Der zweite Killer. Hansjörg Anderegg
Читать онлайн книгу.Unsichtbaren in Berlin.
Hauptkommissar Lukas Mertens knallte die Tür des Chefs hinter sich zu. Er hatte schon schlimmere Tage erlebt aber nicht viele. Er brauchte dringend seinen Adidas zum Dreinschlagen, doch das ging nicht. Er war im Dienst. Also setzte er das Gesicht Marke grimmiger Boxer auf und hoffte, jemand möge ihm auf die Latschen treten.
Niemand eilte ihm entgegen, freudestrahlend, als interessierte es irgendein Schwein, was er zu sagen hatte. Ausgerechnet der Niemand musste ihm hier auf dem Flur begegnen, wo er ihn nicht ignorieren konnte wie im Büro. Der kleine Praktikant – Referendar, wie der Chef großspurig betonte – war schuld an seiner üblen Laune. Übler noch als sonst beim Betreten des Landeskriminalamts im Morgengrauen. »Kümmern Sie sich um den Referendar Seidel. Er ist begierig, von Ihnen zu lernen«, wollte ihm der Chef einreden. Vom Hauptkommissar zum Babysitter: geile Karriere. Der Junge war so grün hinter den Ohren, dass er ihn dauernd wässern wollte. Das ganze verdammte Strafgesetzbuch kannte er auswendig, aber Polizeiarbeit verwechselte er mit Fernsehkrimis. Zwei Wochen lang hatte er Niemand erfolgreich ignoriert, bis der Chef glaubte, das Problem nicht länger übersehen zu können. Mertens stellte den Schuh quer, um dem Referendar Gelegenheit für einen Fehltritt zu geben. Niemand blieb eine Handbreit davor stehen und rief:
»Herr Hauptkommissar, wir haben eine Leiche!«
»Was zum Teufel glauben Sie, wo wir hier sind, im Fundbüro?«
Die Frage stoppte wenigstens das Grinsen.
»Wir befinden uns in der Mordkommission, Herr Hauptkommissar.«
Wieder so eine Unart. Er konnte Leute nicht ausstehen, die stets in ganzen Sätzen antworteten. Hielten sich wohl für etwas Besseres, die arroganten akademischen Herrschaften.
»Mordkommission, Sie sagen es. Und womit beschäftigt sich eine Mordkommission?«
»Die Mordkommission beschäftigt sich mit Kapitalverbrechen.«
»Und?«
»Leichen«, flüsterte Niemand betroffen.
Jetzt verzog er die Mundwinkel. »Geht doch. Sehen Sie, Sie können ja auch normal reden.«
Das Gesicht des Jungen stimmte ihn versöhnlich.
»Also, was ist denn so besonders an dieser Leiche?«
»Sie ist neu. Heute Morgen um 8:10 Uhr, als Sie beim Chef …«
»Ich weiß, wo ich war!«
Niemand trat vorsichtshalber einen Schritt zurück. »Um 8:10 Uhr traf die Meldung einer Polizeistreife ein. Leichenfund beim alten Asylheim. Ein Mann, circa vierzig Jahre alt, schwarze Hautfarbe.«
»Schwarz? Gute Nacht!«
Mord aus Rassenhass gehörte nicht zu seinen Favoriten. Niemand fuhr zögernd weiter:
»Das Opfer ist offenbar durch einen einzigen Schuss in die Stirn aus nächster Nähe getötet worden. Spurensicherung und Rechtsmedizin sind unterwegs.«
»Das sollten wir uns nicht entgehen lassen«, brummte er.
»Wir?«
»Wir beide. Kommen Sie. Das wird ein Fest: Ihre erste Leiche.«
Die Leiche lag im Gras neben dem Feldweg hinter dem verfallenen Gemäuer des alten Asylheims, wie Niemand berichtet hatte. Das wenige Blut überraschte Mertens nicht, wohl aber die Präzision des Schusses. Das Loch in der Stirn sah aus wie aufgemalt. Noch seltsamer erschienen ihm Kleidung und Lage des Toten.
»Er sieht aus wie aufgebahrt«, flüsterte ihm der blasse Referendar ins Ohr und beschrieb damit die Lage ziemlich genau.
»Er kann Sie nicht hören«, gab Mertens ebenso leise zurück.
Der Tote trug seinen besten Anzug, wie es schien, Hose frisch gebügelt, Jackett sorgfältig zurecht gezupft, die Hände wie zum Gebet gefaltet, als wollte ihm der Mörder so die letzte Ehre erweisen.
