Der zweite Killer. Hansjörg Anderegg
Читать онлайн книгу.der Punkt, vor dem ihm graute: Ermittlungen bei den Amis. Bisher hatte er nur einmal Informationen benötigt von den guten Freunden jenseits des großen Teichs. Es war keine schöne Erinnerung. Er fragte sich noch heute, wie er damals ohne bleibenden Schaden wieder von der Decke heruntergekommen war. Wenn die Amis nichts sagen wollten, sagten sie nichts, Gerichtsbeschluss und Antragsformular hin oder her, Punkt. Vielleicht lag es auch ein wenig an seinem miserablen Englisch. Fluchen musste er jedenfalls auf Deutsch. Die Antwort war ein verständnisloses Lächeln gewesen.
Nein, er verspürte nicht das geringste Bedürfnis, sich nochmals mit denen anzulegen. Genau in diesem Augenblick flüsterte ihm ein barmherziger Engel eine geniale Idee ins Ohr.
Dahlem
Der Parkettboden im Flur knarrte beruhigend unter den Füßen wie im Haus ihrer Jugend im nahen Potsdam. Der Spiegel an der Garderobe, halb erblindet, wirkte wie ein Weichzeichner. Er musste gut und gerne hundert Jahre alt sein wie das Haus. Chris hörte Jamies Schritte im Obergeschoss. Sie trat näher an den Spiegel heran, bis die Nasenspitze beinahe das Glas berührte. Sah man die Veränderung in ihrem Gesicht? Sahen Ehefrauen anders aus als Singles? Vor der Heirat mit Dr. Jamie Roberts hatte sie das ernsthaft geglaubt. Sie wirkte älter, gesetzter, anders als vor der Hochzeit, fand sie. Also doch. Oder war es Wunschdenken, weil sie sich auch nach einem halben Jahr noch nicht ans neue Leben gewöhnt hatte?
Sie spielte nachdenklich mit ihrem dicken, strohblonden Zopf. Für diese Haarpracht brauchte sie einen Waffenschein wie für die Glock in ihrem Schulterhalfter. Der Zopf hatte Jamie bei der ersten Begegnung den Verstand geraubt. Sie brauchte nur das Haar hängen zu lassen wie Rapunzel, schon griff der sonst so kühle und brillante Mediziner danach wie ein Ertrinkender nach der Rettungsleine. Das Geflecht hatte magische Kräfte. Anders war seine Wirkung auf Jamie und Männer im Allgemeinen nicht zu erklären. Wie sonst könnte ein mit rationalem Verstand gesegneter Mann, selbst ein zu allem entschlossener Engländer, sich auf eine Beziehung zu einer Kommissarin beim Bundeskriminalamt, Abteilung SO für schwere und organisierte Kriminalität, einlassen? Fortgeschrittener Masochismus wäre eine Erklärung. Nicht bei Jamie. Nein, es war der magische Zopf. Selbst Frauen waren nicht sicher vor dieser gemeinen Waffe. Jedenfalls hatte sie schon mehrfach verstörende Signale empfangen.
Eigentlich ganz niedlich, dachte sie über das Bild im Spiegel. Andererseits – sie war jetzt Mrs. Roberts, nicht mehr Fräulein Hegel, Da passte ein Adjektiv wie niedlich schlecht dazu. Sie musste sich verändern, den alten Zopf abschneiden.
Jamie kam die Treppe herunter. Er warf ihr einen gequälten Blick zu.
»Ich weiß nicht, Darling«, seufzte er mit Sorgenfalten auf der Stirn.
»Kannst du Gedanken lesen?«
»Excuse me?«
»Nichts«, lachte sie. »Gefällt dir das Haus nicht?«
Es war die Mutter aller rhetorischen Fragen. Die Bezeichnung Haus wurde dem Bauwerk aus der Jahrhundertwende an ruhiger Wohnlage in Dahlem in keiner Weise gerecht. Sie befanden sich in einer Villa: Zimmer, in denen man atmen konnte, mit hohen Decken, entsprechend großen Fenstern, durch die viel Licht herein flutete. Und der romantisch wuchernde Garten mit dem Pavillon unter der alten Buche – sie konnte nicht erwarten, hier einzuziehen. Solcher Luxus wäre unerschwinglich für sie beide ohne ihre guten Beziehungen zum pommerschen Uradel. Ein Kollege aus Schwerin, Hauptkommissar Alexander von Kleist, vermietete das Bijou zum Schnäppchenpreis: 1’200 Euro statt 5’000 oder mehr. Der Mann hieß tatsächlich so. Blutsverwandt mit dem Autor des ›Michael Kohlhaas‹, wäre auch er verarmt ohne die reiche Tante, die ihm das Haus vererbt hatte – wie das Geld für seine Armani-Anzüge. Kleist zog es nicht nach Dahlem, also würde das Ehepaar Roberts-Hegel hier einziehen, so wahr sie Chris hieß und Mörder jagte. In Jamies Gesicht las sie etwas anderes. Er ließ sich Zeit mit der Beantwortung ihrer Frage.
