Der zweite Killer. Hansjörg Anderegg

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Der zweite Killer - Hansjörg Anderegg


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      Sie sah auf die Uhr: Feierabend, Wochenende. Der junge Mann hatte kein Privatleben. »Ideale Voraussetzung für diesen Job«, murmelte sie beim Auflegen.

      Es klopfte.

      »Herein«, sagte sie verwundert, als niemand ins Zimmer stürzte.

      Die Tür ging auf. Zuerst erschien ein kleiner Kaktus. Ihm folgte ein Mann am Stock mit schütterem, grauem Haar, dessen Bauch vom Mangel an Bewegung zeugte. Er stellte den Topf auf den Schreibtisch und streckte ihr strahlend die Hand entgegen.

      »Tach Frau Kommissar. Jens Haase, Faktotum im Innendienst mit steifem Bein und Mädchen für alles in diesem Irrenhaus.«

      »Alles klar«, lachte sie und erwiderte den kräftigen Händedruck. »Für mich?«, fragte sie mit einem Blick auf den grünen Zwerg.

      Er nickte. »Auf die Schnelle konnte ich nichts anderes finden. Wir haben Sie erst am Montag erwartet.«

      »Der ist niedlich, danke.«

      Sie betrachtete die Pflanze genauer. Im Moment, als sie den gelben Punkt bemerkte, klarte es draußen auf. Die letzten Strahlen der Abendsonne brachen durch die Regenwolken. Warmes Licht verwandelte das Büro in einen halbwegs erträglichen Arbeitsplatz.

      »Er bekommt eine Blüte«, sagte sie lächelnd.

      »Unmöglisch, der hat noch nie jeblüht.«

      »Da, sehen Sie.«

      Es wurde wieder düster im Raum. Die Rollläden, diese Intelligenzbestien, reagierten auf das Sonnenlicht. Ihr Gesicht war eine einzige Anklage. Jens Haase begriff sofort.

      »Das haben wir gleich, warten Sie.«

      Er humpelte davon. Nach kurzer Zeit kehrte er mit schwarzem Klebeband und Werkzeug zurück.

      »Ich kann es leider nicht selbst tun. Das Bein, wissen Sie. Aber ich sage Ihnen, wie‘s geht. Es ist ganz einfach.«

      Er versprach nicht zu viel. Mit wenigen Handgriffen gelang es ihr, den Sensor zu verkleben. Die Rollläden fuhren hinauf und blieben oben. Sie fühlte sich schon fast zu Hause am Treptower Park. Ihr neuer Kollege grinste zufrieden. Sie nahm sich vor, Jens Haase trotz Innendienstes nie zu unterschätzen.

      »Bin in der Bierstube«, meldete ihr Handy.

      »Mist!« Sie hatte Jamie ganz vergessen. »Ich muss mich entschuldigen«, sagte sie zu Haase. »Bleiben Sie noch eine Weile?«

      »Ich bin immer da.«

      Das Lachen blieb ihr im Halse stecken, denn er meinte es durchaus ernst. Noch einer ohne Privatleben. Sie begann, sich schuldig zu fühlen. Jetzt, da sie erste, zaghafte Versuche unternahm, so etwas wie eine Familie zu gründen.

      »Ich bitte Sie um einen Gefallen. Noch einen«, fügte sie nach kurzem Zögern lächelnd hinzu. »Referendar Horst Seidel wird in Kürze mit den Akten eintreffen. Er soll für eine Weile hier arbeiten. Würden Sie sich bitte um den Jungen kümmern? Staatsanwältin Winter ist informiert.«

      »Oh, Sie hatten schon das Vergnügen.«

      »Weiß nicht, ob man es so bezeichnen kann. Sie hat wohl nicht viel Spaß im Leben.«

      Haase nickte zustimmend. »Das ist offensichtlich. War sie sehr kurz angebunden?«

      »Sehr.«

      Seine Mundwinkel wanderten wieder nach oben. »Dann hat sie Angst.«

      »Angst?«, rief Chris verblüfft aus, »wovor?«

      »Vor Ihnen, Frau Kommissar.«

      Er wollte die seltsame Antwort nicht begründen, dennoch sorgte sie für gute Laune, als sie das Haus verließ.

      Montagmorgen. Seidel saß am Steuer des Dienstwagens. Ihr Sklave navigierte geschickt durch den Berufsverkehr, obwohl er sich seit Arbeitsbeginn am frühen Morgen mit Selbstzweifeln zerfleischte.

