Der zweite Killer. Hansjörg Anderegg
Читать онлайн книгу.»Das erklärt ja alles.«
»Echt jetzt. Die SEALs sind die Elite der Elite. Denken Sie an Bin Laden.«
»Ich werde es mir merken«, versicherte sie.
Der Pathologe unterbrach den geistreichen Dialog:
»Möchten Sie wissen, was wir in Mr. Jones‘ Blut und Magen gefunden haben?«
»Nicht wirklich, aber Sie werden es uns trotzdem sagen.«
»So ist es. Es könnte durchaus wichtig sein. Das Opfer hat in letzter Zeit häufig Cannabis konsumiert. Sie werden es kaum glauben, aber ich habe Anzeichen von Unterernährung festgestellt. Der Mann litt an einer schweren und offenbar langwierigen Gastroenteritis.«
»Eine Magen-Darm-Infektion! Was verstehen Sie unter schwer?«
»Seine Nieren sind geschädigt. Ohne intensive Behandlung in einer Klinik wäre Mr. Jones daran gestorben.«
Die Äußerung des Pathologen stand in krassem Widerspruch zum Ausdruck des Friedens auf dem Gesicht des Toten. Tödliche Krankheit, Drogenkonsum: Ihre Gedanken begannen sich zu überschlagen. Sie hatte keine Ahnung, wie sie die neue Information einordnen sollte. Der Arzt war noch nicht fertig:
»Die Ursache der Infektion sind gram-negative Pathogene.«
Seidel zückte sein Smartphone.
»Das ist eine Leichenhalle, junger Mann«, belehrte ihn der Pathologe, »hier wird nicht telefoniert.«
Kaum hatten sie das Haus verlassen, platzte ihr Referendar heraus:
»Ich wollte nur nachsehen, was gram-negativ bedeutet.«
»Was, Sie wissen das nicht? Warum haben Sie nicht gefragt?«
Damit ließ sie es bewenden. Sie selbst konnte sich nichts unter dem Begriff vorstellen, aber ihr privates Wikipedia hieß Jamie, war Arzt und würde sie bald erschöpfend über gram-negative Pathogene aufklären. Seidel sprach kein Wort während der Fahrt zurück zum Treptower Park. Möglicherweise bedrückten ihn ähnliche Gedanken wie sie. Eddie Jones musste unter großen Schmerzen gelitten haben. Das könnte den erhöhten Konsum von Haschisch erklären und den friedlichen Gesichtsausdruck. Der Tod als Erlöser. Wieso beendete er seine Qualen nicht selbst, wenn er keinen Ausweg mehr sah? Vielleicht war ihm der Täter nur zuvorgekommen. Hatte er sich deshalb nicht gewehrt? Die schwere Krankheit des Opfers warf ein neues Licht auf den Fall, doch Eddie Jones blieb ihr auch nach dem Bericht des Pathologen ein Rätsel.
Sie saß noch keine Minute am Schreibtisch, als Seidel auf sie zutrat und sich umständlich räusperte. Leise, als wagte er es nicht auszusprechen, sagte er:
»Chef – ich glaube, wir haben etwas übersehen.«
Weiter kam er nicht. Staatsanwältin Winter platzte herein.
»Neues vom Phantomkiller?«
Chris schüttelte den Kopf. »Nicht vom Täter aber vom Opfer.«
Das Stichwort Cannabis elektrisierte Winter.
»Drogen?«, rief sie aus. »Dem müssen Sie sofort nachgehen. Schalten Sie die Drogenfahndung ein, dann haben Sie Ihre Verstärkung.«
Sie rauschte hinaus, beflügelt von der neuen Entwicklung.
»Gut, sehr gut«, hörte Chris, bevor die Tür hinter ihr ins Schloss fiel.
Seidel nahm einen neuen Anlauf. Diesmal unterbrach ihn Jens Haase, der vorsichtig ins Zimmer spähte. Als er sah, dass die Luft rein war, trat er ein.
