Herbarium, giftgrün. Gert Ueding
Читать онлайн книгу.»Sie kennen mich doch gar nicht. Das Zeitungsphoto …«
Sie macht eine verächtliche Handbewegung, schweigt eine Zeitlang. Kersting wartet, ohne die Stille im Zimmer zu unterbrechen. Instinktiv weiß er, dass er nur etwas verderben kann, wenn er jetzt weiterspricht. Auch genießt er den Augenblick. Durch das geöffnete Fenster dringt etwas Verkehrslärm, aus der Ferne Geräusche von einer Baustelle. Schräg fallen Sonnenstrahlen auf die dunklen Bohlen des Fußbodens, gerade neben die Sessel und den Tisch an dem sie sitzen und rahmen das Bild ein.
Bevor Kersting sich mit weiteren Details des Zimmers vertraut machen konnte, war Jana offenbar mit sich ins Reine gekommen.
»Wir machen’s einfach so, dass wir von dem ausgehen, was Sie ursprünglich wollten, nämlich mehr über Verena zu erfahren. Das will ich auch, ich weiß ja gar nicht viel. Und was mit ihr passiert ist, wie das geschehen konnte, warum sie so anders wurde in der letzten Zeit vor ihrem Tod, das habe ich mich oft gefragt. Was halten Sie von der Idee: wir verbünden uns und dann können wir uns das mit dem Porträt später überlegen.«
Jana klang entschieden und vernünftig, so dass Kersting zustimmte, auch wenn er am liebsten gleich zu zeichnen begonnen hätte.
»Übrigens«, fügte sie lächelnd hinzu, »meinen Namen, den Sie so unpassend finden, habe ich von meinem Vater, der aus Lyon stammt. Meine Mutter ist Schwedin. Beide leben schon sehr lange in München. Ich sehe sie nicht oft.«
»Die Entfernung …« Bevor er seine Plattitüde zu Ende brachte, hörte man ein kräftiges Klopfen an der Wohnungstür.
»Das wird Lena sein, die mich zum Reiten abholt.«
»Klar, ich bin in Ihr Tagesprogramm so einfach reingeplatzt.« Kersting entschuldigte sich etwas verlegen, während sie aufstand und in Richtung Tür laut »Ich komme« rief.
»Wann hätten Sie etwas Zeit für unser … Unternehmen?«
Sie verabredeten sich auf 16 Uhr im Café Ludwigs. Beim Hinausgehen grüßte Kersting die eintretende Lena flüchtig. Er nahm sie kaum wahr, eine junge Frau, doch etwas älter als Jana und von kräftiger Statur. Später sollte er sie als liebenswürdige, sehr praktisch veranlagte Person kennenlernen, die für Jana so etwas wie die ältere Schwester war.
Als Kersting auf der Straße stand, war er ratlos, wie er die Zeit bis zum Nachmittag nutzen sollte. Weiter am Problembild Neckarfront arbeiten? Unsinn, zwei, drei Stunden waren nichts vor der Staffelei. Am liebsten hätte er sich hingesetzt und das schöne Mädchen aus der Erinnerung wenigstens skizziert. Fast eine Stunde hatten sie zusammengesessen. Ihre etwas spröde Stimme klang noch in seinem Ohr nach, und er war ehrlich genug sich einzugestehen, dass nicht nur das Auge des Malers so entzückt von ihrem Anblick war, das Auge des Mannes mischte sich ununterscheidbar mit hinein. Eines Mannes auch, dem die Frau fehlte, der sich in Arbeit vergraben hatte und nur gelegentlich mit seinen Freunden mal frühstückte oder abends ein Glas Bier oder Rotwein mit ihnen trank.
Er war in Richtung Schimpfeck gegangen und stand jetzt vor dem großen Schreibwarengeschäft, in dem er gelegentlich seine Stifte und Zeichenblöcke kaufte. Warum nicht doch eine Skizze versuchen, jetzt, mit dem frischen Eindruck im Kopf. Hier konnte er sich schnell holen, was er brauchte: einen Skizzenblock, ein paar Kohlestifte. Vor dem Regal, auf das er gleich zusteuerte, standen zwei junge Männer, Studenten wohl, doch bekam er gleich unfreiwillig mit, dass sie als Hiwis, als wissenschaftliche Hilfskräfte, in einem medizinischen Projekt arbeiteten. Daher das Jackett zu den Jeans, schloss Kersting prompt; in den Fakultäten, die er näher kannte, ging es schlampiger zu. Einen Kinnbart hatte sich der eine immerhin geleistet, wohlgepflegt, versteht sich. Unter dem Jackett trug er ein schwarzes Hemd, das dunkelbraune Haar fiel ihm über die Stirn. Den zweiten beachtete er erst, als er ihn sprechen hörte. Mit etwas quäkender Stimme verkündete der gerade: »Das habe ich alles selbst nachgeprüft, sollte ja das Publikationsverzeichnis von Zimmer zusammenstellen. Die Hälfte drauf, die kannst du vergessen.«
Die Gestalt passte zur Stimme, höchstens einssiebzig groß, dünn und eifrig gestikulierend, ein Gesicht wie eine Lazaruskarikatur.
