Vollzug. Hansjörg Anderegg
Читать онлайн книгу.zu Boden. Stumm hievten sie es in den Van, während sich die Luke über ihnen schloss. Kaum zehn Minuten, nachdem sie ins Auto gestiegen waren, fuhren sie mit der kostbaren Fracht Richtung Tank Nummer zwei, voll mit flüssigem Methan nach Angaben des Insiders. Mohammed Hamidi suchte die Umgebung mit dem Fernglas ab, bevor sie sich der Stelle näherten, wo das Flüssiggas vom Tank in die Pipelines zur Aufbereitungsanlage floss. Es war das schwächste Glied im Speichersystem, bestens für ihre Zwecke geeignet. Weit und breit war kein unerwünschter Zuschauer auszumachen. Niemand beobachtete, wie sie das Paket unmittelbar am Tank zwischen die Rohre schoben, denn auch die Überwachungskameras blieben ausgeschaltet.
Mohammed Hamidi nickte zufrieden. Bisher verlief die Aktion genau nach seinem Plan. Nun begann die letzte, heikelste Phase. Er kontrollierte die Uhr: 21:20 Uhr, perfekt. Basem Mansour, sein junger Vertrauter, kniete bereits neben dem Paket. Er öffnete das rote Kästchen an der Hülle, aus dem ein Kabel ins Innere führte.
»Welche Zeit soll ich einstellen?«, fragte er seinen Anführer.
»Punkt zehn Uhr wie geplant.«
Basem kannte sich mit Computern aus. Nichts anderes als ein kleiner Computer steuerte die Zündelektronik im roten Kästchen. Mit angehaltenem Atem sahen ihm die Brüder und der Fahrer zu, der jetzt am ganzen Leib zitterte. Das ist nicht der Schüttelfrost des Entzugs, dachte Mohammed Hamidi verächtlich. Der Insider hatte Angst, Angst um sein erbärmliches Leben. Nur ein Ungläubiger konnte ein solcher Feigling sein, war er überzeugt.
Basem Mansour erhob sich.
»22:00 Uhr ist eingestellt. Die Zeit läuft.«
»Gut.«
Mohammed nahm das Drogenpaket aus dem Handschuhfach und steckte es ein. Der Fahrer starrte ihn entsetzt an, wagte aber nichts zu sagen.
»Du bringst die Brüder zu ihrem Wagen, dann kehrst du mit dem Van hierher zurück«, wies Mohammed ihn an. »Sobald du zurück bist, gehört das Zeug dir.«
Die Männer sahen sich konsterniert an. Niemand begriff, was er vorhatte. Dieser letzte Akt war nicht so besprochen worden. Wie erwartet, kehrte der weiße Van rasch zurück. Er gab dem Fahrer den heiß ersehnten Lohn. Mit fiebrigen Händen riss der Junkie das Paket auf. Abgelenkt durch seine Sucht, bemerkte er die Bewegung hinter seinem Rücken nicht. Mohammeds Schlag traf in den Nacken und streckte ihn zu Boden. Noch einmal schlug Mohammed zu. Die Faust mit dem Schlagring hinterließ eine klaffende Wunde an der Schläfe des Fahrers. Er rührte sich nicht mehr. Mohammed Hamidi ließ ihn liegen. Es interessierte ihn nicht, ob der Ungläubige noch lebte. Spätestens in fünfzehn Minuten würde er sowieso den Tod des drogenabhängigen Verräters sterben. So jedenfalls würde sich der Tatort den Ermittlern präsentieren, sollte überhaupt etwas von ihm und dem Wagen übrig bleiben. Mohammed zog den Zündschlüssel ab und rannte, so schnell ihn seine Beine trugen, zur Einfahrt und weiter die Straße hinunter, die zum Versteck führte.
Basem Mansours Uhr zeigte 21:59 Uhr.
»Wo bleibt Mohammed?«, fragte er, Schlimmes ahnend. »Warum ist er nicht mit uns zurückgefahren?«
Der Bruder an der Videokamera war zehn Jahre älter und entsprechend erfahrener.
»Mohammed muss sich um l‘initié kümmern«, murmelte er zweideutig.
Im nächsten Augenblick zuckte ein gewaltiger Blitz durch die Nacht, der das ganze Gelände in grelles Licht tauchte. Ihm folgte ein ohrenbetäubender Donnerschlag. Eine Stichflamme schoss in den Himmel, als hätte Allah selbst seine Fackel am Tag des Gerichts entzündet. Gleichzeitig traf sie die Druckwelle. Die Wucht des durch die Explosion entfesselten Sturms schleuderte sie zu Boden und mit ihnen die Kamera. Der Druck erfasste ihren Wagen, drohte das tonnenschwere Geländefahrzeug zu kippen. Sekundenlang schwebte es auf zwei Rädern, bis es wieder auf den Boden krachte.
»Allahu akbar!«, riefen alle durcheinander.
