenne unter der Kapuze das feine, blasse Gesicht eines Mädchens, kaum älter als ich. Ich weiß nicht, wie lange sie mich während der Ansprache des Centenars bereits beobachtet hat, doch in ihrem Blick liegt etwas angenehm Vertrautes. Kenne ich sie? Ihr scheint es ebenso zu gehen. Sie kann die Augen kaum von mir abwenden. Als die Gruppe unser Tor passierte, ist sie mir gar nicht aufgefallen. Sie mustert mich eingehend, wendet dann jedoch den Blick von mir ab, als sich einer meiner Wachkameraden ihrer annimmt und ihr den Weg in die Küche weist. Zwar verfügen wir über ausreichend Männer zur Bemannung der Festung, doch können wir jedwede Unterstützung gebrauchen, ob auf der Mauer oder in der Küche. Wir geleiten die Gruppe zur Feuerstelle und stillen dabei auch unseren Hunger. Meine Gedanken sind noch beim geheimnisvollen Mädchen. Gibt es so etwas wie Seelenverwandte? Vielleicht habe ich sie auch einfach so unangenehm lange angestarrt, dass sie irgendwann zurückblicken musste. Ich schüttle meinen Kopf frei von all diesen Überlegungen. Es sollten mich nun ganz andere Dinge kümmern. Gedankenverloren bin ich als Erster mit meinem Haferbrei fertig und eile zu den Stallungen, um mir einen guten Schlafplatz im Stroh zu suchen, möglichst nahe beim Vieh. Hier ist zwar nicht alles perfekt, doch bin ich lieber hier als draußen bei diesen schwertschwingenden Teufeln.

      Cap. II

      Bei Tag Schlaf zu finden, kann trotz langer Wachdienste schwerfallen. Besonders heute habe ich kaum ein Auge zugetan. Verträumt stehe ich vor den Stallungen. Übermüdet und dennoch angespannt verharre ich in Gedanken an die Ereignisse des Morgens. Steht der Feind noch vor unseren Toren? Und dieses Mädchen will mir einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen. Vermutlich erschien sie mir heute Morgen nur wegen der Situation so vertraut. Denn nicht selten werde ich von den älteren Wachen als »Marcus aus dem Albgau« bezeichnet. Niemand spricht diesen Zusatz mit Verachtung oder Groll aus. Es kann aber auch niemand mehr dazu äußern. Man sagte mir einmal, dass ich als kleines Kind an eine einflussreiche Familie am Bodamansee verkauft wurde. Was mit meinen Eltern passiert ist, weiß ich nicht. Habe ich Geschwister? Ich kann mich an nichts erinnern. Ich kenne bloß Arbona und einige nahe Siedlungen. Seit ich denken kann, stand ich hier in der Küche, in den Ställen und in der Rüstkammer; zumindest bis ich alt genug war, um bei der Ausbesserung des Wassergrabens zu helfen und schließlich für den Wachdienst auf den Mauern eingesetzt wurde.

      »Hey, du da, hörst du überhaupt zu? Hol dir was zu essen und mach dich dann zur nächsten Wache bereit!« Völlig überrascht blicke ich in das bärtige Gesicht eines älteren Kriegers. »Nun, was ist los?« Ich wage nicht zu widersprechen, schnalle mir meinen Sax, also mein einschneidiges Kurzschwert, um und marschiere los. Wie lange ich wohl in Gedanken dagestanden habe? »Falsche Richtung, Idiot!« Noch immer wage ich nicht, den Mund zu öffnen. Stattdessen schlage ich einen Bogen, um die Richtung zu ändern, so als ob dies von Anfang an beabsichtigt gewesen wäre. Vor mir erhebt sich eine stattliche Steinmauer, der ich folge, bis ich an eine offene Feuerstelle gelange, wo bereits einige Männer sitzen. Ich kenne jeden Winkel dieser Siedlung und seiner Festungsmauern, und doch haben mich die Ereignisse der letzten Stunden und Tage so aus der Bahn geworfen, dass ich mich beinahe verirrt hätte.

      »Nimm dir eine Schale, unsere neueste Errungenschaft bringt dir gleich was zu essen«, grinst mich einer meiner Wachgefährten an. Jemand berührt meine Schulter, und ich zucke, wie vom Blitz getroffen, zusammen, drehe mich um und blicke in das Gesicht des Mädchens von heute Morgen. Ihr Gesicht erstrahlt frisch gewaschen, und ihr dunkles Haar ist zu festen Zöpfen zusammengebunden. Wunderschön. Es gelingt mir nicht, auch nur ein Wort mit ihr zu wechseln. Stattdessen schließe ich mich bald darauf meinen Kameraden für den Dienst auf den Mauern an.

