Retourkutsche. Kendran Brooks
Читать онлайн книгу.säumten die Straßen. Ganz Juárez schien auf den Beinen zu sein, um der heiligen Mutter Gottes zu huldigen und ihren Segen zu erbitten. Sechs Priester trugen die fast zwei Meter große Marienfigur auf einem Gestell auf ihren Schultern. Sie musste sehr schwer sein, denn die Träger wurden durch andere Männer alle paar Meter reihum abgelöst. Hinter ihnen schritt eine Heerschar von Kirchenleuten, Ministranten und Offiziellen der Stadt. Sie alle trugen Blumensträuße in den Händen, wirkten gefasst, aber auch sehr fröhlich.
Henry und Jules waren als mexikanische Trunkenbolde unterwegs. Sie befanden sich an diesem Tag allerdings in guter Gesellschaft, denn der hohe Festtag war für manch anderen ebenso Anlass genug, sich schon vor dem Mittagessen mehrere Gläser Mezcal zu gönnen. Schwankend bogen Henry und Jules in die schmale Gasse zum Hauptquartier des Juárez Kartells ein, hatten sich ihre Arme gegenseitig eingehakt und grölten ein mexikanisches Volkslied. Neben der schlichten Eingangstüre mit der abblätternden Farbe blieben sie stehen. Jules drehte sich rülpsend zur Hauswand hin, zog den Saum seiner Baumwollhose etwas nach unten und schon bald plätscherte ein fröhlicher Strahl gegen den schmutzigen Verputz. Es dauerte keine zehn Sekunden, da sprang die Türe auf und zwei bullige Mexikaner stürmten heraus, schwangen ihre Fäuste und übergossen die beiden Trunkenbolde in der Gasse mit derben Flüchen. Henry drehte sich ohne Hast zu ihnen um, wirkte dabei völlig nüchtern. In seinen Händen hielt er zwei Tazer, löste sie auch ohne zu zögern aus, worauf die kleinen Pfeile mit den Kabeln auf die beiden Wachposten zu schossen, sich durch die Kleidung in ihre Haut bohrten und die ersten Stromwellen durch ihre Körper zucken ließen. Im selben Moment spurtete Jules auch schon los, umrundete die beiden zitternden und auf den Boden fallenden Mexikaner, ohne sich um sie zu kümmern, war auch schon durch die Eingangstüre in das Innere des Hauses verschwunden. Hinter einer Theke saß ein dritter Mann, der die Szene vor dem Haus auf einem Monitor fassungslos beobachtet hatte und eben dabei war, aufzuspringen, um vielleicht auch nach draußen zu stürmen. Jules erreichte ihn mit zwei Sprüngen, noch bevor der Mann seine Waffe aus dem Schulterholster ziehen und in Anschlag bringen konnte. Er setzte den Mann mit einem Ura-Zuki und einem anschließendem Kagi-Zuki außer Gefecht.
Jules wirbelte herum. Seine Augen schienen überall zu sein. Gleichzeitig lauschte er angespannt. Im Haus rührte sich nichts. So stürmte der Schweizer auch schon wieder hinaus in die Gasse, packte wie Henry einen der beiden bewusstlosen Wächter unter den Schultern und zog ihn in den Flur, warf die Eingangstüre hinter sich zu.
Die beiden Europäer schnauften nach diesem explosionsartigen Kraftakt, sahen sich mit triumphierend blitzenden Augen an. Henry setzte sich hinter die Theke und kontrollierte über die installierten Bildschirme, ob sich in der Gasse draußen irgendetwas regte. Jules wandte sich den unteren Räumen zu, ging den Flur entlang und spähte in jedes Zimmer hinein.
Die Ablage in der kleinen Küche war mit schmutzigem Geschirr vollgestellt, das anschließende Bad roch muffig, danach folgte ein Raum mit einer Sitzgruppe, wohl der bevorzugte Aufenthaltsort für die Wachleute. Rasch kehrte er zurück zu Henry und gemeinsam verschnürten sie mit den mitgebrachten Textilklebebändern die drei bewusstlosen Männer, vergaßen auch nicht, sie sorgfältig zu knebeln. Danach gingen sie recht sorglos die Treppe hoch ins Obergeschoss.
»Noch drei Minuten«, sagte Jules nach einem Blick auf seine Armbanduhr zu Henry, denn sie hatten zuvor vereinbart, sich nicht länger als fünf Minuten im Gebäude aufzuhalten.
Oben betrat jeder von ihnen einen anderen Raum und sie begannen mit der Durchsuchung nach interessanten Akten oder Belegen. Rasch fanden sie heraus, dass die Personal Computer mittels Netzwerk mit einem Server verbunden waren. Jules fand ihn in einem der Nebenräume, schraubte ihn auf und entnahm die vier Festplatten, ließ sie in einem mitgebrachten Leinenbeutel verschwinden.
Einen stählernen, fast mannshohen Tresor ließen die beiden Männer unbeachtet. Es hätte viel zu lange gedauert, sein Schloss oder seine Panzerung zu knacken. Stattdessen wandten sie sich den vielen Schränken und Schubladen zu, rissen sie auf, wühlten darin herum und packten zusammen, was ihnen von Interesse schien. Auch Henry hatte einen Beutel dabei, der sich rasch füllte.
