Vollzug. Hansjörg Anderegg

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Vollzug - Hansjörg Anderegg


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Sie sah ihm ins Gesicht und hätte schwören mögen, ihm schwirrten die gleichen Gedanken durch den Kopf.

      Er räusperte sich. »Chris?«

      »Hmm?«

      »Willst du meine Frau werden?«

      Der Schock katapultierte sie aus seiner Umarmung. Ein Fuß stieß an die Bootswand. Sie verlor das Gleichgewicht und fiel rücklings mit Strandkleid und Sonnenhut ins Wasser, bevor Jamie seine Hand ausstrecken konnte. Mit einem Schreckensruf sprang er ihr nach. Sie strampelten im Wasser, eng umschlungen wie zwei Kröten im Frühling, bis sie am Boot Halt fand.

      »Entschuldige«, keuchte er. »Das war dumm von mir, dich so zu überfallen. Eine altmodisch romantische Vorstellung – ich meine – wir sind doch sowieso zusammen – was würde sich überhaupt ändern …«

      Sie legte ihm einen Finger auf die Lippen, dann kletterte sie ins Boot, schwerelos wie die Möwe in der lauen Brise. Er blieb wie ein Stoßdämpfer an der Hülle hängen, warf ihr dabei so leidende Blicke zu, als übte er genau diese Funktion aus. Ihr Herz pumpte heißes Blut durch die Adern, dass sie glaubte, es rauschen zu hören wie das Meer. Sie verschloss ihm den Mund mit einem langen, innigen Kuss, bevor sie ihm die einzig mögliche Antwort ins Ohr hauchte:

      »Oui!«

      Sie spürte, wie seine Anspannung nachließ. Ein verlegenes Lächeln erschien auf seinem Gesicht.

      »Das …«, begann er, stockte und schluckte leer.

      Sie nickte lachend. »Das ist Französisch und heißt ›ja‹!«

      »Das ist wunderbar, wollte ich sagen. Ich kann es gar nicht fassen. Chris, Liebste …«

      Tausend Gedanken stürzten auf sie ein, während sie sich in stillem Glück umarmten, als dürfte sie nie mehr etwas trennen. Er schien vergessen zu haben, dass er immer noch mitsamt den Kleidern im Wasser hing.

      »Willst du nicht reinkommen? «, fragte sie nach einer Ewigkeit.

      Sie half ihm ins Boot. Beide streiften die nassen Kleider vom Leib und legten sie zum Trocknen aus. Er stand nackt vor ihr und stieß einen tiefen Seufzer aus, als wäre die Last seines Junggesellenlebens von ihm abgefallen.

      »Mein Gott, Chris! Du kannst dir nicht vorstellen, was für eine Scheiß Angst ich vor deiner Antwort gehabt habe.«

      Sie zog ihn an ihren Busen, damit er die wässrigen Augen nicht sehen konnte. Als Realistin hing sie längst nicht mehr an der romantisch verklärten Vorstellung des Teenagers von Traumhochzeit und ewigem Glück. Insgeheim aber hatte sie jahrelang auf seine fünf Worte gewartet.

      »Wärst du ins Wasser gegangen, wenn ich Nein gesagt hätte?«, fragte sie nach einer Weile.

      »Augenblicklich!«

      »Aber du kannst schwimmen …«

      »Nicht nach deinem Nein.«

      Seine feuchte, warme Haut regte ihre Hormonproduktion an. Die Wirkung der Körpersäfte spürte sie deutlich in ihrem Schoß.

      »Kannst du das nochmals machen wie neulich …«, flüsterte sie.

      Das Salz auf ihrer Haut trieb ihn zu neuen Entdeckungsreisen an. Die beiden Körper verschmolzen zu einem Knäuel aus purer Leidenschaft. Die Sorge um ihren Partner, der Job, die Brüder Moussouni, der unheimliche Mohammed Hamidi in Marseille, alles rückte in weite Ferne. Jetzt musste die Zeit einfach stehen bleiben.

      Sie hatte keine Vorstellung davon, wie lang sie schon auf den nassen Kleidern zuckten wie Fische, die das Wasser suchen, als lautes Gelächter sie plötzlich in die Gegenwart zurückholte. Sie stoben auseinander, schossen auf und starrten mit roten Köpfen in die grinsenden Gesichter von Jugendlichen, die in kleinen Jollen einen Kreis um sie bildeten. Anzügliche Rufe wurden laut, deren Sinn auch Jamie ohne Französischkenntnisse sofort verstand. Ihr erster Reflex war, die Blöße zu bedecken, dann verzichtete sie darauf. Die Bande hatte sowieso schon alles gesehen. Jamie spielte nach dem ersten Schreck den coolen Engländer. Er winkte den Seglern mit seiner schwarzen Unterhose zu und rief:

      »Sie hat Ja gesagt! Oui!«

      Antibes, Côte d‘Azur

      »Sie ahnen nicht, worauf Sie sich einlassen«, warnte Chris Jochen und Manon Preuss am Eingang zur Markthalle von Antibes.

