Der zweite Killer. Hansjörg Anderegg

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Der zweite Killer - Hansjörg Anderegg


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nickte. »Wir werden sie gleich fragen.«

      Acht Uhr war vorbei. Der Verwalter ließ sich noch immer nicht blicken. In der Wohnung gab es nichts mehr zu sehen. Sie beschloss, mit der Befragung zu beginnen. Die Tür des Nachbars zur Linken öffnete sich, als sie auf den Flur traten. Eine alte Dame, deren sorgfältig lackierte Fingernägel wohl ihren einzigen Luxus darstellten, kam ihnen entgegen.

      »Wer sind Sie, was haben Sie in Mr. Jones Wohnung zu suchen?«, fragte sie streng.

      Der Ausweis beruhigte sie nur teilweise. Sie musterte den jungen Referendar misstrauisch.

      »Schon wieder Polizei? Ich kann mir nicht vorstellen, dass der nette Mr. Jones etwas verbrochen hat, im Gegensatz zum andern Gesindel in diesem Haus. Alles Ganoven, wenn Sie mich fragen. Aber vor Mr. Jones haben alle großen Respekt. Wissen Sie, früher …«

      »Sie kennen ihn gut?«, unterbrach Chris rasch, um Seidel an einer unvorsichtigen Bemerkung zu hindern.

      »Natürlich, was denken Sie denn, wir sind Nachbarn.«

      »Natürlich. Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?«

      Die Frau sah sie an, als vermute sie unanständige Hintergedanken. Dann antwortete sie so, dass nur Chris es hören sollte:

      »Freitagmittag vor einer Woche.«

      »Seither nicht mehr?«

      Sie schüttelte traurig den Kopf. »Er müsse eine Weile weg, hat er gesagt.«

      »Wohin?«

      »Keine Ahnung.«

      Die Frau schien Eddie Jones recht gut zu kennen. Chris stellte ihr die üblichen Fragen nach dem Befinden des Opfers in der letzten Zeit, Auffälligkeiten, Freunden, Feinden, Besuchern, Auseinandersetzungen, die sie vielleicht beobachtet hatte. Die Antwort war stets eine Variante von: Mr. Jones war ein ruhiger, anständiger Mensch. Die Nachbarin wurde misstrauisch.

      »Warum stellen Sie mir all die seltsamen Fragen? Ihm ist doch nichts zugestoßen?«

      Sie musste der alten Dame die Wahrheit sagen. Offenbar hatte sie die Zeitungsmeldung übersehen, oder sie las keine Zeitungen. Eine Todesnachricht zu überbringen, empfand Chris als schlimmste Pflicht in ihrem Beruf. Die Eröffnung schockierte Eddie Jones’ Nachbarin, als hätte sie ihren eigenen Sohn verloren. Die Fassungslosigkeit der alten Dame übertrug sich auf Seidel. Stumm notierte er die spärlichen Ergebnisse weiterer Befragungen, bis Chris sich schließlich nach seinem Befinden erkundigte. Er zögerte mit der Antwort, suchte nach Worten.

      »Wie schaffen Sie das?«, murmelte er nach einer Weile undeutlich.

      »Was meinen Sie?«

      Er gestikulierte hilflos mit den Armen. »Das alles – nicht an sich heranzulassen.«

      »Gar nicht«, gab sie unumwunden zu. »Man kann so etwas nicht einfach wegstecken. Es ist der Punkt, wo aus Opfern Menschen werden, Menschen mit Beziehungen zu andern Menschen.« Nach kurzer Pause fügte sie hinzu: »Das war ehrliche Trauer. Die Nachbarin trauert um den Toten, ein tröstlicher Gedanke, finden Sie nicht?«

      Die Ankunft des Hausverwalters unterbrach sie. Außer Atem entschuldigte er sich für die Verspätung und reichte ihr eine Mappe mit Dokumenten.

      »Mietvertrag, Referenzen, Adresse des Arbeitgebers, alles da, wie Sie sehen«, bemerkte er dazu.

      Er sah das zerschnittene Siegel und strahlte.

