Weltgeschichte als Stiftungsgeschichte. Michael Borgolte
Читать онлайн книгу.der römischen Liturgie haben auch vorausgesetzt, dass die Heiligen, die Engel oder Christus selbst den Verstorbenen zu Hilfe kommen und die Seelen in den Schoß Abrahams geleiten können, damit diese dort mit Lazarus ihre vorläufige Ruhe finden.
Christliche Jenseitsvorstellungen als religiöser Horizont der ‚Stiftungen für das Seelenheil‘ lassen sich nur mit Mühe ordnen. Zu Recht hat man diesbezüglich im Hinblick auf das lateinische Mittelalter davon gesprochen, eigentümlich sei ihr Reichtum mit ihrer Präzision im Detail bei mangelnder Folgerichtigkeit im System.203 Die Gründe dafür lagen schon in der christlichen Bibel selbst. Die Evangelisten Matthäus und Johannes zeichnen etwa ein ganz unterschiedliches Bild vom Weltgericht am Ende aller Zeiten. Nach Matthäus müssen sich alle Menschen vor dem Gericht verantworten. Wenn der Menschensohn komme in Begleitung aller Engel, werde er, auf dem Thron seiner Herrlichkeit sitzend, alle Völker wie der Hirt die Schafe von den Böcken scheiden. Die Schafe werde er zu seiner Rechten stellen, die Böcke zu seiner Linken. Die auf seiner Rechten werde er auffordern, als Gesegnete seines Vaters das Reich in Besitz zu nehmen, das ihnen schon seit Anfang der Welt bereitet sei. Die links von ihm stehen, werden hingegen als Verfluchte in das ewige Feuer geschickt (Mt 25, 31–46). Nach dieser Eschatologie gab es nur Gute und Böse, die im Weltgericht zum Himmel oder zur ewigen Hölle verurteilt werden. Für den Evangelisten Johannes konnten hingegen die Guten dem Weltgericht entgehen: „Wahrlich, wahrlich, sage ich euch: Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen (…). Wundert euch darüber nicht. Es kommt die Stunde, in der alle, die in den Gräbern sind, seine Stimme [die Stimme des Sohnes Gottes] hören werden, und es werden hervorgehen, die Gutes getan haben, zur Auferstehung des Lebens, die aber Böses getan haben, zur Auferstehung des Gerichts“ (Joh 5, 24 und 28f.).204 Diese Botschaft wird so gedeutet, dass es neben den ohne Gericht in den Himmel gelangenden Guten noch Halbgute gebe, die sich zusammen mit den Schlechten dem höchsten Richter stellen müssten und so eine zweite Chance auf die Seligkeit erhielten. Die Unterscheidung weiter entfaltet hat der heilige Augustinus (gest. 430); der Kirchenvater aus Afrika stellte sich vor, dass die „sehr Guten“ und die „sehr Bösen“ sofort nach ihrem Tod in den Himmel oder in die Hölle eingingen und Gericht nur über die „nicht sehr Guten“ und „nicht sehr Schlechten“ gehalten werde.205 Nach einer anderen christlichen Überlieferung soll Jesus selbst in die Hölle hinabgestiegen sein, die Tore geöffnet und Vorväter des Alten Testaments befreit und ins Paradies geführt haben. Das hier angesprochene Totenreich ähnelt eher der Unterwelt im antiken Sinn; nach Mt 12, 40 sei Jesus ins Innere der Erde vorgestoßen und dort drei Tage und drei Nächte geblieben, so lange wie Jonas im Bauch des Meerungetüms.206
Christlicher Norm gemäß konnte der Gläubige auf zweierlei Weise zum Seelenheil gelangen: durch die Barmherzigkeit Gottes oder durch eigene Leistung. Jesus selbst hat gelehrt, dass der Mensch bei Gott kein Verdienst erwerben kann; er stellte Gott eher als Vater denn als Richter vor, der seinen verloren geglaubten Sohn ohne Vorwurf und sogar in Liebe wieder aufnimmt und Schuld ohne Gegengabe erlässt.207 Allerdings hat Jesus das uralte, allgemeinreligiöse Vergeltungsprinzip nicht ganz aufgegeben; seine Jünger lehrte er zu beten: „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern“ (Mt 6, 12).208 Die Vorstellung vom vergeltenden Ausgleich drang bald wieder in den Vordergrund und bestimmte auch das christliche Denken über Himmel und Hölle.209 Gott wurde geradezu zum Schuldner gemacht, der menschliche Leistungen zu begleichen habe. Entsprechendes galt für den Sünder. Der im Mittelalter hoch angesehene Papst Gregor der Große (gest. 604) verkündete in seiner Auslegung des Buches Hiob, die Sünde könne für den Sünder nicht ohne Vergeltung bleiben.210 Widersprüchlich hatte sich der Apostel Paulus vernehmen lassen. Einerseits verkündete er die Rechtfertigung allein aus dem Glauben (Röm 3, 28), andererseits betonte er die Vergeltung je nach den Taten des Menschen: „Du aber, mit deinem verstockten und unbußfertigen Herzen, häufst dir selbst Zorn an für den Tag des Zorns und der Offenbarung des gerechten Gerichtes Gottes, der einem jeden geben wird nach seinen Werken: ewiges Leben denen, die in aller Geduld mit guten Werken trachten nach Herrlichkeit, Ehre und unvergänglichem Leben; Zorn und Grimm aber denen, die streitsüchtig sind und der Wahrheit nicht gehorchen, gehorchen aber der Ungerechtigkeit; Trübsal und Angst über alle Seelen der Menschen, die das Böse tun (…)“ (Röm 2, 5–8).211 Paulus erwartete die Wiederkunft des Menschensohnes in Begleitung der Engel; dann aber müssten sich alle vor Christi Richterstuhl offenbaren und einem jeden werde Gutes oder Böses zuteil, je nach seinem Handeln im Leben (2. Kor 5, 10).
