Flucht durch Schwaben. Rafael Wagner

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Flucht durch Schwaben - Rafael Wagner


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Vorräte weg«, gibt Strello, einer der Gefährten unserer Mission, wutentbrannt zurück.

      »Was ist aus unserer christlichen Nächstenliebe geworden«, schalte ich mich dazwischen, »wenn wir nicht einmal mehr unseren Nachbarn helfen? Diesem Feind müssen wir alle geschlossen entgegentreten. Und wir alle leisten unseren Teil auf eine andere Art und Weise.«

      Statt Dankbarkeit erhalte ich seitens des Mädchens jedoch nur ein schnippisches Schnauben: »Ach, du meinst, ich könne also glücklich sein, in der Küche untergekommen zu sein?« Nun lachen die anderen und machen sich auf etwas Unterhaltung gefasst. »Ich weiß durchaus, ein Schwert zu führen«, setzt sie zum zweiten Stoß an, »und wenn ihr’s wissen wollt, Wazzarburg ist bei Weitem nicht so gut ausgestattet, wie ihr alle zu wissen glaubt. Ich wollte erst dort Schutz suchen, doch wurde ich von den Mönchen abgewiesen. Entweder, sie leiden bereits seit Tagen Hunger, oder sie zeigen ebenso wenig Nächstenliebe wie ihr.« Das Mädchen wirft nun Strello einen strengen Blick zu und fährt fort: »Der Abt des Gallusklosters hat in seiner unendlichen Weisheit alle wehrlosen Greise und Knaben nach Wazzarburg geschickt, während er seine wertlosen Bücher bei den Mönchen in Augia in Sicherheit gebracht hat. Auf jener großen Insel hätten sowohl mehr Menschen als auch mehr Vorräte Platz gefunden.«

      »Woher weißt du das alles?«, möchte ich von ihr wissen.

      Sie zieht ihre Augenbrauen hoch und will gerade zu einer Antwort ansetzen, als sie von meinem Nebenmann Sindolt unterbrochen wird: »Wie eine Spionin sieht sie jedenfalls nicht aus.«

      Verärgert will sie sich von unserer Gruppe wegdrehen, wird jedoch sogleich von Strello am Arm zurückgezogen: »Nein, im Ernst, warum sollten wir dir vertrauen? Woher weißt du das alles? Wir kennen nicht einmal deinen Namen.«

      Widerwillig beginnt sie zu sprechen: »Man nennt mich Anna. Bis vor wenigen Tagen war ich noch als Magd des Praeses Wolfbert in Puachhorn tätig. Da konnte ich so manche Unterhaltung der Dienstboten des Gallusklosters belauschen. Vor Wochen ist mein Herr jedoch dem Ruf unseres Herzogs Burchard gefolgt. So musste ich auf eigene Faust fliehen, als sich die Schreckensnachrichten von fremden Reiterhorden verdichteten und aus der Ferne bereits die ersten Rauchsäulen zu sehen waren.«

      »Sie sollte uns bei Sonnenaufgang begleiten«, meldet sich nun erstmals Milo, der älteste von uns vieren zu Wort. »Das Mädchen kennt sich am nördlichen Ufer besser aus als wir, und als ehemalige Magd des Wolfbert dürfte sie dem einen oder anderen Wortführer bekannt sein.«

      »Ist das nicht zu riskant für sie?«, werfe ich ein.

      »Gefährlicher als hier?«, entgegnet Anna.

      Innerlich muss ich ihr recht geben. Zudem möchte ich ihre Nähe nicht mehr missen.

      »Also ist es beschlossen«, folgert Milo. »Wir fünf brechen beim ersten Anzeichen der Dämmerung auf. Sindolt, Strello, bringt einige Vorräte hinunter zum Boot. Ich melde dem Centenar unsere neue Ausgangslage und folge euch nach.« Er wendet sich an uns: »Wir sehen uns gleich außerhalb der Mauern, seid bloß leise.«

      Während die drei sich entfernen, bleiben Anna und ich zurück und schweigen noch kurze Zeit das Feuer an. »Hat dich dein Weg schon früher einmal nach Arbona geführt?«, setze ich schließlich zum Gespräch an.

      »Ich glaube nicht«, flüstert Anna sehr knapp und in Gedanken versunken vor sich hin.

      Um die peinliche Stille zu durchbrechen, nicke ich ihr zu und tue so, als müsste ich mir noch meine Sachen aus den Stallungen holen. Trotz meines kleinen Umwegs laufen wir uns jedoch kurze Zeit später wieder über den Weg. Mit einem kurzen Seitenblick auf meine bescheidene Ausrüstung, der ich offensichtlich nichts hinzugefügt habe, machen wir uns schweigend auf zur Mauer. Wir erreichen das plätschernde Ufer über eine kleine verbarrikadierte Öffnung in einem zusammengefallenen Halbrundturm an der nördlichen Festungsmauer. Dort warten bereits unsere Gefährten ungeduldig auf die Morgendämmerung. Wir hatten schon seit Längerem nichts mehr von den anderen Siedlungen am Bodamansee gehört. So waren viele der hiesigen Wachmannschaft über den Verbleib von Freunden und Verwandten im Unklaren. Und viele schlossen aus den täglich näherkommenden Rauchsäulen am Horizont schon länger auf das eigene Schicksal. Doch wir werden uns nicht kampflos ergeben. Wir nehmen es selbst in die Hand.

