Der zweite Killer. Hansjörg Anderegg

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Der zweite Killer - Hansjörg Anderegg


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Seidel«, begann sie nochmals, »sind alle Bewohner des Asylheims befragt worden?«

      »Das Gebäude ist eine Ruine. Es gibt keine ständigen Bewohner, nur Obdachlose, die hier gelegentlich übernachten und ein paar Junkies, die sich manchmal auf dem Hof auf der andern Seite treffen.«

      »War einer von denen anwesend zum Tatzeitpunkt?«

      Seidel verneinte. »Allerdings …«

      »Was?«

      »Ein Obdachloser hat ausgesagt, es hätte in der Nacht vor der Tat eine wilde Party stattgefunden.«

      »Eine wilde Party, soso – und?«

      Seidel sah sie ängstlich an.

      »Nichts«, sagte er leise, »Hauptkommissar Mertens meinte, es lohne sich nicht, dem nachzugehen.«

      »Sie sind anderer Meinung?«

      Er nickte stumm, offensichtlich überwältigt vom Umstand, nach seiner Meinung gefragt zu werden.

      »Ich auch«, sagte sie. »Wir machen Folgendes: Wir klappern jetzt die Umgebung ab und sammeln Hinweise auf die Teilnehmer der Party. Sobald wir Namen haben, gehen Sie jedem Einzelnen nach und bestellen die Person zur Befragung aufs Präsidium am Treptower Park, verstanden?«

      Sie gab ihm ihr Kärtchen mit den Koordinaten und fügte hinzu:

      »Noch etwas: Wir benötigen Kopien aller Akten beim BKA, und lassen Sie sämtliche Asservate an die Kriminaltechnik in Wiesbaden schicken.«

      Sie schrieb ihm die Adresse ihrer Freundin Caro Lenz, Leiterin der KTU, auf die Rückseite. Seine Wangen glühten, während er die Aufträge notierte. Es gab ihr ein gutes Gefühl.

      Sie war ausgelaugt, als sie den Wagen beim BKA in Treptow parkte. Das Ergebnis der stundenlangen Suche nach Namen fiel ernüchternd aus. Drogenabhängige, die ihren eigenen Namen nicht kannten, Alkoholiker, die beim Stichwort Polizei sofort einschliefen, und unterernährte Hunde bevölkerten die Ruine des Asylheims. Ganze zwei Hinweise blieben übrig, die ihr Juniorpartner jetzt verfolgte. Als genügte das nicht, um ihre Laune zu verderben an diesem Freitagnachmittag, hielt der Regen hartnäckig an bis fast vor die Bürotür. Berlin mit nassen Straßen am Start ins Wochenende: nicht zu vergleichen mit Wiesbaden und Kloppenheim, wo sie früher gewohnt hatte. Staus wie eben auf der Brücke gab es dort nur an Ostern. Sie hatte es nicht anders gewollt.

      Es war ihr Vorschlag gewesen, den Arbeitsplatz in die Zentrale am Treptower Park zu verlegen, um hier mit Jamie zusammenzuziehen. Das Zentrum für regenerative Therapien in Berlin, BCRT, hatte ihn vom Imperial College in London abgeworben – mit einem Angebot, das er nicht ablehnen konnte. Der Abschied von den Kollegen in Wiesbaden war ihr etwas leichter gefallen, nachdem sich ihr Partner Sven nach Hamburg abgesetzt hatte. Die Liebe: Es gab endlich eine Frau, die sich nicht nur für seinen Porsche Spyder interessierte.

      Als Erstes fielen ihr die allgegenwärtigen Überwachungskameras auf, die hier jeden Pfosten schmückten, nicht nur jeden Zweiten wie in Wiesbaden. Beim Anblick rümpfte sie die Nase. Sie hatte sich den Einzug anders vorgestellt oder gar nicht, jedenfalls nicht so deprimierend. Der Eindruck besserte sich kaum, als sie das Büro betrat. Die Luft roch nach Schimmelpilz. Die nackten Möbel und leeren Schränke verbreiteten Endzeitstimmung. Dazu passte die vergilbte Reproduktion von Munchs ›Schrei‹ an der Wand. Auf dem Aktenschrank neben dem Pult stand ein Gemüse, das früher vielleicht einmal grün gewesen war. Die vertrockneten Blätter hätten wohl auch einem Gärtner Rätsel aufgegeben. Sie war allein und froh darüber. So brauchte sie die vernichtenden Kommentare nicht stumm zu schlucken. Eine Reihe Fenster wie in einem alten Schulhaus zeigte direkt auf das Backsteingebäude des Terrorismus-Abwehrzentrums, an das sie sich lieber nicht erinnerte. Kurbeln für die Rollläden gab es nicht. Automatische Jalousien: Der Architekt musste ein Sadist sein. Die geistige Mängelliste quoll über. Sie hätte ihr Saxofon mitbringen sollen, um die negativen Schwingungen zu kompensieren. Sinnlos, sich zu ärgern, sie würde ohnehin nicht viel Zeit in dieser Hightech-Folterkammer verbringen. Dafür gab es jetzt den Sklaven Seidel.