Als Leistungen zur Buße der eigenen Sünden, die der Seele im Gericht Gottes zur Hilfe kommen konnten, galten zuerst das Martyrium und dann der asketische Verzicht. Der Kirchenschriftsteller Johannes Cassianus (gest. 432/435) stellte bereits einen Katalog der Werke zur Tilgung der eigenen Vergehen auf. An erster Stelle stand demnach die Liebe, es folgten das Almosengeben, das Tränenvergießen, das Sündenbekenntnis, die Züchtigung von Herz und Leib, das Verdienst der Barmherzigkeit und des Glaubens, die Bekehrung anderer sowie Verzeihung und Vergebung.212 In Variation stößt man auf diese Sühneleistungen im christlichen Schrifttum des Mittelalters immer wieder, ihren Kern bildet die schon biblische und patristische Trias von Gebet, Fasten und Almosengeben. Da ihre Lebensumstände Laien an zeitaufwendigen Gebeten hinderten, sahen sie sich vor allem auf die beiden anderen Bußleistungen verwiesen. Im Alten wie im Neuen Testament waren Spendern von Almosen die Sündenvergebung und das Himmelreich verheißen.213 Allerdings konnte Almosen nur aufbringen, wer seinen Lebensunterhalt gesichert wusste. Für die große Mehrzahl der Gläubigen kam deshalb nur das Fasten als Bußleistung in Betracht.
Für das christliche Stiftungswesen bedeutsam wurde der Gedanke, das Seelenheil anderer Menschen mit Gebeten und guten Werken fördern zu können; diese Lehre entwickelte sich schon in der Frühzeit der Gemeinden. Grundlegend war dafür der Märtyrerkult und hier insbesondere die alttestamentliche Geschichte des jüdischen Aufstandes unter Judas Makkabaeus gegen den Seleukidenkönig Antiochos IV. (168/165 v. u. Z.). Judas habe für das Seelenheil der Gefallenen gesorgt, berichtet das 2. Makkabäerbuch.214 Neben Gebet und Almosen wurde die Messfeier als Opfer für die Läuterung der Verstorbenen aufgefasst.215 Der Kirchenvater Augustin unterschied die Funktion der guten Gaben differenziert nach der Qualität der Verstorbenen. Die Opfer des Altares und das Almosen wirkten sich unter den Verstorbenen für die sehr Guten (valde boni) als Danksagung aus, den nicht ganz Schlechten (non valde mali) kämen sie als Sühne zugute; bei den ganz schlechten Toten (valde mali) taugten sie zwar nicht als Hilfe, wohl aber als Trost für die Lebenden. Denen aber, welchen sie nutzten, brächten sie volle Verzeihung oder mindestens eine leichtere Art der Verdammung.216 Wegweisend wurde Gregors Lehre vom Reinigungsfeuer nach dem Tode, zumal der Papst dies in einer anschaulichen Erzählung zu präsentieren verstand; danach waren sowohl die Werke der Verstorbenen selbst als auch die Gebetshilfe der Nachlebenden nützlich. Gregor berichtet von einem Diakon, der wegen unbewusster, also weniger gravierender Sünden im Läuterungsfeuer zu büßen hatte, von dort aber erlöst worden war, weil er früher Almosen gespendet hatte.217 Zusätzlich habe ihm aber das Gebet eines heiligen Mannes geholfen. Besonders wirkungsvoll seien Messopfer, die die Hinterbliebenen für ihn darbrachten. Einmal, so erzählt der Papst weiter, sei eine Seele schon nach acht Tagen, während derer man Gebete verrichtet und Messen gefeiert habe, aus den Qualen des Läuterungsfeuers freigekommen. In einem anderen Fall seien dazu Messopfer an dreißig aufeinanderfolgenden Tagen nötig gewesen, ein dritter betraf eine Witwe, die ein ganzes Jahr hindurch Tag für Tag Gaben für die Eucharistie aufgebracht hatte.
Ebenso nachhaltig wie Gregor der Große wirkte der northumbrische Gelehrte und Geschichtsschreiber Beda Venerabilis (gest. 735) auf die lateineuropäischen Vorstellungen vom Jenseits und von den menschlichen Interventionsmöglichkeiten ein. Beda erzählt die Geschichte von Dryhthelm, eines frommen Familienvaters aus der Gegend von Cunningham, der an einer schweren Krankheit gestorben war.218 Dryhthelm sei aber ins Leben zurückgekehrt und habe zunächst sein Erbe aufgeteilt; ein Drittel habe seine Ehefrau erhalten, ein zweites Drittel sei an seine Söhne gegangen, das dritte habe er „für sich selbst“ reserviert, und zwar, indem es unmittelbar (zu seinem Seelenheil) unter die Armen verteilt wurde. Kurz darauf sei er ins Kloster Melrose eingetreten, wo er das Leben eines Einsiedlers führte. Hier erzählte er ausführlich von seinen Erlebnissen im Jenseits, vor allem von der Pein der Seelen im Läuterungsfeuer und dem Aufenthalt