»Schlechte Nachrichten, fürchte ich«, meldete er. »Der Kollege des Opfers, Diego Alvarez, ist bis jetzt nicht aufzutreiben. Es sind jede Menge Anfragen bei Fluggesellschaften und Flughäfen am Laufen, inklusive eines offiziellen Unterstützungsantrags ans Oberkommando in Ramstein. Bisher herrscht Funkstille.«
»Was ist mit seiner Wohnung, den Nachbarn?«
»Negativ. Mr. Alvarez zieht es vor, nur eine Postfachadresse zu haben. Die Post kennt natürlich die richtige Anschrift, gibt aber nur mit gültigem Gerichtsbeschluss Auskunft. Ich habe es versucht, aber der Richter stellt sich quer, da Mr. Alvarez nicht mehr zum engen Kreis der Verdächtigen gehöre.«
»Nicht zum engen Kreis der Verdächtigen!«, brauste sie auf. »Was für ein Schwachsinn. Ich fasse es nicht. Aber danke, Herr Haase, kümmern wir uns eben selbst darum, sobald wir Zeit haben.«
»Ich könnte unsere IT einschalten.«
Die vom Bund lizenzierten Hacker, meinte er. Sie nickte ihm lächelnd zu und schwieg fürs Protokoll.
»Jetzt aber zu Ihnen, Seidel. Was haben wir übersehen?«
»Also – so absolut habe ich es nicht formuliert.« Er hüstelte verlegen, bevor er fortfuhr: »Die Krankheit unseres Opfers hat mich daran erinnert. Unter den Asservaten aus der Wohnung des Toten befindet sich eine leere Medikamentenschachtel. Falls es sich um ein rezeptpflichtiges Präparat handelt, finden wir so vielleicht den Arzt …«
»Seidel, aus Ihnen wird noch ein guter Schnüffler«, unterbrach sie schmunzelnd. »Welche Nummer ist es?«
»Zwölf.«
Das Beweisstück Nummer zwölf aus Eddie Jones‘ Abfalleimer erschien auf ihrem Bildschirm, sauber abgelichtet von allen Seiten.
»Neomycin«, las sie laut. »Es handelt sich wohl um ein Antibiotikum.«
»Ich kann das abklären«, sagte Seidel, bereit zum Sprung an den Computer.
»Nein, warten Sie, wir fragen den Fachmann.«
Sie drückte die Kurzwahltaste 1 auf ihrem Handy. Jamie antwortete nach dem ersten Klingelton:
»Dienstlich oder privat?«
»Dienstlich«, sagte sie und schaltete auf Lautsprecher. »Neomycin, sagt dir das etwas?«
»Hast du Durchfall?«, fragte er bestürzt. »War das Soufflé nicht in Ordnung? Warst du beim Arzt?«
Sie brach in Gelächter aus. »Dienstlich, sagte ich, beruhige dich. Ich möchte nur mehr über dieses Medikament erfahren.«
»Gott sei Dank. Mit Durchfall ist nämlich nicht zu spaßen. Ich kann ein Lied davon singen, wie du weißt. Neomycin ist ein weitverbreitetes Antibiotikum. Es wird üblicherweise bei Infektionen durch gram-negative Bakterien verschrieben, zum Beispiel Escherichia Coli. Allgemein wirkt es gegen aerobe Bakterien, nur in Ausnahmefällen gegen anaerobe Keime.«
»Man verschreibt es also zum Beispiel bei Gastroenteritis?«
»Ja, sicher, bei schweren Fällen.«
Sie las Dosierung und Konzentration von der Packung ab.
»Good Lord! Das ist starker Tobak. Der arme Kerl, der so etwas braucht, muss sehr krank sein. Zudem ist die Einnahme in dieser Konzentration über einen längeren Zeitraum gefährlich. Neomycin greift die Nieren an – unter anderem.«
Das passte zum Obduktionsbefund. Eddie Jones musste über längere Zeit starke Dosen des Präparats geschluckt haben. Warum war so ein schwerer Fall nicht in stationärer Behandlung?
»Danke, Dr. Roberts. Dr. Roberts möchte sich später ausführlich mit Ihnen darüber unterhalten.«
»Lassen Sie sich einen Termin geben«, lachte er. »Ich kann es kaum erwarten.«
Seidel hatte nur mit halbem Ohr zugehört. Er saß vor seinem Bildschirm, schnitt unmögliche Grimassen, als wäre es ein Spiegel, klimperte auf der Tastatur und stöhnte schließlich erleichtert auf.
»Brauchen Sie ein Neomycin?«, fragte sie.
Er blickte sie verwirrt an, bis er die Ironie verstand. »Ach so – nein, aber sehen Sie sich das bitte einmal an.«
Er hatte den Aufkleber der Packung im Computer bearbeitet, die fehlende Ecke digital ergänzt, sodass die Herkunft des Neomycins nun klar lesbar war: