Vollzug. Hansjörg Anderegg
Читать онлайн книгу.mit bewegter Stimme weiter:
»Jetzt ist sie für uns da, die wunderbare Pianistin Leonie Volkmann, unsere Tochter.«
Applaus brandete auf. Jonas Ullrich klatschte einige Takte mit, ohne auf die elegant in rote Seide gekleidete Frau zu achten, die wie aus dem Nichts auftauchte, von ihren Eltern mit Umarmungen und Küsschen begrüßt wurde und sich dann artig vor dem Publikum verbeugte. Zwei Arbeiter räumten die Stellwände weg, die den Konzertflügel verbargen. Leonie Volkmann setzte sich ans Instrument. Der Applaus ebbte ab, das Getuschel verstummte. In der Halle war es so still, dass Jonas sein eigenes Atmen hörte, als die ersten, leisen Töne erklangen. Leonie brachte mit ihrer Kunst den Flügel zum Singen. Sie spielte ein romantisches Stück, das wehmütig, verträumt begann und in überbordender Freude endete. Er kannte das Stück nicht, aber die Musik rührte ihn beinahe zu Tränen, wie jedes schöne Klavierspiel, weil es ihn an seine Johanna erinnerte. Leonie erhob sich und dankte lächelnd für den Beifall; die große Künstlerin, die eine Fabrikhalle mit schlechter Akustik genauso zum Klingen brachte wie den Konzertsaal der Berliner Philharmonie. Sie sprach ein paar Worte ins Mikrofon, um das nächste Stück anzukünden, ein Nocturne von Chopin.
Jonas Ullrich hörte ihre Stimme zum ersten Mal. Die Stimme seiner verstorbenen Johanna! Wie vom Donner gerührt, starrte er die Frau an. Sein Puls spielte verrückt. Schweißperlen traten auf die Stirn. Ein kalter Schauer jagte ihm über den Rücken. So etwas war unmöglich. Es musste Einbildung sein. Leonie begann zu spielen, aber er konnte nicht mehr ruhig sitzen bleiben. Die Frau mit Johannas Stimme zog ihn mit unwiderstehlicher Kraft an. Behutsam, sich stumm links und rechts entschuldigend, näherte er sich dem Flügel. Er setzte sich auf einen freien Stuhl in der vordersten Reihe. Leonies Gesicht blieb im Halbdunkel, während sie spielte. Sobald sie sich zum zweiten Mal erhob, um sich zu verbeugen, erkannte er die Gesichtszüge deutlich. Sein Atem stockte. Vor Schreck sprang er auf, denn vor ihm stand Johanna, genauso wie sie ihm seit dreißig Jahren jeden Abend vor dem Einschlafen auf dem Foto zulächelte.
Drehe ich durch?, war sein erster Gedanke, doch es gab keinen Zweifel: Leonie Volkmann glich seiner Frau Johanna aufs Haar. Auch um ihn herum erhoben sich die Zuhörer, um die Künstlerin mit stehender Ovation zu feiern. Er aber zog sich in sein Schneckenhaus zurück. Unberührt von der Begeisterung, blendete sein Geist die Umgebung aus und versuchte nur noch, das Wunder zu begreifen, das diese Frau für ihn darstellte.
Die Erinnerung an den schlimmsten Tag seines Lebens schlich sich in seine Gedanken. Das Gesicht der Frau am Flügel verlor die Farbe wie Johannas Gesicht, nachdem ihr Blut sich mit dem Wasser in der Wanne vermischt hatte. Er kniete neben seiner Frau, die leblose Hand an seinem Mund, unfähig zu erfassen, dass sie ihn für immer verlassen hatte. Ein Jahr lang vegetierte sie mehr als sie lebte, versuchte den Verlust ihrer Tochter zu ertragen. Nun hatte der Schmerz sie besiegt. Er war zu groß für die junge Mutter. Sie gebar Marie, während er in Bautzen einsaß. Die Stasi dichtete ihm nach seinem Austritt aus dem medizinischen Team der DDR-Olympiamannschaft verbotene Auslandskontakte an. Er wollte den Doping-Wahnsinn nicht mehr mitmachen. Als ehemaliger Insider stellte er eine Bedrohung für die Brüder dar. Wahrscheinlich war das der Grund, für die systematischen Schikanen des Ministeriums für Staatssicherheit, die er und Johanna danach ertragen mussten. Es dürfte die Folterknechte der Stasi besonders gereizt haben, ihn erst Tage nach der Geburt ihres Kindes freizulassen. Bis dahin hatten sie ihm jeden Kontakt zu Johanna verweigert. Für ihn war die DDR zur Hölle geworden, aber der Gedanke an Johanna und das Kind entschädigte ihn für alles. Glücklich kehrte er heim, stieß die Wohnungstür auf und fand seine Frau zusammengesunken, mit blassem Gesicht, teilnahmslos am Küchentisch sitzend, den Sparschäler in der Hand, die unberührten Kartoffeln daneben.
»Was ist geschehen? Wo ist das Kleine?«, fragte er entsetzt.