      Die Tür schwang auf.

      »Da sind sie ja. Ich habe Sie heute nicht mehr erwartet.«

      Die Frau, die ihr gegenüberstand, mochte zehn oder fünfzehn Jahre älter sein, hatte sich aber gut gehalten. Glattes Gesicht, ein wenig straff vielleicht, kurzes, braunes Haar, dunkelgrauer Zweiteiler mit Nadelstreifen, sonst war nichts auszusetzen an der Erscheinung, die so gar nicht zur eiskalten Stimme passen wollte. Chris kompensierte ihr ernstes Gesicht mit einem freundlichen Lächeln.

      »Staatsanwältin Winter, nehme ich an. Chris Roberts, freut mich.«

      Klara Winter trug keinen Ehering mehr. Der Abdruck war aber deutlich zu sehen. Solche Sachen fielen ihr jetzt auf. Daher rührte vielleicht die Unterkühlung. Es bestand also Hoffnung auf Besserung. Die Zeit heilt Wunden, sagt man. Die Staatsanwältin hielt sich nicht mit Begrüßungsfloskeln auf. Sie fragte nur:

      »Wo stehen wir?«

      »Die Akten sind unterwegs hierher. Die Beweisstücke werden zur KTU nach Wiesbaden geschickt. Ich rechne spätestens Dienstag mit Ergebnissen.«

      »Hat das LKA nicht schon alles untersucht?«

      Chris schüttelte den Kopf. »Die haben alle Arbeiten eingestellt, als sie hörten, dass wir den Fall übernehmen.«

      »Kann ich verstehen«, murmelte die Staatsanwältin, »heikel, sehr heikel.«

      »Immerhin wissen wir, dass Eddie Jones den Dienst bei der US-Navy vor zehn Jahren quittiert und seither in Deutschland gelebt hat«, sagte Chris. »Es gibt keine lebenden Verwandten mehr. Seine letzte Adresse ist ein Wohnblock in Marzahn. Wir werden die Nachbarn am Montagmorgen befragen.«

      »Wir?«

      »Referendar Seidel und ich. Kommissar Mertens überlässt ihn uns für die Dauer der Ermittlungen. Er kann ihn nicht leiden.«

      »Sind ja gute Voraussetzungen. Ein Student?«

      »Referendar mit ausgezeichneten Zensuren. Ich glaube, wir können ihn gut gebrauchen bei unserer Personalknappheit.«

      Die Staatsanwältin schüttelte den Kopf in gespielter Verzweiflung. »Können Sie sich vorstellen, welcher Papierkram da auf Sie wartet?«

      »Kein Formular, das ist der Deal.«

      »Aber – ein blutiger Anfänger?«

      »Das wird sich schnell ändern.«

      Wieder schüttelte Winter den Kopf. Sie starrte ihr eine Weile abwesend auf die Bluse, dann wandte sie sich ab mit der Bemerkung:

      »Ich will den jungen Mann sehen, sobald er auftaucht. Haben wir uns verstanden?«

      Weg war sie, ohne die Antwort abzuwarten. Das Handy summte: Referendar Seidel.

      »Chef, ich habe die Leute aufgespürt, die von der Party, wissen Sie.«

      »Ja, ich kann mich erinnern. So lautet Ihr Auftrag.«

      Seidel zögerte. »Das – ist das Problem. Namen und Adresse habe ich, aber da ist niemand zu Hause.«

      Er überholte sich selbst beim Sprechen, damit sie nicht unterbrach.

      »Es fand wohl eine Art Polterabend im alten Asylheim statt. Der Bräutigam ist in den Flitterwochen auf Mallorca. Der Aufenthalt des zweiten Mannes ist unbekannt. Ich habe versucht, das Hotel ausfindig zu machen über das Reisebüro, aber die haben schon geschlossen.«

      »Vergessen Sie nicht zu atmen«, unterbrach sie besorgt.

      Er nahm die Aufforderung ernst. »Ich atme ganz normal, Chef.«

      »Da bin ich ja beruhigt, Seidel, gute Arbeit. Aber jetzt schalten Sie einen Gang runter. Es ist Wochenende und die Zeugen laufen uns schon nicht weg, falls es überhaupt Zeugen sind, was ich im Übrigen stark bezweifle.«

      Das stimmte ihn nachdenklich. Es entstand eine kurze Pause, bevor er zaghaft fragte:

      »Chef,


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