      »Heißt das, die Wohnung ist freigegeben?«

      »Leider nein, Sie müssen sich gedulden, bis der Fall abgeschlossen ist.«

      Er wich entsetzt einen Schritt zurück. »Aber – wie lang dauert das noch? Die Wohnung muss gereinigt werden, bevor die neuen Mieter einziehen.«

      »Neue Mieter? Das ging aber flott.«

      »Was glauben Sie, wie lang unsere Warteliste ist?«

      Es gab zwar kaum bezahlbaren Wohnraum in dieser Stadt, aber Eddie Jones‘ Wandschrank konnte man auch nur mit viel gutem Willen als Wohnung bezeichnen. Sie schwieg und staunte über die nächste Bemerkung des Hausverwalters:

      »Mr. Jones hat die Wohnung vorletzte Woche gekündigt. Da mussten wir natürlich handeln.«

      »Wann genau war das?«

      »Die Kündigung? Wir haben sie Freitag vor einer Woche erhalten.«

      Zur gleichen Zeit hatte sich Eddie Jones von der Nachbarin verabschiedet nach der Räumung seiner Wohnung. Es war ein Abschied für immer, und er wusste es, wie eine Katze, die sich zum Sterben in ein dunkles Versteck verkriecht. Die Kopie der Kündigung lag bei den Dokumenten des Hausverwalters. Sie enthielt keine Begründung.

      »Gab es Schwierigkeiten am Arbeitsplatz?«

      Der Hausverwalter zuckte die Achseln. »Mir ist nichts bekannt, aber das müssen Sie bei Siemens nachfragen. Er hat dort im Sicherheitsdienst gearbeitet. Steht alles in den Unterlagen.«

      Bevor sie wieder ins Auto einstiegen, sagte sie zu Seidel:

      »Melden Sie uns bei Siemens an. Wir möchten mit dem Personaldienst und den Kollegen sprechen.«

      Sie selbst musste nachdenken.

      Die Lagebesprechung bei Staatsanwältin Winter geriet zur Nagelprobe für den armen Seidel. Sie richtete die Fragen nur an ihn, begierig darauf, den jungen Mann bei einem Fehler zu ertappen. Ihr Verhalten erinnerte Chris fatal an den Griesgram Mertens. Seidel schwitzte Blut. Man sah es ihm an. Umso lustvoller versuchte Winter, ihn in die Enge zu treiben. Chris bereitete sich auf die Rettung in letzter Sekunde vor, doch er hielt stand, wiederholte die Fakten sachlich, auch wenn sie zum dritten Mal danach fragte. Auch ihre eigenen Recherchen bei der US-Navy gab er korrekt wieder. Sie konnte sich zurücklehnen und einmal mehr im Geiste Hauptkommissar Mertens danken.

      »Wie wir wissen«, fuhr er fort, »hat Mr. Jones als SCPO der US-Navy in Afghanistan gedient. Dort ist er schwer verwundet worden. Nach einem längeren Klinikaufenthalt im Lazarett Landstuhl bei Kaiserslautern hat er vor zehn Jahren den Dienst quittiert. Seither führte er ein zurückgezogenes, unauffälliges Leben in Deutschland. Er ist jedenfalls nicht aktenkundig.«

      Die Staatsanwältin öffnete den Mund, doch er nahm ihre Frage vorweg:

      »SCPO ist das offizielle Kürzel für Senior Chief Petty Officer, was etwa dem Stabsbootsmann der Deutschen Marine, also einem höheren Unteroffiziersrang, entspricht.«

      Immer noch kein Fehler. Die Enttäuschung stand der Staatsanwältin ins Gesicht geschrieben. Mangels Alternative wandte sie sich an Chris und fuhr sie an:

      »Mir scheint, wir gewinnen jedes Quiz über Mr. Jones, aber gibt es vielleicht auch einen winzigen Hinweis auf den Täter?«

      »Nur Vermutungen. Wir stehen erst am Anfang.«

      Winter spielte ungeduldig mit ihrem Stift und wartete. Da niemand weitersprach, platzte ihr der Kragen:

      »Verdammt, wissen Sie, was da los ist? Die Presse rennt mir die Bude ein. Ein schwarzer US Soldat von einem Profikiller mitten in Berlin erschossen – ein Albtraum!«

      »Vor allem für den Soldaten«, bemerkte Chris kühl.

      Sie konnte es nicht lassen. Die Presse interessierte sie einen feuchten Kehricht, und an den Profikiller glaubte sie nicht. Der hätte sich nicht mit einem einzigen Schuss zufriedengegeben. Drei Schüsse in Kopf und Herz, um sicher zu gehen, das war die übliche Methode. Sie verspürte keine Lust, die Winter aufzuklären. Die Sitzung hatte schon zu viel Zeit gekostet, doch die Staatsanwältin gab noch nicht auf:

      »Können wir ein rassistisches Motiv ausschließen?«

      »Erst, wenn wir den Täter gefasst haben«, antwortete Chris getreu nach Lehrbuch.

      »Das weiß ich auch. Vielen Dank für die Aufklärung. Ich will aber wissen, was Sie denken.«

      »Eddie Jones hat seinen Abgang geplant, so viel ist bekannt. Er hat die tödliche


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