      Als wären meine Gedanken der Schlaflosigkeit von heute Nachmittag erhört worden, nähert sich schon nach zwei Stunden der Centenar: »Deine Wache endet heute früher, der Tribun sucht nach Männern.« Ich weiß, was das heißt. Bestimmt wieder ein Auftrag mit ungewissem Ausgang. Und dabei möchte er keinen seiner erfahrenen Krieger einsetzen. Vielmehr nutzt er den jugendlichen Ehrgeiz der Jüngeren und die Schuldgefühle der unerwünschten Neuankömmlinge. Das war’s wohl mit dem zusätzlichen Schlaf. Ich werfe einen letzten Blick in die Nacht hinaus. Der Nebel ist bereits am späten Nachmittag verschwunden und hat uns die Sicht auf ein nicht sehr weit entferntes Lager eröffnet. Seit meinem Wachantritt am frühen Abend habe ich immer wieder kleine Schwadronen zum Lager reiten sehen, beladen mit reicher Beute. Der Feind will uns wohl verhöhnen oder aber zu einer dummen Handlung verführen, indem er sich vor unseren Augen häuslich einrichtet und uns dabei zusehen lässt, wie unsere heimatliche Umgebung geplündert wird. Ich folge dem Centenar hinunter in den Hof, wo bereits drei andere Männer warten. »Holt euch was zu essen und wartet am Feuer bei der Küche, der Tribun persönlich wird euch instruieren.« Was für eine Ehre, hätte ich am liebsten geantwortet, doch möchte ich mir keinen zusätzlichen Ärger einhandeln.

      Als wir uns der Feuerstelle nähern, erkenne ich schon von weitem die schlanke Gestalt des Mädchens von heute Morgen. Allzu viele Pausen werden ihr offenbar auch nicht gegönnt. Ihr Leinengewand ist um die Hüften durch eine einfache Hanfschnur tailliert. Woher sie wohl kommt? Sie schenkt mir ein kleines Lächeln, das ich jedoch nicht zu erwidern wage. Ich möchte nicht das Gesicht vor den anderen verlieren, und in der Dunkelheit hätte man es vielleicht ohnehin nicht gesehen. Von meiner Reaktion enttäuscht, füllt sie erst die Schalen der anderen, dann die meine auf.

      »Tribun!«

      Wir erheben uns alle, doch der Tribun weist uns per Handzeichen auf unsere Plätze zurück und kommt ohne Umschweife zum Punkt: »Noch halten wir sie uns vom Leib. Und ich weiß, dass wir das auch weiterhin können. Doch dafür brauchen wir zwei Dinge: Vorräte und Informationen. Der Landweg ist versperrt, doch können wir uns immer noch über den See bewegen. Steigt heute Nacht hinab zum Ufer und bereitet ein Boot vor. Bei der ersten Dämmerung brecht ihr auf über den See nach Wazzarburg. Obwohl unsere Feinde jenen Ort vor uns erreicht haben, konnten wir bisher weder Rauch noch Flüchtlinge ausmachen. Der Abt des Gallusklosters scheint seine Leute dort gut ausgestattet zu haben. Findet heraus, was im nördlichen Teil Alemanniens vor sich geht und ob schon bald Hilfe naht. Und bringt ja Vorräte mit.«

      Der Tribun möchte sich gerade umdrehen, da beginnt einer meiner Kameraden: »Wird uns denn nicht unser Herzog zu Hilfe eilen?«

      Der Tribun spuckt verächtlich aus und fügt hinzu: »Unser selbst ernannter Landesherr führt noch immer seinen nutzlosen Krieg in Italia. Selbst wenn ihn Kunde von unserem Schicksal ereilt, wird er es unmöglich rechtzeitig hierher schaffen. Viel Glück euch allen.« Er dreht sich um und stapft davon.

      Natürlich hatte er recht. Das Gros der kampffähigen Männer aus allen Teilen der Alemannia hatte vor vielen Tagen und Wochen dem Herzog Heeresfolge geleistet. Im Bestreben, seinen Einflussbereich weiter nach Süden zu vergrößern, war dieser zusammen mit seinem burgundischen Schwiegersohn nach Italia gezogen. Kaum waren die meisten Verbände in Richtung Alpes abgezogen, ereilten uns die ersten unheimlichen Nachrichten von Sichtungen fremdartiger Reiter. Ausgerechnet in der größten Not bleibt die lokale Bevölkerung ihrem eigenen Schicksal überlassen. Ohne Krieger und ohne Festungen. Einzige Ausnahmen bleiben jene Befestigungen, die noch aus alter Zeit stammen, wie eben unser Arbona.

      »Was, wenn wir stattdessen nach Constantia segeln?«

      »Viel zu weit weg.«

      Ich erwache aus meinen Gedanken und lausche der neu entbrannten Diskussion unter meinen Gefährten.

      »Außerdem ist es ein direkter Befehl des Tribuns. Und der Bischof wird uns ohnehin nicht helfen. Seit er die noch verbliebenen Krieger zu sich gerufen hat, soll er sich hinter seinen Mauern verstecken.«

      »Also wie ihr?«, höre ich aus der anderen Ecke eine sanfte, jedoch zugleich beherzte Stimme antworten. Das Mädchen hatte uns offenbar die ganze Zeit belauscht.


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