Vollzug. Hansjörg Anderegg
Читать онлайн книгу.allerdings um ein ernstes Problem handeln. Jochen kam erst nach Mitternacht nach Hause, und als ich heute Morgen um sieben erwachte, war er schon wieder weg. So etwas ist in all den Jahren nicht passiert, seit wir in Port Grimaud wohnen.«
Chris faltete die ›La Provence‹ zusammen und bemerkte:
»Da steht jedenfalls nichts Besonderes über Marseille drin.«
Sie überlegte sich, Jochens Schulprojekt anzusprechen, ließ es jedoch bleiben, um nicht unnötig Staub aufzuwirbeln.
»Willst du nicht rangehen?«, fragte Jamie mit säuerlichem Lächeln.
In Gedanken versunken, hatte sie das Vibrieren des Handys nicht bemerkt.
»Oha!«, entfuhr es ihr, als sie Oberstaatsanwalt Richters Namen auf dem Bildschirm las.
»Ich fürchte, Ihre Ferien sind vorbei«, begann er.
Kein Gruß, kein »Wie geht es Ihnen«. Seine Stimme klang gereizt.
»Was gibt‘s?«, fragte sie ebenso kurz angebunden.
»Sie fliegen nach Berlin, dringend!«
»Berlin?«
»In die Zentrale auf dem Kasernengelände am Treptower Park. Sagt Ihnen das Kürzel GTAZ etwas?«
Selbstverständlich, auf welchem Planeten lebte sie denn? Sie entfernte sich einige Schritte vom Tisch und sprach leiser:
»Die Anti-Terror-Zentrale. Was haben wir mit der zu schaffen?«
»Die Geschichte mit den Moussouni Brüdern und den Unruhen scheint aus dem Ruder zu laufen. Das gemeinsame Terrorismus-Abwehrzentrum in Berlin übernimmt ab sofort die Koordination bei der Suche nach Hassan Moussouni. Im Gremium sitzen Leute von uns, den Landeskriminalämtern, dem BND und dem Verfassungsschutz. Sie vertreten das BKA.«
Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken beim Gedanken an den Debattierklub im langen Sitzungszimmer am Treptower Park.
»Kann das nicht …«
Richter unterbrach sie scharf: »Nein! Sie kennen alle Details in diesem Fall. Sie sind die einzig Richtige für den Job. Melden Sie sich bei Heinrich Radtke, Abteilung TE des BND, Gruppe Nordafrika. Der Jet wird in vierzig Minuten in Nizza landen. Brauchen Sie einen Transport?«
Alle möglichen Antworten schwirrten ihr durch den Kopf. Schließlich entschied sie sich für die Einfachste:
»Nein, Jamie kann mich fahren.«
»Gut. Melden Sie sich, sobald sie da sind.«
»Wie geht es Sven?«
Richter hatte aufgelegt.
Zwei Stunden später verabschiedete Jamie sie in lupenreinem Französisch auf dem Flughafen Nice Côte d’Azur:
»Au revoir, madame Roberts.«
Kapitel 5
Lubmin
Jonas Ullrich setzte sich bescheiden auf einen der hinteren Sessel in der Fabrikhalle, die als Auditorium für den Festakt diente. Er wusste wie jeder andere im Raum, dass dies auch seine Feier war. Die jahrelange Tüftelei, die vielen Rückschläge, die hartnäckige Suche nach extrem widerstandsfähigen Werkstoffen, die auch noch bezahlbar waren, die ganze, buchstäblich aufreibende Arbeit war nicht umsonst gewesen. Ihre kleine Firma ›TransX‹ am Greifswalder Bodden im äußersten Nordosten Mecklenburg-Vorpommerns würde bald Geschichte schreiben. Spätestens nach der ersten Pressekonferenz würden nicht nur die handverlesenen Leute in dieser Halle begreifen, dass der Name ›TransX‹ nicht vom Wort Transport abstammte. Die Spezial-Lkws auf dem Fuhrpark betrachtete er als Tarnung, obwohl die ›TransX‹ gut im Geschäft mit dem Transport gefährlicher Güter etabliert war.
