Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

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Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe


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hat­te er sei­ner Mut­ter ge­stoh­len, und wo­her ihr das Schieß­pul­ver hat­tet, weiß ich nicht; aber das nichts­nut­zi­ge Ding platz­te dir beim ers­ten Ab­bren­nen in der Hand. Der Dok­tor muss­te da­mals auch um dich ge­holt wer­den; aber es ging glück­li­cher ab als nach­her mit ihm. Euer Teil krieg­tet ihr aber bei­de, er von sei­nem Va­ter und Mut­ter und du von dei­nen lie­ben El­tern. Ja, das ist der alte Knacker noch, Fritz. Die Kinn­la­den kann er wohl noch be­we­gen; aber eine Nuss knackt er euch nicht mehr.«

      Da hat­te er nun in der Wirk­lich­keit in der Hand, was er vor­hin im Traum sel­ber ge­we­sen war. – Den al­ten, ver­blass­ten, kinn­la­den­lah­men Nuss­knacker, der ein­mal vor un­denk­li­cher Zeit so gut ge­knackt hat­te, auf den er in der Blau­en Stu­be sei­nes Va­ter­hau­ses so stolz ge­we­sen war und den – Lud­chen Bock ge­ret­tet hat­te, hielt er in der Hand.

      »Sieh, das sind noch sei­ne Schul­bü­cher noch vom Rek­tor Schus­ter her«, sag­te Min­chen. »Er meint ja, er sei im­mer noch bei ihm drin in der Schu­le und wer­de aus ih­nen auf­ge­ru­fen. Du hast auch was drein ge­schrie­ben, Fritz, und auch ge­malt. Da, guck mal, was! Ihr könnt euch heu­te noch gra­tu­lie­ren, dass das da­mals euer Herr Rek­tor nicht ge­se­hen hat. Und noch dazu in die di­cke Bi­bel und den Zie­gen­beins Ka­te­chis­mus, den wir da­mals hat­ten – auch wir Mäd­chen. Heu­te ha­ben sie einen an­de­ren, man sagt, einen bes­sern, aber das ist ei­ner­lei, Got­tes­furcht habt ihr zwei da­mals nicht viel ge­habt, und wie es jetzt da­mit in der Schu­le steht, was das Ver­schmie­ren von Bü­chern an­geht, weiß ich nicht. Doch nun komm in den Gar­ten! Er traut dir im­mer noch nicht und hat dir sei­ne Ehre, die­se hier mit sei­ner Schatz­kam­mer auf dem Ti­sche, wohl auch aus Furcht und Bang­nis an­ge­tan; aber er steht im Gan­ge da hin­ter der Tür schon lan­ge und war­tet auf dich, weil es ihm mit dem Kaf­fee zu lan­ge dau­ert. Wie ich dir schon ge­sagt habe, dar­in ist er recht nach der Stun­de ge­blie­ben. Un­se­re Lau­be wirst du auch wohl wie­der­er­ken­nen: ich habe nicht viel auf­zu­wen­den ge­habt, und so ist al­les na­tür­lich so ge­blie­ben, wie es war und sich hal­ten ließ. Wo mal ein Bein an der Bank oder am Tisch ab­mo­der­te, da ist er ge­schickt ge­nug. O ja, was so was an­geht, kein Mensch hät­te mir mein We­sen hier so in Ord­nung hal­ten kön­nen wie die­ser Arme, vom Schick­sal Ge­schla­ge­ne, dein und mein Freund Lud­chen!« –

      In der­sel­ben Wel­le kann man nicht zum zwei­ten Mal schwim­men, aber an dem­sel­ben Ti­sche kann man wie­der sit­zen, auch nach Men­schen­al­tern. An der Haus­wand zwi­schen küm­mer­li­chen nord­deut­schen Wein­ran­ken war die Bank be­fes­tigt, vor dem der alte Tisch des Va­ters und der Mut­ter Ahrens, zier­lich ge­deckt mit dem Kaf­fee­ge­rät, den al­ten Töp­fen und Tas­sen des Hau­ses, den Ge­heim­rat Feyer­abend er­war­te­te. Nicht mehr in ro­ter Ja­cke, gel­ben Ho­sen und Lackstie­feln – in der Ja­cke und den Ho­sen, aus der er sei­ner Mut­ter wie­der mal her­aus­ge­wach­sen war, stand er da in Min­chen Ahrens’ Haus­gar­ten, der Pro­fes­sor Ge­heim­rat Dr. Fried­rich Feyer­abend. Er muss­te sich am Tür­pfos­ten hal­ten die­ser neu­en Ver­zau­be­rung ge­gen­über. Rund­um al­les, wie es da­mals ge­we­sen war. Mit den He­cken und Zäu­nen und We­gen und den Haus­mau­ern und Gie­beln und Scheu­nen­dä­chern der Nach­bar­schaft wach­ten auch alle Na­men auf. Da Korb­ma­cher Sie­ver­s’ An­we­sen hin­ter dem al­ten Birn­baum und dem Bie­nen­haus, in dem seit hun­dert Jah­ren kein Bie­nen­korb mehr ge­stan­den hat­te! Dort Tisch­ler En­gel­kes Haus­dach, wo man durch den Zaun zu des Nach­bars Zwet­schen­baum ge­lan­gen konn­te! Da die alte Ahorn­lau­be und die Esche, die ein Ur­groß­va­ter ge­pflanzt ha­ben soll­te. Und auf den Bee­ten, was um die­se Jah­res­zeit da­mals ge­stan­den hat­te, heu­te noch drauf. Und nur die al­ten Blu­men, nicht das neue bun­te Zeug aus al­len Welt­tei­len! Und dann die Stim­men rund­um, die al­ten Lau­te von da­mals, Kin­der­stim­men und Vo­gel­stim­men, Gän­se­ge­schnat­ter und dann und wann das Muh ei­ner Kuh aus ei­nem nä­he­ren oder fer­nern Stall. Jetzt auch wohl das Kei­fen ei­ner Frau Nach­ba­rin, das Heu­len ei­nes Säug­lings.