»Ja – nein – doch – das ist es nicht«, stammelte er schließlich.
Sie wartete.
»Es ist etwas groß für uns zwei, findest du nicht?«
Es war ihm peinlich. Sie wartete weiter.
»Also – die Wohnung in Berlin ist doch auch sehr romantisch und außerdem mitten in der Stadt.«
Sie begann, ihren Zopf zu zwirbeln und fragte: »Zwei Zimmer für 1’500 Euro findest du romantisch?«
Er zuckte verlegen mit den Achseln. Sie griff ihm unter den Arm und dirigierte ihn ans Fenster zum Park, wie sie den Wildwuchs hinter dem Haus nannte.
»Sieh mal, da könntest du deinen Kräutergarten pflanzen.«
Er blickte lange schweigend hinaus, als suchte er den sonnigsten Fleck für sein Gemüse. Dann nickte er und murmelte:
»Zitronenmelisse hat sich schon angesiedelt.«
Sie belohnte die Beobachtung mit einem leidenschaftlichen Kuss. Der Widerstand war noch nicht gebrochen aber so gut wie. Er ging zurück in den Flur.
»Ich sehe mich mal hier unten um.«
»Tu das, die Küche ist im Westflügel«, rief sie ihm nach.
Ihre erste gemeinsame Wohnung in Berlin war ein teurer Witz, eine Notlösung, nichts weiter. Der einzige Vorteil: Sie gelangten beide in zwanzig Minuten zu Fuß an den Arbeitsplatz. Falls man das als Vorteil bezeichnen wollte. Daraus würde nun eine halbe Stunde Autofahrt oder eine Stunde radeln nach ihren Ermittlungen. So what? Hier stimmte alles. Die Lage, das Gebäude, der Park mit dem Gartenhäuschen, das zu allerlei Zeitvertreib einlud: perfekt. Ihr Herz aber hatte sie im Dachgeschoss verloren. Es war ein Saal mit riesigem ovalem Oberlicht. Atelier, Labor und Musikzimmer gleichermaßen oder einfach ein Ort zum Träumen. Sie brauchte sich nur auf den Boden zu legen und befand sich im Himmel. Dieses Zimmer allein machte den Umzug aus Kreuzberg unumgänglich.
Ein lauter Ruf riss sie jäh aus ihrem Tagtraum. Nach wenigen Sätzen stand sie im Westflügel. Jamie kehrte ihr den Rücken zu. In tiefe Kontemplation versunken, ließ er seinen Blick durch die Halle von der Größe ihrer Berliner Wohnung schweifen.
»Good Lord, hast du schon so eine Küche gesehen?«
»Nein«, gab sie zu.
Er wagte kaum laut zu sprechen, so sehr ergriffen ihn Atmosphäre und Großzügigkeit dieses kulinarischen Tempels. Kein Zweifel: Diese Küche war sein Dachgeschoss, und er war ihr mit Haut und Haar verfallen. Andächtig strich er mit der flachen Hand über das alte Holz des Tisches, an dem zwanzig Leute bequem Platz fanden.
»Wir könnten Gäste einladen, Schaukochen veranstalten, einen Dinner Club für Musikfreunde gründen. Vielleicht einmal im Monat, was meinst du?«
Ihr wurde schwarz vor Augen. Sie betrachtete sich nicht als Misanthrop, aber jeden Monat Parties mit zehn oder zwanzig Gästen? Ein Dutzend Einwände lagen ihr auf der Zunge, bis sie sich daran erinnerte, dass sie beide sowieso keine Zeit für solche Späße übrig hatten. Sie schenkte ihm daher ein süßes Lächeln und fragte nur:
»Dann ziehen wir also ein?«
»Keine Frage.«
»Eines musst du mir allerdings versprechen«, fügte sie mit ernster Miene hinzu. »Ich beharre auf dem Vetorecht bei der Gästeliste.«
»Selbstverständlich, ich auch.«
Ihr Telefon summte, eine unterdrückte Nummer.
»Ja bitte?«
»Dr. Christiane Roberts?«
»Am Apparat.«
»Tag Frau Kommissarin. Ich bin Staatsanwältin Klara Winter, SO, Treptow. Wir sind für Montag verabredet.«
»So steht‘s in meinem Kalender«, antwortete Chris kühl.
Sie kannte die Chefin am neuen Arbeitsplatz am Treptower Park noch nicht, wusste jedoch genau, worauf dies hinauslief. Arbeitsbeginn Montag 8:00 Uhr, hieß es in der Vereinbarung. Auch ein Witz.
»Wir haben ein Problem«, begann die Staatsanwältin wie erwartet.