Der zweite Killer. Hansjörg Anderegg
Читать онлайн книгу.wollte nachsehen, doch Ludwig versperrte ihm den Weg, prügelte jetzt auf ihn ein und schrie weiter.
»Ist ja gut, Ludwig«, versuchte er zu beruhigen.
Gleichzeitig begann sein Herz schneller zu schlagen. Nichts war gut, wenn Kati im Bad saß und nicht antwortete. Warum sollte sie sich einschließen? Seine Gedanken überschlugen sich. Er schob Ludwig unsanft zur Seite und drückte auf die Klinke. Die Tür war nicht verschlossen, doch etwas blockierte sie. Er drückte kräftiger dagegen.
»Kati?«
Angst schwang jetzt in seiner Stimme mit. Er versuchte nicht, sie zu verbergen. Durch den Spalt sah er Katis Füße. Sie lag am Boden. Ihr Körper war es, der die Tür blockierte. Er sah und hörte Ludwig nicht mehr, hatte nur noch Augen für seine Frau, die krumm und reglos am Boden lag, als hätte sie ein Gaul in den Magen getreten.
»Kati, um Gottes willen …«
Seine Stimme versagte. Die Knie gaben nach. Er sank neben ihr zu Boden, bettete ihren Kopf in den Schoß und streichelte ihr Haar, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Ein Wimmern wie aus weiter Ferne löste die Schockstarre. Sie regte sich, versuchte sich aufzurichten und zuckte mit einem spitzen Schrei zusammen. Ludwig warf sich weinend auf seine Mutter. Sie versuchte, zu sprechen, aber selbst die Bewegung der Lippen löste neue Krämpfe aus. Alois‘ Hände zitterten. Er drückte seiner Kati einen Kuss auf die fieberheiße Stirn und presste ein paar heisere Worte heraus, von denen nur »Krankenwagen« zu verstehen war. Sie schien nicht verletzt zu sein. Jedenfalls sah er kein Blut. Ihr Magen quälte sie bis zur Bewusstlosigkeit. Seine eigenen Därme begannen sich zu verknoten, während er die Treppe hinunter stolperte zum Tisch, auf dem das Handy lag.
Kati hatte das Bewusstsein wieder verloren, als er ins Bad zurückkehrte. Die zehn Minuten bis zum Eintreffen des Notarztes genügten nicht, um Ludwig zu beruhigen. Er glaubte, Mama sei gestorben und überhäufte ihn in seiner Not mit Vorwürfen und wüsten Beschimpfungen. Alois ließ es wie üblich an sich abprallen. Er hörte ohnehin nicht richtig zu. Seine Gedanken waren bei Kati.
»Ins LRMC nach Landstuhl«, wies er den Fahrer des Rettungswagens an.
Kati arbeitete dort seit Jahren als Nurse, er als Techniker. Das US-Lazarett, eine Stadt am Rande der Stadt, war ihre zweite Heimat geworden. Katis Vertrauensärztin wirkte schon beinahe so lang im Medical Center wie sie als Schwester.
Ludwig wich auf dem Weg zum Lazarett nicht von Katis Seite. Daran änderte auch die Beruhigungsspritze nichts. »Wahrscheinlich akute Darmentzündung«, war die vorläufige Diagnose, die er von den Ärzten hörte. Sie brachten seine Frau auf die Intensivstation.
»Mama braucht jetzt absolute Ruhe, damit sie schnell wieder gesund wird«, versuchte er dem Knaben zu erklären.
Ludwig hörte ihm nicht zu. Aufgeregt lief er vor der Scheibe auf und ab, die ihn vom Krankenbett trennte. Hin und wieder blieb er stehen, drückte die Nase platt und klatschte die flache Hand aufs Glas, um ihr zu zeigen, dass er für sie da war. Kati schlief im Halbdunkel, von starken Schmerzmitteln ruhiggestellt. Alois konnte sie nicht fragen, wie in aller Welt er die nächsten Stunden der Ungewissheit mit dem verängstigten Ludwig an der Seite überstehen sollte.
Landstuhl
Der Offizier in khakifarbener Uniform der US-Navy fiel niemandem auf beim Betreten des Medical Centers. Routiniert erwiderte er den Gruß eines weiblichen Sergeanten. Er kannte sich aus im Lazarett, denn kaum etwas hatte sich verändert seit seinem letzten Aufenthalt – außer dem vietnamesischen Gesicht am Empfang.
»Wo finde ich Dr. Fisher, 1st Lieutenant Matt Fisher?«
Die schlanken Finger der Soldatin huschten über die Tasten des Computers.
