Der zweite Killer. Hansjörg Anderegg
Читать онлайн книгу.BMW Z4, Kennzeichen Berlin SV, Rest unbekannt.«
Sie verloren das Fluchtauto aus den Augen, bevor sie das Blaulicht montiert hatte. Zum ersten Mal hörte sie einen Fluch aus Seidels Mund. Er lief rot an, nahm den Fuß vom Gas und fragte kleinlaut:
»Was nun?«
»Jetzt beruhigen wir uns, machen Meldung und drücken den Kollegen in den Streifenwagen die Daumen.«
Sie fuhren zurück zum Treptower Park. Nach und nach trafen die Anoraks zur Vernehmung ein. Die Kandidaten, Teenager mit Migrationshintergrund und ein besonders cooles Paar vornehmer deutscher Gymnasiasten, trugen wie erwartet nichts zur Lösung ihres Falles bei. Nach kurzer Befragung überließ sie die Leute der Drogenfahndung.
Eine Streife in Marzahn stoppte den Z4 in unmittelbarer Nähe eines Drogenlagers, keine fünfhundert Meter Luftlinie von Eddie Jones‘ Wohnblock entfernt. Die Drogenfahndung reagierte mit Begeisterung. Der Fahrer des BMW, ein arbeitsloser Schnösel aus gutem Haus, von Beruf Sohn, entpuppte sich als lang gesuchter Mittelsmann einer Autoschieberbande, die nebenbei Marihuana und Heroin vertrieb. Die sichergestellte Menge an Betäubungsmitteln reichte, um den jungen Herrn für mindestens fünf Jahre aus dem Verkehr zu ziehen, immerhin. Chris hörte schon die Korken knallen, aber all das interessierte sie nicht, als sie ihm gegenübersaß. Sie schob ein Foto von Eddie Jones über den Tisch.
»Kennen Sie diesen Mann?«
Er würdigte das Bild keines Blickes, fuhr stattdessen ungeniert fort, sie mit den Augen auszuziehen. Sie hielt ihm das Bild vor die Nase.
»Hier gucken, Mann auf Foto!«
»Leck mich!«
»Lassen Sie mich die Frage anders formulieren. Wann haben Sie diesem Mann zum letzten Mal Gras verkauft?«
Er starrte schweigend auf ihre Brüste.
»Körbchengröße B. Sie werden bald viel Zeit haben, davon zu träumen.«
»Leck mich!«
Sie gab vor, seine Akte zu studieren. Eine Weile herrschte eisiges Schweigen, dann schüttelte sie den Kopf und murmelte:
»Mann, Mann, da kommt ganz schön was zusammen.«
Kurz vor dem dritten »Leck mich« klappte sie die Akte zu, sah ihm in die Augen und sagte lächelnd:
»Aber wissen Sie was? Das ist alles noch gar nichts gegen eine Anklage wegen Beihilfe zum Mord.«
Er sprang fluchend auf.
»Setzen!«
Seine Schimpftirade prallte an ihr ab, ohne Spuren zu hinterlassen. Als er wieder auf den Stuhl sank, sprach sie ruhig weiter:
»Unsere Techniker werden Ihre Fingerabdrücke auf jeder Tüte nachweisen, die Sie diesem Mann verkauft haben. Das wissen Sie so gut wie ich. Jetzt ist dieser Mann tot, ermordet. Was glauben Sie, werden wir daraus schließen, wenn wir auch nur eine Hautschuppe von Ihnen an seiner Leiche oder Kleidung finden?«
Sie befand sich auf sehr dünnem Eis. Die Mischung aus Spekulation und Fakten war gefährlich, aber sie zeigte Wirkung. Die Zeit wurde knapp. In wenigen Minuten würden die teuren Anwälte des Herrn Papa eintreffen und ihr Spiel sofort beenden. Sie musste vorher wissen, in welcher Beziehung er zu Eddie Jones stand. Diesmal wollte er sich lang nicht beruhigen. Ungeduldig verfolgte sie den Sekundenzeiger der Wanduhr, bis er endlich schwieg.
»Wie gesagt, es sieht gar nicht gut aus für Sie. Vielleicht haben Sie ja tatsächlich nichts mit dem Mord zu tun, wer weiß? Solang Sie uns allerdings nicht genau sagen können, wann und wo Sie zuletzt Kontakt mit dem Mann auf dem Foto hatten, müssen wir vom Schlimmsten ausgehen. Das verstehen Sie doch?«
Beim Stichwort Mord fiel die Maske des hartgesottenen Ganoven. Blankes Entsetzen starrte ihr entgegen. Er vergaß die Anwälte und begann zu reden. Seine Intelligenz reichte aus für die Einsicht, den Handel mit Drogen nicht weiter zu leugnen. Eddie Jones hatte ihn beim Dealen auf dem Parkplatz seines Wohnblocks erwischt und ihm selbst einen Deal angeboten. Anstatt ihn anzuzeigen oder windelweich zu klopfen, gab er sich mit einer Tüte Gras zufrieden und dem Versprechen, hin und wieder für Nachschub zu sorgen und die Kids im Block in Ruhe zu lassen.