Der Firmengründer und CEO, Professor Dr. Niklas Volkmann, brachte es auf den Punkt:
»Als Naturwissenschaftler neige ich zu Nüchternheit und gesunder Skepsis, aber heute darf ich mit gutem Gewissen behaupten: Wir stehen an der Schwelle eines neuen technischen Zeitalters. Die ›TransX‹ hat das bisher Unmögliche möglich gemacht: die sichere und endgültige Beseitigung des Atommülls. Erst war es nicht mehr als ein verwegener Traum, von dem man kaum einem Wissenschaftler erzählen durfte, ohne sich lächerlich zu machen. Viele von uns wissen ein Lied davon zu singen. Doch nun hat sich das Blatt gewendet. Wir werden der Welt beweisen, dass es nur einen richtigen Weg gibt, das Problem des Atommülls zu lösen, unsern Weg. Seit mehr als einem halben Jahrhundert, seit der erste Kernreaktor ans Netz ging, haben Wissenschaft und Technik vergeblich nach einem Weg gesucht, die strahlenden Abfälle sicher zu entsorgen. Wir wissen: Vergraben und vergessen ist keine Lösung. Einzig unsere hier am Rande des beschaulichen Seebads Lubmin entwickelte Technik erlaubt es, gefährliche radioaktive Stoffe mit Halbwertszeiten von Tausenden und Millionen Jahren endgültig zu beseitigen.«
Applaus dankte ihm für diese Streicheleinheiten. Mit ernster Stimme fuhr er weiter, ganz der väterliche Chef:
»Niemand sonst hat das bisher geschafft. Darauf dürfen wir stolz sein, und darauf erhebe ich mein Glas. Auf die glänzende Zukunft unserer Firma!«
Niemand außer den in der Halle versammelten Wissenschaftlern, Ingenieuren und Technikern kannte die Geheimnisse des komplexen Verfahrens. Nicht einmal die Familien wussten, womit sich ihre Ehemänner oder Gattinnen bei ›TransX‹ wirklich beschäftigten. Ein einziger Externer war zu diesem ersten, geschlossenen Teil der Feier geladen: Dr. Lukas Voss, der stellvertretende Leiter des Fachbereichs Sicherheit nuklearer Entsorgung beim Bundesamt für Strahlenschutz. Er trat hoch erhobenen Hauptes ans Mikrofon, ein stolzes Lächeln auf dem Gesicht, als hätte er selbst das Problem gelöst, an dem sich sein Amt seit der Gründung die Zähne ausbiss.
»Verehrter Professor Volkmann, meine Damen und Herren«, begann er. »Ich will mich kurz fassen. Zuerst möchte ich Sie alle auch im Namen des BfS zu Ihrem außerordentlichen Erfolg beglückwünschen. Professor Volkmann hat die Bedeutung Ihrer Leistung eindrücklich geschildert. Dem ist nichts beizufügen. Denken wir aber bei aller berechtigten Freude daran, dass der Weg noch nicht zu Ende ist. Noch sind nicht alle Tests abgeschlossen, wie wir wissen. Ich zweifle keinen Augenblick daran, dass auch die letzten Versuche mit der Produktion in industriellem Maßstab von Erfolg gekrönt sein werden. Bis es aber soweit ist, muss ich Sie bitten, weiterhin absolutes Stillschweigen gegen außen zu bewahren. Nach Abschluss der Tests wird die Öffentlichkeit staunend zur Kenntnis nehmen, dass sich das leidige Endlagerproblem sozusagen über Nacht in eine unbedeutende Fußnote der Geschichte ›transmutiert‹ hat. Und nun: Genießen Sie das Fest.«
Jonas Ullrich beobachtete mit einem Gefühl von Bitterkeit, wie sich die Halle vor dem Höhepunkt der Feier mit Angehörigen seiner Kollegen füllte. Wie jedes Mal in Gesellschaft fröhlicher Paare und Familien bedrückte ihn die innere Leere besonders stark. Seit Johannas Tod lebte er zurückgezogen in seinem Schneckenhaus, aus dem er nur hervorkroch, um in der Firma zu arbeiten. Er hielt sich abseits der Gruppen, die sich spontan bildeten. Bekannte und Freundinnen, die sich gemeinsam am Büfett verpflegten, die Gelegenheit nutzten, Erlebnisse mit Kindern und Urlaubserinnerungen auszutauschen und sich über den braunen Sumpf in Rostock aufzuregen, der auf Muslime einprügelte, als hätte es keinen NSU-Prozess gegeben. Zu solchen Diskussionen konnte er nichts beitragen. Nur aus Anstand blieb er, um sich wenigstens den Anfang der Darbietung anzuhören, die Volkmann als Überraschung angekündigt hatte.
Anna Volkmann bat die Gäste, Platz zu nehmen. Hand in Hand mit ihrem Gatten kündigte sie die Überraschung an:
»Sie ist in den großen Konzertsälen Europas und bald in den USA zu Hause. Sie jettet zwischen Wien, Berlin, Mailand, Paris und London hin und her. Glauben Sie mir, es war nicht leicht, einen freien Termin für diesen Anlass in ihrem Kalender zu finden. Aber jetzt dürfen wir uns auf einen ganz besonders glanzvollen Höhepunkt freuen, den man sonst nur für teures Geld in den großen Metropolen erlebt.«
Sichtlich