      »Marcus und Strello, ihr übernehmt die Ruder. Machen wir uns bereit zum Aufbruch.« Milo verstaut die Vorräte im hinteren Teil des Bootes und heißt uns, über die Bordwand zu steigen.

      Am Horizont erscheint ein dünner Streifen Licht. Milo stößt uns vom Ufer ab, und unser Boot gleitet in den endlos wirkenden See hinaus, während Strello und ich unsere Ruder im Einklang durchs schwarze Wasser ziehen. Wir entdecken am Ufer jenseits des Wassergrabens zahlreiche Lagerfeuer und können davor die Schatten vereinzelter Krieger wahrnehmen. Die Fackeln von Arbona werden hinter uns immer kleiner. Milo steht am Bug und versucht angestrengt, in der Dunkelheit potenzielle Gefahren auszumachen. Sindolt summt leise ein Lied in die kühle Morgenluft hinaus; so als wollte er den See günstig stimmen. Und das Gewässer ist uns diesen Morgen tatsächlich geneigt. Eine leichte Brise kommt auf, und wenige Momente später befiehlt Milo schon das Aufziehen des kleinen Segels. Wir legen die Ruder zu unseren Füssen nieder und überlassen dem Wind die Arbeit.

      Das Morgenlicht reicht nun aus, um die Hügelkette am gegenüberliegenden Ufer zu erkennen, als Milo zu erzählen beginnt: »Ich war in deinem Alter, Marcus, als ich das erste Mal im Auftrag meines Herrn den See überquert habe. Wir fanden uns damals in Steinaun ein, nicht weit von Arbona entfernt. Obwohl erst seit Kurzem schwurberechtigt, war mir die Ehre zuteil geworden, als einer von über einem Dutzend Männern an der Seite des großen Grafen Burchard eine feierliche Landschenkung mit zu bezeugen. Ich werde den Tag nie vergessen.«

      »Ihr meint doch nicht etwa dieses diebische Stück Scheiße?«, fährt ihm Strello dazwischen.

      »Ich spreche von seinem Vater. Niemand hätte gedacht, dass sein Sohn diesen Weg einschlagen würde.«

      »Während der Rebellion, auf wessen Seite standet Ihr damals?«, unterbricht ihn Strello ein zweites Mal.

      »Es gab keine Seiten, kein Richtig oder Falsch«, gibt Milo verärgert zurück. »Man hatte den älteren Burchard beschuldigt, er wolle die alte Herzogswürde erlangen. Als hätte er dies nötig gehabt. Salomo, der machthungrige Bischof von Konstanz, schaffte es, geschickt gegen Burchards Familie zu intrigieren. Als Abt des Gallusklosters und Erzkanzler träufelte er mit seiner spitzen Zunge stetig Gift in des Königs Ohr. Am Ende fiel der ältere Burchard einem Mordanschlag zum Opfer, und beinahe seine ganze Sippe wurde gejagt und getötet. Einzig sein gleichnamiger Sohn konnte nach Italia fliehen. Unsere Hoffnung ruhte ausnahmslos auf ihm. Niemand hätte erwartet, dass seine von uns so ersehnte Rückkehr einen derartigen Bruderkrieg auslösen würde. Und auch wenn man es ihm nicht verübeln kann, nach allem was seiner Familie widerfahren ist, so hätte ich doch nicht mit einem solch rigorosen Handeln durch den jüngeren Burchard gerechnet. Nach seinen militärischen Siegen über Salomo und den König wurde das, was selbst für ihn undenkbar schien, schließlich Wirklichkeit. Noch auf dem Schlachtfeld erhob ihn die alemannische Kriegerelite zu ihrem Herzog. Seither haben sich die Machtverhältnisse drastisch verändert. Sein Vater hätte den Ungrern ein geeintes alemannisches Heer entgegengeworfen. Er hätte sich niemals mit den verräterischen Burgundern verbündet. Und«, Milo seufzt, »sein Vater hätte die Alemannia nie in solcher Not im Stich gelassen. Es gibt niemanden mehr, der genügend Mut aufbringt, sich diesen Horden entgegenzustellen. Denn selbst jene, die das könnten, verstecken sich lieber hinter ihren Mauern.« Und als würde Milo erneut eine Entgegnung von Anna erwarten, fügt er hinzu: »Wir sind einfach zu wenige.«

      Die Sonne steht bereits hoch am Himmel, als das nördliche Ufer des Sees in unmittelbare Nähe rückt. »Nun müssen wir dem Ufer in östlicher Richtung folgen. So können wir Wazzarburg nicht verfehlen.« Wir lassen unsere Blicke nach Osten schweifen und sehen dort in der Ferne eine dichte schwarze Rauchwolke aufsteigen. Wazzarburg ist gefallen.

      Cap. III

      Donnerstag, 27. April 926

      »Legt euch in die Riemen! Wir steuern direkt drauf zu«, ruft uns Milo zu. Wir nähern uns den


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