»Haus 12, Sir«, sagte sie mit verbindlichem Lächeln. »Wenn Sie die Straße beim Eingang links hinauffahren …«
»Danke, ich weiß Bescheid.«
Auch das war gleich geblieben. Haus 12, das Haus der Pest. Dort isolierte man die armen Teufel mit ansteckenden Krankheiten, damals wie heute. Auf dem Weg zum Haus 12 stellte er fest, dass sich doch etwas geändert hatte. Kameras überwachten jetzt rundum jeden Winkel des Geländes. Die Feststellung war ihm nur ein verächtliches Schmunzeln wert. Kein Mensch begegnete ihm auf dem Korridor. Ein Rollstuhl stand neben einer offenen Zimmertür. Eine Schwester war dabei, das Zimmer auszuräumen. Wie ein Geist stand er plötzlich hinter ihr.
»Wo finde ich das Büro von Dr. Fisher?«
Sie wirbelte herum. Ein erstickter Schrei entfuhr ihr. Schon halb abgewandt, hörte er sie stammeln:
»Das – das letzte Büro links, Sir.«
Matt Fisher saß am Schreibtisch und musterte ihn über den Rand der Brille hinweg.
»Noch nichts von Anklopfen gehört , Lieutenant?«
Er schloss die Tür und riegelte ab.
»Verdammt, was soll das?«
»Wir müssen reden.«
Fisher war aufgesprungen. Die Hände auf die Tischplatte gestützt, deckte er ihn mit giftigen Blicken ein.
»Wer sind Sie, was erlauben Sie sich?« Ohne die Antwort abzuwarten, wies er ihm die Tür. »Verschwinden Sie aus meinem Büro, sofort!«
Er trat näher an den Schreibtisch.
»Eddie Jones hat Ihnen vertraut.«
Er sah die Wahrheit in Fishers Augen. Aus seinem Mund kam eine Lüge:
»Eddie Jones – der Name sagt mir nichts. Gehen Sie jetzt.«
Wie aus dem Nichts lag plötzlich eine leere Schachtel Neomycin auf dem Schreibtisch.
»Sie haben ihm diese Scheiß Pillen verschrieben und ihn elend verrecken lassen. Eddie Jones war ein guter Mann. Warum haben sie ihm nicht geholfen?«
Fisher sank mit einem Seufzer in seinen Sessel.
»Ich werde sicher nicht mit Ihnen über meine Patienten sprechen, Lieutenant, wer immer Sie sind.«
»Eddie Jones war also Ihr Patient. Ich frage Sie noch einmal: Wieso haben Sie ihm nicht geholfen?«
Fisher schielte aufs Telefon.
»Lassen Sie das! Sie sagen mir jetzt, warum sie Eddies Behandlung abgebrochen haben.«
Fishers Augen hafteten auf der Medikamentenschachtel.
»Wieso sollte ich das tun?«
Er beugte sich vor, bis er Fishers Atem riechen konnte, und sagte ruhig:
»Weil Sie keine Schmerzen ertragen, stimmt‘s?«
Der Arzt wich erschrocken zurück. Die Erinnerung an den Patienten Jones war plötzlich wieder da.
»Ich habe die Behandlung nicht abgebrochen«, murmelte er. »Es gab keine Behandlung. Mr. Jones’ Krankheit ist unheilbar.«
»Und verdammt ansteckend«, ergänzte er wütend. »Ich will die Namen und Adressen aller andern Patienten mit Eddies Problem, die Sie im Stich gelassen haben.«
»Mir reicht‘s.«
Fisher griff zum Telefon. Er hatte ihn im Schwitzkasten, bevor seine Hand den Hörer berührte.
»Die Namen!«, zischte er ihm ins Ohr.
Ein ängstliches Stöhnen war die Antwort. Fishers Blick wanderte zu einem Schrank gegenüber dem Schreibtisch.
»Finde ich die Namen dort?«
Es klopfte. Jemand wollte eintreten. Ein Ruck ging durch den Körper des Arztes. Er bäumte sich auf, versuchte, um Hilfe zu rufen. Ein kurzer Druck mit dem Arm auf die Gurgel löste das Problem. Die andere Hand riss den Kopf des Arztes herum, bis es knackte. Dieser Quacksalber würde nie mehr einen Kameraden im Stich lassen. Jemand rief Fishers Namen, als er den toten Körper hinter dem Schreibtisch zu Boden gleiten ließ, dann war Ruhe. Er kurbelte die Jalousie herunter