Während die andern sich im Freudentaumel umarmten und lachend zu tanzen begannen, richtete der Kameramann seinen Apparat mit dem starken Teleobjektiv erneut auf das Inferno. Die Gewalt der Explosion hatte ein Loch in den Tank Nummer zwei gerissen. Das ausfließende Methan verdampfte sofort und entzündete sich. Der höllische Flammenwerfer versprühte sein Feuer in Sekunden über die ganze Industrieanlage. Pipelines barsten. Die Gebäude standen in hellen Flammen, bevor die erste Alarmsirene aufheulte. Hundert Meter lange Feuerzungen leckten an dürren Büschen. Bäume und trockenes Gras brannten wie Zunder. Als wäre das nicht Apokalypse genug, fachte der Scirocco die Höllenglut weiter an. Der trockene Südwind aus Nordafrika hatte kräftig zugelegt in den letzten Stunden. Die Böen trieben die Flammen mit rasender Geschwindigkeit ins Landesinnere. Bald würden die Hügel hinter Fos-sur-Mer und Richtung Marseille brennen wie Scheiterhaufen für die Ungläubigen.
»Wir können nicht länger warten«, drängte der Kameramann.
Auf der Zufahrtsstraße näherte sich eine blinkende Lichterkette. Feuerwehr und Gendarmerie rückten in Divisionsstärke an. Sie mussten über ihren Schleichweg verschwinden, bevor die Hubschrauber auftauchten und die Gegend mit ihren Suchscheinwerfern unpassierbar machten.
»Mohammed?«, rief Basem Mansour den Brüdern zu, die bereits einstiegen.
»Mohammed weiß, was er tut«, antwortete der Mann, der sich ans Steuer setzte. »Steig endlich ein!«
Kurz nach Erreichen der brennenden Steppe der Coussouls de Crau stand plötzlich Mohammeds bärtige Gestalt auf der Straße. Lachend, mit Schulterklopfen empfingen ihn die Gotteskrieger. Der Geländewagen beschleunigte und fuhr in halsbrecherischem Tempo Richtung Arles, von wo sie über Aix-en-Provence nach Marseille zurückkehren würden. Geschwindigkeitskontrollen mussten sie in dieser Nacht keine befürchten.
Marseille
Jochen Preuss murmelte etwas, das nur er verstand.
»Wie bitte?«, fragte Amira Saidi, ohne die Augen vom kleinen Fernseher im Haus am Boulevard de la Méditerranée zu lassen.
Beide starrten gebannt auf die Bilder, die seit dem frühen Morgen ganz Frankreich erschütterten. Alle Kanäle unterbrachen ihre normalen Sendungen, um über die verheerende Explosion im Flüssiggasterminal von Fos-sur-Mer zu berichten. Einsatzkräfte aus weiten Teilen des Landes waren vor Ort, um Verletzte und Todesopfer zu bergen. In der Industrieanlage hatte kaum jemand überlebt. Alles ging viel zu schnell. Die Leute hatten keine Chance. Viele verbrannten bei lebendigem Leib. Feuerwehr-Brigaden aus Marseille, Nizza, Toulon, Arles und Nîmes, ja sogar Lyon und Spezialisten aus Paris versuchten in fast aussichtslosem Kampf, die Waldbrände einzudämmen. Die kleine Gemeinde Fos-sur-Mer wurde unter schwierigen Umständen evakuiert. Die Bewohner mussten hilflos mit ansehen, wie die Flammen ein Haus nach dem andern verzehrten.
An der Pressekonferenz um zehn Uhr gab der Bürgermeister mit erstickter Stimme und Tränen in den Augen bekannt, dass man Fos-sur-Mer aufgeben musste. Die Einsatzkräfte waren überfordert. Es gab weder genug Leute noch Tankwagen und Löschflugzeuge. Man konzentrierte die Einsätze, um wenigstens Aix-en-Provence und die westlichen Vororte Marseilles zu schützen. Sechs Kompanien der Force Terrestre der französischen Truppen mit schwerem Gerät wurden aufgeboten, und der Präsident selbst war unterwegs ins Katastrophengebiet.
Der Lagebericht des verantwortlichen Kommandanten der Gendarmerie begann mit der nüchternen Feststellung:
»Wir müssen davon ausgehen, dass es sich bei der Explosion um einen gezielten Anschlag handelt.«
Amira schlug die Hände vors Gesicht und begann, leise vor sich hinzumurmeln. Preuss glaubte, den Namen Basim oder Basem zu vernehmen. Sie stand auf, um den Ton leiser zu drehen. Ihr Gesicht sah blass aus und um Jahre älter mit den Sorgenfalten auf der Stirn. Sie setzte sich wieder hin, trank einen Schluck Tee und hielt das Glas mit beiden Händen.
»Wer tut so etwas Schreckliches?«, fragte sie mit belegter Stimme.
Er nickte nachdenklich. »Und vor allem: weshalb?«
Das Attentat übertraf seine schlimmsten Befürchtungen. Nach den Gerüchten vom vergangenen Samstag war er auf vieles gefasst, aber nicht auf diese neue Dimension