      »Aber Jun­ge, so komm doch end­lich! Schä­me dich! Ein so großer Jun­ge und will sich noch vor Frem – vor sei­nen bes­ten Freun­den fürch­ten? Aber Jun­ge, sieh dir doch un­se­ren Be­such jetzt ganz ge­nau an: kennst du denn Fritz­chen Feyer­abend nicht mehr? Komm Fritz, komm Lud­chen, setzt euch hin! Und wenn es auch heu­te nicht Sonn­tag ist, so kriegst du doch ein Stück Zu­cker mehr; nein, Lud­chen, du sollst dir sel­ber neh­men dür­fen!«…

      Nun sa­ßen sie ein­an­der ge­gen­über – die zwei Freun­de. Der eine mit ei­ner Welt von Er­leb­nis­sen zwei­er Men­schen­al­ter, der an­de­re – – –

      »Kannst du noch Müh­le?« frag­te der – an­de­re. »Willst du noch mal?«

      »Aber Lud­chen?« stot­ter­te Min­chen Ahrens. Doch der Ge­heim­rat wink­te ihr und hol­te sel­ber vom Tisch in der Stu­be das alte ab­ge­grif­fe­ne Spiel­brett in den Gar­ten.

      »O Gott, Gott, aus Eu­rem Hau­se, Fritz, stammt das nicht mehr. Ich habe es uns kau­fen müs­sen. Wir spie­len es ja­wohl man­chen Abend lang zu­sam­men, und ich bin nicht im­mer die bes­te«, flüs­ter­te Min­chen, stets von neu­em die Hän­de ob des Wun­der­ta­ges fal­tend. »Weißt du, un­ser­er­zeit war dei­ne Schwes­ter mein Ge­gen­part. O Gott, was wür­de die sa­gen, wenn sie dich und uns jetzt so se­hen könn­te. Er­zäh­le ihr nur ja nicht da­von; glau­ben kann sie es doch nicht! Ja, hier geht es noch im­mer nur um tür­ki­sche Boh­nen beim Spiel.«

      Beim Müh­len­spiel geht es heu­te noch nur um die Ehre, und der – an­de­re hat­te, wie vor sech­zig Jah­ren, eine Zwick­müh­le, ehe Frit­ze Feyer­abend es sich ver­sah.

      »Lud­chen, du hast ge­mo­gelt! Du hast den Stein da ver­scho­ben!« rief Ge­heim­rat Feyer­abend, lä­chelnd aus all sei­ner Über­le­gen­heit her­aus aber doch mit volls­tem Ernst – trotz ihr mit volls­tem Jun­gen­s­ernst bei der Sa­che.

      »Willst du wie­der was, Frit­ze?« Und in den Grei­sen­au­gen des – an­de­ren blitz­te die gan­ze Jun­gens-Tau­ge­nich­tig­keit wie vor sech­zig Jah­ren. »Komm an, wenn du was willst!«

      »Aber Kin­der! Jun­gens!… Herr Ge­hei­mer Rat!« rief Min­chen Ahrens. »Sch­lin­gel, Lud­chen!« Und zu dem Gast in Al­ters­hau­sen sich wen­dend, sag­te sie: »Er hat es auf den Ku­chen ab­ge­se­hen und ver­langt für sei­nen Tri­umph ein Stück.«

      »Gib es ihm«, seufz­te Ge­heim­rat Pro­fes­sor Dok­tor Feyer­abend, und, um eine ab­ge­brauch­te Re­dens­art in ei­ner sehr erns­ten Le­bens­stun­de an­zu­wen­den: die Stirn sank ihm tief in die Hand. – – –

      »Das Stil­le­sit­zen hält er nicht lan­ge aus«, sag­te Min­chen. »Weißt du was, Jun­ge, geh du nur noch ein biss­chen in den Holz­stall an un­ser Win­ter­holz. Du hast dich die letz­te Zeit doch viel zu viel drum weg­ge­scho­ben.«

      »Frit­ze bleibt noch?« frag­te Lud­chen mit ei­nem be­denk­li­chen Blick auf den Freund und den Ku­chen­tel­ler.

      »Ja, ich blei­be noch«, sag­te der Ge­heim­rat. »Aber da! Nicht wahr, Min­chen, den Ku­chen darf er mit­neh­men?«

      Min­chen Ahrens nick­te, halb seuf­zend, halb la­chend, und nun klang in das, was sie noch zu er­zäh­len und am Mai­en­born ab­ge­bro­chen hat­te, ge­rau­me Zeit sei­ne Säge her­ein. Wie am Mai­en­born wa­ren sie dicht an­ein­an­der­ge­rückt, die bei­den Al­ten, und es küm­mer­te sie gar nicht, dass sie nach­bar­li­che Zaungäs­te zur Ge­nü­ge um sich hat­ten. Zu­meist Kin­der, doch auch Er­wach­se­ne, und da vor­züg­lich Frau­en mit Kin­dern auf dem Arm.


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