»So viel?«
»Na, vielleicht die knappe Hälfte. Waren auch nicht alle gänzlich gefakt. Einige echte Titel gab es, aber das waren zum Beispiel kurze Notizen, die in irgendeiner Zeitschrift über geplante Vorhaben berichteten, manchmal nicht mehr als zehn Zeilen! Aber das Tollste ist ein nichtssagender Geburtstagsartikel für die Sommer, habe ich mir extra besorgt, darin lobt er deren Grundlagenforschung über den grünen Klee. Obwohl jeder weiß, dass von der seit ihrer Habilitation vor zehn Jahren nichts, aber auch gar nichts Neues mehr gekommen ist.«
Kersting hörte interessiert zu, was der Kleinere von den beiden halb empört, halb wissend-zynisch aus den Hinterzimmern der Universität zu berichten hatte.
»Und der Geburtstagsartikel flog nicht gleich am Titel auf?«
»Ach wo, klang wie ein Forschungsthema. Und dass der die Lobhudelei nur geschrieben hat, weil die beiden miteinander pennen, weiß bei der DFG ja niemand. Hauptsache das Geld kommt.«
Kersting trat nun entschlossen auf das Regal mit den Stiften zu, die beiden hoffnungsvollen Jungwissenschaftler, die offenbar auf ihre spätere Karriere in ihrer jetzigen Anstellung gut vorbereitet wurden, verstummten und traten zur Seite. Das zufällig mitgehörte Gespräch erinnerte Kersting an den Wutausbruch Karlsdorfs vom gestrigen Abend.
Er war nach seinem Einkauf ein paar Schritte in den alten Botanischen Garten gegangen und hatte sich auf eine der wegen der Semesterferien leeren Bänke gesetzt. Dass Wissenschaft und Moral allenfalls flüchtig zusammentrafen, wenn sich das für die Beteiligten als nützlich erwies, war ihm nichts Neues. Die Skandale um gefälschte Promotionen und Habilitationen, um veruntreute Forschungsgelder und Titelhandel bewegten immer mal wieder die Feuilletons oder die Blogs im Netz.
Er versuchte sich an der ersten Skizze von Janas Porträt, war unzufrieden, wechselte die Perspektive auf ihre Gestalt im Sessel, auch das befriedigte ihn wenig, er gab auf.
Einige Spaziergänger flanierten an ihm vorbei. Gesprächsfetzen bekam er mit, auch englische und französische Brocken. Ein paar Studenten hatten es brandeilig, aus Gewohnheit oder weil sie in die Mensa zum Essen wollten. Der Gedanke hatte Wirkung, er verspürte nun selber Hunger, stand auf, um beim Italiener nahe der Stiftskirche seine Lieblingspasta, Spaghetti mit frischen, nur kurz erhitzten Tomaten, zu bestellen. Auch würde darüber die Zeit bis zu der Verabredung mit Jana schneller vorüber gehen.
Man begrüßte ihn wie einen Stammgast, der er gar nicht war, hin und wieder nur aß er mal eine Kleinigkeit hier. »Dottore, ganz frische Meeresfrüchte heute. Oder venezianisches Lamm …« Kersting winkte ab. Auch auf Wein verzichtete er lieber, der Nachmittag konnte anstrengend werden.
Das Lokal war gut besucht, wenige Plätze frei, trotz der Semesterferien. An einigen Tischen saßen offenbar Eltern mit ihren Söhnen oder Töchtern, auch deren Freunde schienen hier und da mitgekommen zu sein, was die Stimmung etwas förmlicher machte. Immerhin ging es an zwei Tischen hoch her. Gleich neben sich hörte er, wie ein Wuschelkopf, den er im ersten Augenblick einer Studentin zugeschrieben hatte, beredt seinen Entschluss verteidigte, eine Klausur, die jetzt schon fällig gewesen wäre, erst im nächsten Semester nachzuschreiben. An einem anderen Nebentisch diskutierte man die Entscheidung eines Dekanats, die Abschlussklausuren für alle ein zweites Mal schreiben zu lassen. Beim ersten Versuch hatte die Hälfte der Kandidaten den Raum verlassen, kaum dass die Aufgaben verteilt waren. Eigentlich galt das als durchgefallen. Alle waren in kurzen Abständen bei einem der hiesigen und einschlägig in Studentenkreisen bekannten Ärzte aufgetaucht, hatten über unerträgliche Migräne, Brechdurchfall, Panikattacken geklagt und waren mit einem Attest befriedigt abgezogen. Obwohl dieser medizinische Retter in höchster Not seine Hilfsbereitschaft schon häufiger unter Beweis gestellt hatte, sorgte die schiere Anzahl der Atteste diesmal für Ärger.
»Die Uni will jetzt sogar die alten Atteste von Dr. Jäger überprüfen«, beklagte sich ein hochgeschossener magerer Jüngling.
»Bist du denn auch mal bei dem gewesen?« erkundigte sich die Mutter. »Ich glaub ein Mal. Ist aber schon