»Und sie sind darauf eingegangen?«, fragte Chris leicht verwundert.
Er lachte bitter auf. »Wenn du so eine Klaue an der Gurgel hast, gehst du auf jeden Deal ein.«
»Er hat sie also erpresst?«
»Schwachsinn. Er hat mich nicht kalt gemacht, so sehe ich das. Der Kerl ist – war brandgefährlich. Ein falscher Blick, und du bist Geschichte.«
»Sein Tod kommt Ihnen also sehr gelegen.«
»Ich habe nichts mit seinem Tod zu tun, verfluchte Scheiße!«
Chris glaubte es ihm aufs Wort. Ein Elitesoldat wie Eddie Jones stellte solche Angeber ruhig, bevor sie »Leck mich« sagen konnten.
»Warum soll ich meine Kunden umbringen?«, fuhr er atemlos fort. »Er hat ja sogar angefangen, mich zu bezahlen.«
»Ach, das ist ja nett, und deshalb haben Sie ihm das Gras sogar ins alte Asylheim geliefert?«
Er erschrak. Es arbeitete lange hinter seiner Stirn, bis er zugab, einmal am Asylheim gewesen zu sein. Die Hautschuppen, dachte Chris erleichtert. Der Bluff wirkte. Die letzte Begegnung mit Eddie Jones fand zwei Tage vor der Tat statt. Sie saß nicht dem Täter gegenüber, so viel stand endgültig fest. Aber der Dealer hatte beobachtet, wie Eddie Jones in der Bauruine verschwand.
»Ich glaube, der hat da irgendwo im verdammten Keller gewohnt«, sagte er.
Es war seine letzte Aussage, die Chris aufnahm. Nach kurzem Disput mit Staatsanwältin Winter überstellte sie ihn an die Kollegen von der Drogenfahndung.
Eine Stunde später wusste sie, wo Eddie Jones seine letzten Tage und Nächte verbracht hatte. Das angesengte Arzneirezept und die Reste einer Packung Neomycin in der kalten Asche des Kohleofens im alten Asylheim sprachen eine deutliche Sprache. Der Name des Arztes und seine Unterschrift waren gut auf dem Rezept zu lesen: 1st Lt. Matt Fisher, MD, LRMC. Verblüfft betrachtete sie das Datum. Das Rezept war erst vor einem Monat ausgestellt worden.
Basislager
Mitternacht war vorbei. Fast alle Lichter am Ufer waren erloschen. Sein Schlauchboot, nicht mehr als ein grauer Fleck im schwarzen Fluss, trieb geräuschlos auf die Böschung zu. An der Anlegestelle herrschte beinahe totale Finsternis, ideal, um unbemerkt ins Basislager zu gelangen. Nicht zuletzt deswegen hatte er diese Wohnung vor Jahren instinktiv ausgewählt. Manche Dinge verlernt man nie. Er brauchte kein Licht. Das Nachtsichtgerät an seinem Helm machte die Nacht zum Tag. Kein Nachbar, kein zufälliger Passant würde eine verdächtige Bewegung im Basislager entdecken.
Wohnschlafzimmer und Kochnische waren bereits geräumt. Trotzdem durchstreifte er noch einmal die Zimmer, um sicher zu sein, nichts Wichtiges übersehen zu haben. Eine unnötige Vorsichtsmaßnahme in diesem Teil der Welt, aber Afghanistan hatte ihn gelehrt, dass jede vergessene Colaflasche den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten konnte. Die Sporttasche stand auf dem Klosettdeckel bereit für die neue Mission. Er schob den Schrank neben der Dusche beiseite und löste das Stück Wandverkleidung, um an die Kiste mit seiner Ausrüstung zu gelangen. Die Kontrolle verlief schnell und automatisch, dank der Checkliste, die sich seit dem ersten Einsatz in sein Gehirn eingebrannt hatte.
Papiere, Bargeld: check.
Taschenlampe aufgeladen: check.
Messer, die Winkler fixed-blade, kein unzuverlässiges Stellmesser-Spielzeug für Amateure: check.
Bolzenschneider bis 1.5 cm: check.
Gerber Flik Universalwerkzeug, Verbandszeug, zwei Aderpressen, Wasser, Nachos: check.
Beretta, Schalldämpfer, 45 Schuss, M4 Karabiner, 30 Schuss mit Ersatzmagazin: check.