»Noch eine Minute, Abmarsch«, rief Jules laut, worauf sich Henry sogleich zu ihm gesellte. Gemeinsam knüllten sie irgendwelches Papier zusammen, warfen es auf einen Haufen. Darüber legten sie weiteres, brennbares Material, zwei Bürostühle, Aktenordner, einen wollenen Teppich. Jules zündete ein Streichholz an. Rasch züngelten Flammen empor, leckten nach den Sitzflächen der Stühle, die auch schon zu qualmen begannen.
Ohne Eile gingen die beiden Europäer die Treppe hinunter ins Erdgeschoss. Die drei Geknebelten waren mittlerweile erwacht und blickten ängstlich zu ihnen hoch. Jules holte ein Teppichmesser aus seiner Hosentasche und durchschnitt bei allen dreien die Klebebänder an den Fußgelenken. Die Wachposten taumelten mit ihrer Hilfe hoch und wurden von Henry und Jules widerstandslos nach draußen und auf die Gasse dirigiert. Hinter den Fenstern im Obergeschoss loderte bereits ein Flammenmeer. Eines davon stand offen und dichter, schwarzer Rauch quoll aus ihm heraus und in den Himmel empor. In der Ferne ertönte näherkommender Lärm einer Sirene. Ein aufmerksamer Nachbar hatte wohl bereits die Feuerwehr alarmiert.
Henry und Jules ließen die drei Mexikaner einfach stehen und machten sich mit ihrer Beute davon. Und während sie an der Mündung der Gasse zur Lerdo aus dem Blickfeld der Wachleute verschwanden, versuchten die drei immer noch, mit ihren Zähnen das Klebeband um ihre Handgelenke durchzunagen.
*
Auf ihrem Rückweg zum Café von Rodrigez betraten Henry und Jules ein recht nahe gelegenes, modernes Wohnhaus, in dem ihnen Manuel ein Appartement angemietet hatte. Sie zogen ihre Baumwollsachen und die Sandalen aus, schminkten sich ab und verwandelten sich zurück in europäische Weiße. Dazu gehörten sportliche Anzüge und polierte, schwarze Lackschuhe. Sie packten die gestohlenen Unterlagen in zwei Aktenkoffer und verließen das Haus wenig später in einem gemieteten schwarzen Mercedes mit amerikanischen Kennzeichen über die Ausfahrt der Tiefgarage.
Sie fuhren über die Good Neighbor International Bridge zurück in die USA. Die Zollbeamten prüften ihre Ausweise sehr genau, denn die beiden Europäer sahen mit ihren tiefschwarz gefärbten Haaren doch recht verändert zu den Abbildungen aus. Doch die Kontrolle der Passnummern über den Computer förderte nichts Negatives über die beiden an den Tag und so wurden sie durchgewunken.
Sie hatten sich am Tag zuvor ein Zimmer im Plaza Hotel genommen. Dort schlüpften sie erst einmal in bequeme Freizeitkleidung. Erst danach begannen die beiden, den Inhalt der beiden Aktenkoffer zu sichten.
Die vier Festplatten legten sie erst einmal beiseite. Ihr Inhalt war mit Sicherheit mit Passwörtern geschützt, eventuell sogar vollständig verschlüsselt. Ihnen sollte sich in den kommenden Wochen ein vertrauenswürdiger Spezialist in London widmen.
Die gestohlenen Papiere zeigten ihnen ein weites Feld verschiedenster Aktivitäten. Doch erst auf den zweiten Blick trat auch Verdächtiges ins Auge. Jules und Henry fanden Quittungen und Bankauszüge von fünf verschiedenen in Juárez ansässigen Firmen, einem Warenhaus, drei Restaurants und einer Wäscherei. Sie stellten sich gegenseitig Rechnungen aus, wohl zum Zweck der Geldwäsche beziehungsweise deren Vorbereitung. Von den Beträgen und Zeitpunkten her schien es, dass die Gelder ausschließlich von den drei Restaurants über die Wäscherei an das Warenhaus verschoben wurden.
Die mexikanische Steuerfahndung hätte bestimmt Freude an diesen Dokumenten bekundet. Für die Zwecke von Jules und Henry waren sie jedoch völlig wertlos, zeigten sie doch keinerlei Verbindungen hinüber in die USA. Höchsten die Bankverbindungen konnten ihnen unter Umständen nützliche Informationen liefern. Sie lauteten auf eine Filiale der früheren Wachovia Bank in El Paso. Die 1879 gegründete Bank verlor ihre Selbständigkeit im Zuge der Finanzkrise und wurde vor etwas über einem Jahr von Wells Fargo übernommen.
»Vielleicht können wir die Eigentümer der Firmen ermitteln und sehen dann etwas klarer«, meinte Henry aufmunternd.
»Die Hoffnung stirbt zuletzt«, entgegnete Jules ein wenig frustriert, »doch was haben wir von unserem Sonntagsspaziergang auch anderes erwarten können? Die Vielfalt an Indizien zeigt uns zwar, dass es sich um eine recht große Organisation handeln muss. So gesehen passt sie in unser Beuteschema. Doch wir stehen immer