      Jamie war bereits untergetaucht. Mit einem flüchtigen »Excuse me« hatte er sich unters Volk gemischt, das wie in einer Prozession an den Marktständen vorbeizog, vor den Auslagen mit Früchten, Gemüse, Gewürzen, Wurst und Bergen aus Käse stehen blieb, lebhaft über das Angebot diskutierte und die Einkaufstaschen füllte.

      »Wahrscheinlich hat er den Grund, weshalb wir hier sind, schon vergessen«, fügte sie hinzu, während sie über Knoblauch staunte mit Zehen größer als ihre.

      »Danken Sie Gott, dass ihr zukünftiger Ehemann nur das harmlose Kochen als Hobby betreibt«, bemerkte Manon mit einem vielsagenden Seitenblick auf ihren Jochen.

      Der zuckte schmunzelnd mit den Achseln und entgegnete:

      »Gerade beim Kochen kann man sich schwer die Finger verbrennen.«

      Die Fahrt an der Küste entlang nach Antibes und weiter über die Corniche war nicht als Einkaufsbummel gedacht. Die Preussens hatten sie spontan zu dieser kleinen, vorgezogenen Hochzeitsreise eingeladen. Chris blickte ungeduldig auf die Uhr. Ihr Zukünftiger musste sich beeilen, wollten sie um die Mittagszeit in Èze sein. Unvermittelt stand er neben ihr. Er hielt ihr die Einkaufstüte unter die Nase und sagte begeistert:

      »Riech mal. Das müsst ihr euch ansehen. Frische Feigen, Oliven wie Hühnereier, Rosmarin, Thymian – und dieser Knoblauch!«

      Seine Hand fuhr in den Sack und brachte ein mit Blättern und Bast umwickeltes Paket zum Vorschein.

      »Echter, unverfälschter ›Banon‹. Was sagst du jetzt?«

      »Was soll ich sagen. Es wird spät.«

      »›Banon‹! Chris, der berühmte provenzalische Ziegenkäse.«

      Manon Preuss betrachtete die prall gefüllte Tüte, als sähe sie die Produkte der südfranzösischen Landwirtschaft zum ersten Mal.

      »Was haben Sie mit all den Sachen vor?«, fragte sie ungläubig.

      »Das gibt wunderbare Vorspeisen, Kräuter und Gewürze kommen in den Lammtopf und die Feigen mit frischem Zimt eignen sich hervorragend als Nachtisch. Lassen Sie mich nur machen …«

      Jochens Handy unterbrach ihn. Preuss sah auf den Bildschirm. Sorgenfalten zeichneten sich auf seiner Stirn ab.

      »Entschuldigung, ist dringend«, sagte er, wandte sich ab.

      Er führte eine kurze, erregte Unterhaltung auf Arabisch. Seine Stimme verriet äußerste Anspannung. Als er das Telefon einsteckte, sah er blass aus.

      »Ich muss dringend nach Marseille.«

      »Das kannst du uns nicht antun«, protestierte Manon.

      Er sah Chris schuldbewusst an.

      »Ich bin untröstlich, aber es geht nicht anders. Wir werden das alles nachholen, versprochen.«

      »Was ist denn los?«, wollte sie wissen.

      Die Frage blieb unbeantwortet. Mit schnellen Schritten ging er voran Richtung Parkplatz.

      Port Grimaud, Côte d‘Azur

      Chris hatte sich die kleine Hochzeitsreise eine Spur gemütlicher vorgestellt. Jamie wohl auch. Sie saßen beide mit langen Gesichtern im Café am Kanal schräg gegenüber ihrem Haus. Manon leistete ihnen Gesellschaft. Sie versuchte vergeblich, den Ärger über Jochens Marseiller Geschäfte zu verbergen, rührte abwesend im Kaffee, während sie ab und zu böse Blicke auf die gegenüberliegende Häuserzeile warf.

      »Tut mir echt leid wegen gestern«, murmelte sie nicht zum ersten Mal.

      Chris versuchte erneut,


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