Der zweite Killer. Hansjörg Anderegg
Читать онлайн книгу.den Staub des ausgetrockneten Flussbetts in der Nase, erwartet er jeden Moment den Blitz und den dumpfen Knall der Tellermine. Brennende Trümmer des vorderen Jeeps regnen auf die Grupe herab. Zwei Kameraden fallen. Einer hat Glück. Er verliert nur die Beine.
Seine Hand zitterte. Er ließ den Karabiner in die Tasche fallen und wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn. Unbemerkt, wie er gekommen war, verließ er das Basislager zum letzten Mal. Er ließ das Boot eine Weile den Fluss hinunter treiben, bevor er den Motor startete. Ohne einen Blick zurück verschwand er in der Dunkelheit.
Berlin
Eine zweite, senkrechte Falte bildete sich auf Staatsanwältin Winters Stirn.
»Was versprechen Sie sich davon? Uns sind die Hände gebunden. Beim Grenzzaun des amerikanischen Lazaretts hört unsere Staatsmacht auf. Das ist Ihnen doch bewusst?«
Chris zuckte mit den Achseln. »Der Termin bei Dr. Fisher steht fest. Er hat vor einem Monat das vielleicht letzte Antibiotikarezept für unser Mordopfer ausgestellt. Grund genug, mich mit dem Herrn zu unterhalten, finden Sie nicht? Ich brauche nicht zu betonen, dass Dr. Fisher bisher die einzige Verbindung zu Eddie Jones ist, die uns vielleicht Hinweise auf den Täter liefert.«
Die Staatsanwältin wandte sich kopfschüttelnd ab. »Wenn Sie das vermasseln, kann Ihnen auch Herr Oberstaatsanwalt Dr. Richter nicht mehr helfen.«
Daher stammte also Winters latente Abneigung ihr gegenüber. Der einflussreiche Oberstaatsanwalt Dr. Richter hieß bei ihr Hendrik, seit er mehr oder weniger durch Zufall ihr Trauzeuge geworden war. Falls die Winter glaubte, sie spiele diese Karte … Sie spürte, wie die Adern an den Schläfen anschwollen, doch es blieb keine Zeit, sich angemessen zu ärgern. Jamie rief an, und er klang noch aufgeregter.
»Du musst sofort herkommen! Es ist – for God‘s sake – es ist einfach unglaublich.«
»Was ist geschehen? Bist du O. K.?«
»Du musst herkommen. Das musst du sehen!«
»Verrätst du mir wenigstens, wohin ich kommen soll?«
Aufgrund der Baustellen entschied sie sich für die S-Bahn. Es dauerte dennoch geschlagene fünfzig Minuten, bis sie das Büro im Robert-Koch-Institut betrat. Jamie und sein Kollege, der Immunologe Arne Schulz, empfingen sie mit versteinerten Gesichtern.
»Mein Gott, du siehst aus, als wäre dein Auflauf kollabiert.«
»Chris, das ist nicht lustig.«
»Können wir bitte zur Sache kommen?«, warf Dr. Schulz ein. Er wandte sich an sie. »Ihre Probe aus der Pathologie enthält gram-negative Bakterien.«
»Ich weiß.«
»Was sie allerdings nicht wissen: Es handelt sich um einen bisher unbekannten Stamm von Clostridium difficile.«
Er breitete eine Reihe Mikroskop-Aufnahmen vor ihr aus und erklärte:
»Die obere Serie zeigt die normale Reaktion von C. difficile auf verschiedene Antibiotika. Unten sehen Sie die Reaktion der Mutation aus Ihrer Probe. Fällt Ihnen etwas auf?«
Es war eine rhetorische Frage. Die Bakterien aus Eddie Jones‘ Magen reagierten auf kein einziges getestetes Antibiotikum.
»Resistent«, murmelte sie, nicht vollkommen überrascht.
Schulz nickte. »Wir wollten es genau wissen, haben sämtliche Typen von Antibiotika überprüft, stets mit dem gleichen Resultat. Die Keime in Ihrer Probe sind nicht einfach resistent. Sie sind total resistent gegen alle Antibiotika. Wir nennen solche Pathogene deshalb ›TDR‹, totally drug resistant. Diese Bakterien sind absolut tödlich wie die Pest im 14. Jahrhundert, und es gibt kein Gegenmittel – wie im 14. Jahrhundert.«
Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Die Stille lastete bleischwer auf ihr. Eddie Jones als Träger einer neuen Pest, gegen die das ganze Arsenal moderner Medizin nichts ausrichten konnte.