Sie reagierte lange nicht, als hätte sie ihn nicht wahrgenommen. Er suchte wie besessen in der Wohnung nach der kleinen Marie, bis Johanna ihn schließlich mit dem Satz stoppte, der immer noch in ihm nachhallte:
»Marie ist tot.«
Nach und nach erfuhr er, was geschehen war. Die Ärzte im Spital hatten von Komplikationen gesprochen. Johanna wurde in Vollnarkose gelegt, Marie mit Kaiserschnitt zur Welt gebracht. Nach dem Aufwachen erfuhr seine Frau von der Totgeburt. Sie hatte ein totes Mädchen geboren. Ihr Kind durfte sie nie sehen. Es gab keinen Abschied, kein Begräbnis. Marie erhielt nicht einmal einen offiziellen Namen. Ihre Tochter hatte nie existiert. Für sie beide aber blieb die kleine Marie allgegenwärtig. Johanna zog sich immer mehr in die Fantasiewelt einer glücklichen Familie zurück, bis sie nach aussichtslosem Kampf an der unerträglichen Wirklichkeit zerbrach. Marie wäre jetzt eine Frau wie Leonie, gleich alt, mit den gleichen, vornehmen Gesichtszügen, der gleichen, warmen Stimme.
Jonas Ullrich kehrte mit einem Schlag in die Gegenwart zurück. Ein wahnwitziger Gedanke schwirrte ihm durch den Kopf. Die Vorstellung war absurd, und doch ließ sie ihn nicht mehr los. Je länger er darüber nachdachte, desto mehr deutete darauf hin, die Frau am Flügel könnte weniger mit den Volkmanns zu tun haben, als sie selbst ahnte. Jedenfalls glich sie weder dem Professor noch Anna Volkmann, die im schneidigen und schneidenden Ton eines Feldwebels sprach. War es möglich, dass Marie vor ihm saß, die Totgeburt nur vorgetäuscht worden war, um regimetreuen Genossen eine Adoption zu ermöglichen? Eine solche Ungeheuerlichkeit war den damaligen Apparatschiks zuzutrauen. Er schüttelte sich unwillkürlich. Der Gedanke verursachte Gänsehaut. Er musste Gewissheit haben. So bizarr ihm das Vorhaben erschien, ihm blieb keine andere Wahl. Er gesellte sich zur Gruppe, die sich nach dem Konzert um die Künstlerin scharte. Wie viele andere, erhob er sein Glas, wollte ihr danken, brachte jedoch kein Wort über die Lippen. Sie stellte ihr Wasserglas ab, um sich mit den Gästen zu unterhalten. Er wartete auf einen günstigen Augenblick, um das Glas mit ihren Speichelresten verschwinden zu lassen.
Am nächsten Morgen betrat er in aller Frühe das Labor seines alten Bekannten Kuno in der Rostocker Uniklinik. Der erkannte ihn im ersten Augenblick nicht und fragte mürrisch:
»Wer stört?«
»Jonas Ullrich, erinnerst du dich?«
Kuno sprang auf. »Jonas! Mensch! Warum sagst du das nicht gleich? Lange nicht gesehen. Was ist aus dir geworden?«
Jonas verspürte keine Lust, alte Geschichten auszugraben, und die Antwort auf Kunos Frage kannte er selbst nicht. Nach kurzem, belanglosem Geplänkel kam er zur Sache:
»Wie schnell kannst du einen Vaterschaftstest durchführen?«
Kuno stutzte, bevor er grinsend fragte: »Hast du nicht aufgepasst?«
Er überhörte die Frage, zog das Glas in der Plastiktüte aus der Tasche und sagte:
»Ich muss so schnell wie möglich wissen, ob die DNA an diesem Glas etwas mit mir zu tun hat.«
»So schnell geht das nicht, und …«
»Doch, schneller!«
Sein Gesicht ließ keinen Zweifel daran, wie ernst ihm die Angelegenheit war. Sein Bekannter schüttelte ungläubig den Kopf.
»Wie stellst du dir das vor? So etwas kann ich nicht einfach zwischen Tür und Angel erledigen. Ich brauche einen offiziellen Auftrag, und es gibt Vorschriften. Ohne schriftliche Einwilligung der betroffenen Person oder ihres Rechtsvertreters geht gar nichts.«
»Die Person heißt Marie, und sie ist tot«, sagte Jonas leise.
Kuno sah ihn verständnislos an. Jonas ließ sich auf den nächsten Sessel fallen und überlegte. Er brauchte diese Analyse. Eine andere Möglichkeit sah er nicht. Nach langer Pause entschloss er sich, etwas zu tun, was er noch nie getan hatte. Er erzählte Kuno Maries Geschichte, wenigstens soviel davon, dass er begreifen musste, wie wichtig sein Anliegen war.
Wie erwartet, verschlug der ungeheure Verdacht auch seinem Bekannten die Sprache.
»Was willst du unternehmen, wenn das Resultat positiv ausfällt?«, fragte er schließlich zögernd.
»Ich weiß es nicht.«
Wieder starrten beide schweigend vor sich hin. Dann ging Kuno zu einem Schrank, zog ein Glasröhrchen aus einer Schublade und stellte sich vor ihm auf.