      »Es tut mir echt leid«, wiederholte er zum dritten oder vierten Mal. »Sie müssen mir glauben, Chef. Ich habe keinen Aufwand gescheut. Die Zeugen auf Mallorca waren während des ganzen Wochenendes nicht erreichbar. Es ist zum Verzweifeln, echt jetzt.«

      Sie konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Er sprach nicht nur in ganzen, korrekten, deutschen Sätzen. Auch der Genitiv war ihm nicht fremd, eine Seltenheit unter jungen Leuten. Um ihn abzulenken, wechselte sie das Thema:

      »Sobald wir zurück sind, sollten Sie bei Staatsanwältin Winter vorbeischauen.«

      Der Wagen drohte, auf den Bürgersteig auszubrechen, so heftig riss er am Lenkrad, als er herumfuhr, die Augen weit aufgerissen, das Gesicht grau wie auf einem Schwarz-Weiß-Foto. Er korrigierte erschrocken. Der Wagen beruhigte sich.

      »Was kann Frau Staatsanwältin Winter von mir wollen?«, fragte er heiser.

      »Erschrecken Sie jetzt nicht wieder«, warnte sie. »Sie will Sie kennenlernen.«

      »Staatsanwältin Winter will mich kennenlernen? Warum möchte sie das?«

      Die Frage klang verzweifelt.

      »Keine Panik, Seidel. Ich glaube, sie steht nicht auf junge Männer. Sie will nur wissen, mit wem sie‘s zu tun hat. Das ist alles.«

      Es schien ihn nicht zu beruhigen.

      »Sie werden doch dabei sein?«, fragte er ängstlich.

      Es kostete sie einige Anstrengung, nicht zu lachen. Glücklicherweise brauchte sie nicht zu antworten, denn sie näherten sich dem Häuserblock am Ende der Quartierstraße in Marzahn, wo Eddie Jones gewohnt hatte.

      »Am besten überlassen Sie mir das Reden«, sagte sie beim Aussteigen.

      Der Block erinnerte an DDR Zeiten, obwohl die Häuser kaum älter als zehn, fünfzehn Jahre sein konnten. Grauer Verputz bröckelte von grauem Beton und eingeschlagene Fensterscheiben im Erdgeschoss ließen nichts Gutes erahnen. Umso erstaunter stellte sie fest, dass Mr. Jones Wohnung nicht aufgebrochen worden war und das Polizeisiegel unversehrt an der Tür klebte.

      »Wo bleibt der Hausverwalter? Haben sie ihn nicht informiert, Seidel?«

      »Doch, selbstverständlich habe ich ihn informiert, aber wir sind wohl etwas zu früh.«

      »Besser früh als zu spät«, brummte sie und versuchte, die Tür aufzustoßen.

      Sie war verschlossen, was bei Seidel hektische Aktivität auslöste. Er nestelte aufgeregt in seiner bodenlosen Aktentasche, bis er einen Schlüsselbund in einem Plastikbeutel zutage förderte.

      »Ich dachte, wir könnten Mr. Jones Schlüssel heute brauchen«, sagte er verlegen. »Ich habe das Asservat deshalb zurückbehalten. Hätte ich das nicht …«

      »Seidel, Seidel!«, unterbrach sie schmunzelnd. »Geben Sie schon her.«

      Der Junge hatte eine große Karriere vor sich. Die Wohnung bestand im Wesentlichen aus dem Wohnzimmer mit einem Wandschrank, in dem Küche und Bad zusammen Platz gefunden hätten. Sie blieb verblüfft stehen.

      »Was fällt Ihnen auf, Seidel?«

      »Man sollte lüften.«

      »Das auch, sonst?«

      Er zuckte die Achseln und lief rot an.

      »Sehen Sie Kleider, Schuhe, sonst irgendetwas, was auf den Bewohner hindeutet?«

      »Stimmt, nicht einmal ein Handtuch im Bad«, gab er in ungewohnter Kürze zu.

      Die Billigmöbel standen noch da, Bratpfanne und Suppentopf nebst einigen Gläsern und Besteck in der Küche ebenfalls, aber sonst erweckte die Wohnung den Eindruck, der Mieter wäre ausgezogen.

      »Gibt es in den Akten einen Hinweis auf seine neue Anschrift?«

      Seidel schüttelte den Kopf, sprachlos, als trüge er die Schuld an der Verwirrung. Wer hatte hier ausgeräumt? Wollte jemand Spuren beseitigen? Der Scharfschütze vielleicht? Als läse er ihre


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