»Wie kann so etwas entstehen«, murmelte sie schließlich tonlos, »eine solche Mutation, meine ich?«
»Bakterien sind anpassungsfähiger als der Mensch. Wir wissen heute, dass zu sorglose, häufige Behandlung mit Antibiotika resistente Keime erzeugen kann. Es sind Fälle bekannt, wo beispielsweise eine Lungenentzündung mit viel Antibiotika erfolgreich bekämpft wurde, mit dem Effekt, dass sich dadurch resistente Bakterien im Magen des Patienten ungehindert ausbreiten konnten. Wenn solche Fälle in Kliniken auftreten, gilt höchste Alarmstufe. Stellen Sie sich vor, was passiert, wenn sich diese Keime ausbreiten. Wir könnten nur noch zusehen, wie die Leute sterben.«
»Es gibt ernsthafte Studien der Weltgesundheitsorganisation, die bereits das Ende von Antibiotika mit allen Konsequenzen heraufbeschwören«, fügte Jamie mit Grabesstimme hinzu.
»Ist das nicht ein wenig übertrieben?«
Schulz schüttelte den Kopf. »Tatsache ist, dass kein Antibiotikum gegen solche Bakterien wirkt. ›TDR‹ Keime verhalten sich so, als wäre Penicillin nie entdeckt worden. Um ehrlich zu sein: Die Welt wartet auf einen neuen Alexander Fleming.«
»Gibt es denn keine Alternativen zu Antibiotika?«
»Bis jetzt nicht. Alle Ansätze stecken noch in den Kinderschuhen. Die Pharmaindustrie hat zu lange geschlafen. Antibiotika-Forschung lohnt sich einfach nicht.«
»Bis es zu spät ist.«
»Fünf vor zwölf ist jedenfalls vorbei«, stimmte Schulz zu mit einem Blick auf seine Versuchsreihe. »Spät, aber immerhin, hat man jetzt begonnen, sich mit der Ursache der Resistenz zu befassen. PPMOs sind eine mögliche Lösung. Das sind Peptide, die gezielt die Gene in der Bakterie stilllegen, die für die Resistenz verantwortlich sind. Antimikrobielle Peptide, AMPs, sind eine andere Variante. Die greifen die Zellmembran der resistenten Bakterien an und zerstören sie.«
»Das hört sich alles ziemlich vage an.«
»Ist es auch«, bestätigte Jamie, »leider.«
Chris schwieg, in Gedanken versunken. Ihr Fall war gerade um eine Dimension komplizierter geworden. Mit C. difficile trat ein zweiter Killer auf den Plan, still und unsichtbar, tödlicher als jeder Scharfschütze. Schulz unterbrach ihren Gedankengang:
»Sie müssen mir verraten, woher diese Keime stammen, Kommissarin. Unser Institut ist verpflichtet …«
Sie wehrte ab. »Ich würde es Ihnen sagen, wenn ich könnte, glauben Sie mir. Wir tappen selbst im Dunkeln. Bis vor einer Stunde wusste ich noch nicht, dass resistente Bakterien in unserm Fall eine Rolle spielen.«
Das US-Lazarett in Landstuhl erwähnte sie nicht, obwohl es nun ganz oben auf ihrer Liste stand.
Kaiserslautern
Alois Jung setzte die Tasse wieder ab, ohne zu trinken. Der kalte Kaffee schmeckte zu sehr nach abgestandener Milch. Der Junge war immer noch nicht da.
»Ludwig, komm bitte herunter. Es ist Zeit für die Schule, und ich muss zur Arbeit.«
Es blieb ruhig, abgesehen vom morgendlichen Lärm der Nachbarskinder im Reihenhaus. Verdächtig ruhig.
»Ludwig?«
Der Junge war zehn, hochintelligent, wie die Lehrer sagten, und brauchte pausenlose Fürsorge wie ein Säugling. Manchmal zweifelte er, ob Ludwig je so etwas wie Selbstständigkeit erlangen würde. Viertel vor acht, höchste Zeit. Er nahm den Sportteil aus der Zeitung, wie an jedem Werktag, und schob ihn in die Innentasche des Arbeitskittels. Auf halbem Weg zur Treppe blieb er erschrocken stehen. Ludwig rief nach seiner Mutter. Panik lag in seiner Stimme, als fürchte er, Mama für immer zu verlieren. Er hämmerte mit den Fäusten an eine Tür. Die Rufe steigerten sich zum zornigen Geschrei. Alois schüttelte den Kopf. Der Junge konnte schnell ausfällig werden. Das würde sich wohl auch nicht so bald ändern. Seufzend stieg er die Treppe hoch.
»Ludwig, beruhige dich. Was ist los?«
Der Knabe stand vor dem Bad. Ohne ihn zu beachten, schrie er weiter nach Mama und schlug mit den Fäusten auf die