»Schlechtes Gewissen oder neuartiges Ritual?«, fragte er sich laut.
»Sieht eher nach einem Gnadenschuss aus«, sagte der Pathologe.
»Wie pervers ist das denn!«, platzte Niemand heraus.
Mertens und der Rechtsmediziner wechselten einen Blick, der deutlich ausdrückte, dass beide anderes gewohnt waren.
»Seine Erste«, murmelte der Kommissar, während er an den Händen des Opfers vergeblich nach Abwehrspuren suchte. »Sonst irgendwelche Verletzungen?«
»Nicht auf den ersten Blick. Der Mann scheint ruhig auf den Schuss gewartet zu haben, ohne sich zu wehren.«
Er drehte den Kopf der Leiche zur Seite, um die klaffende Austrittswunde zu zeigen.
»Präzisionsschuss aus circa einem Meter Abstand. Der Mann war sofort tot.«
Mertens nickte. »Fundort gleich Tatort?«
»Definitiv. Die Techniker haben Patronenhülse und Projektil sichergestellt.«
Der Täter war also kaum ein professioneller Killer – oder einer, der sich sehr sicher fühlte. Der Mediziner fasste dem Toten unter die Schulter.
»Kann mir mal jemand helfen? Ich muss mir die Rückseite ansehen.«
Mertens stand wie durch ein Wunder schon bei der Chefin der Kriminaltechnik und rief Niemand zu:
»Anfassen, junger Mann!«
Die Patronenhülse im Plastikbeutel stimmte ihn nicht euphorisch: Kaliber 9 mm, Massenware, sehr verbreitet.
»Sonst gibt es keine Spuren am Tatort«, versicherte die Technikerin, »nicht einmal verwertbare Fußabdrücke außer denjenigen der Zeugen.«
Der Täter war ein verdammter Geist, der schießen konnte wie ein Profikiller. Dieser Fall gefiel ihm schon jetzt nicht mehr. Mürrisch wandte er sich an die Zeugen. Der Alte und die sportliche junge Dame beantworteten die Fragen ebenso mürrisch. Fragen, die sie alle schon beantwortet hatten. Am Ende bestätigte sich, was von Anfang an zu befürchten war: Die Zeugen hatten nur den Leichnam im Gras liegen sehen, sonst gar nichts. Nach den vorläufigen Angaben des Pathologen war der Alte mit seinem Hund nur wenige Minuten zu spät am Tatort erschienen – glücklicherweise. Sonst gäbe es hier mit Sicherheit ein bis zwei zusätzliche Kunden für die Pathologie. Er kehrte an den Tatort zurück.
»Keine äußeren Verletzungen, keine Abwehrspuren«, bestätigte der Mediziner, nachdem er auch die Rückseite der Leiche untersucht hatte. »Das Opfer muss dagestanden haben, hat seinem Mörder ruhig ins Gesicht gesehen, als es passiert ist.«
Sein Tonfall verriet eine gewisse Verblüffung, die Mertens vorbehaltlos teilte. Ging es so weiter, entwickelte sich der Mordfall bald zu einem Fall aktiver Sterbehilfe.
»Was steht auf dem Grabstein?«, fragte er.
Das Medaillon auf der Brust des Toten ähnelte einer Erkennungsmarke der Bundeswehr.
»Das ist ein sogenannter Dog tag, Herr Kommissar«, warf Niemand ein wie aus der Pistole geschossen.
»Eine Hundemarke?«
»Dog tags nennt man im angelsächsischen Sprachraum umgangssprachlich Erkennungsmarken der Streitkräfte.«
»Was Sie nicht sagen. Unser Kunde war also ein angelsächsischer Soldat?«
Referendar Seidel schluckte leer, bevor er weitersprach:
»Soldat oder Ex-Soldat der Vereinigten Staaten. Unser Toter heißt Jones, Eddie. Er ist männlich, katholisch und diente bei der US-Navy. Das sieht man am USN auf dem Dog tag.«
»Männlich, soso. Sozialversicherungsnummer?«
Zu seiner Überraschung spulte Niemand die neun Ziffern ohne Zögern ab. Mertens konnte nur den Kopf schütteln.
»Ich kann mir eben Zahlen gut merken«, verteidigte sich der Referendar kleinlaut.
»Schon gut, daran ist noch