Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

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Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe


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ein ihm schon längst wohl­be­kann­tes kopf­schüt­telnd Lä­cheln ge­zeigt, wel­ches wei­ter nichts be­deu­te­te als:

      »Kind, Kind, be­den­ke den Mor­gen und dei­nen Rheu­ma­tis­mus! Es hat al­les sei­ne Zeit, und ich glau­be, die uns­ri­ge ist jetzt vor­han­den.«

      Der alte Herr hat­te zu­erst ganz er­staunt auf­ge­se­hen und sein Weib an: »Nicht mehr bis Mit­ter­nacht und in das neue Jahr hin­ein? Ei ei ei – hm!«

      »Hm«, sag­te der alte Herr, in dem fröh­li­chen Krei­se er­hitz­ter Ge­sich­ter um­her­bli­ckend; »es hat frei­lich al­les sei­ne Zeit; aber es ist son­der­bar, und, lie­be Kin­der, es kommt ei­nem ganz ku­ri­os vor, wenn auch die­ses – zum ers­ten Mal Zeit wird!«

      Da­bei hat­te er sich aber be­reits et­was müh­sam aus sei­nem Ses­sel er­ho­ben. Den Kopf schüt­tel­te er auch, je­doch ohne da­bei zu lä­cheln wie sei­ne Frau.

      »Du hast recht, Anna; es ist un­se­re Zeit ge­kom­men, und so wün­sche ich, wün­schen wir euch jun­gem Volk –«

      Von ei­nem Ge­wis­sen war bei die­sem »jun­gen Volk« na­tür­lich nicht die Rede. Dazu wa­ren sie sämt­lich (auch die äl­tes­ten un­ter ih­nen) noch viel zu jung und viel zu ver­gnügt und viel zu auf­ge­regt durch die ur­al­ten, ewig jun­gen Stim­mun­gen der letz­ten Stun­den des schei­den­den Jah­res. Ein Ge­wühl von blon­den und brau­nen Köpf­chen und Köp­fen, von Hän­den und Händ­chen er­hob sich um die bei­den Grei­se; und alle Ver­füh­rungs­küns­te, de­ren die Mensch­heit in ih­rer Er­schei­nung als Fa­mi­lie in der Sil­ves­ter­nacht fä­hig ist, wa­ren zur An­wen­dung ge­bracht wor­den.

      Ein­mal noch scha­de­te es si­cher­lich ge­wiss nicht!… Groß­pa­pa und Groß­ma­ma hat­ten noch nie so mun­ter aus­ge­se­hen!… Es ging ja nie­mand zu Bett vor Mit­ter­nacht, selbst die Jüngs­ten nicht!…

      »Nun, Mut­ter! Ein­mal noch? Was meinst du?« Klei­ne wei­ße Händ­chen – wei­ße, be­ring­te Hän­de hat­ten ihre Ver­füh­rungs­küns­te nicht ohne Er­folg ver­sucht; nun leg­te sich statt an­de­rer Ant­wort auf die Fra­ge des al­ten Herrn wie­der eine Hand auf die sei­ni­ge. Das war aber kei­ne wei­che, kei­ne wei­ße, kei­ne kräf­ti­ge mehr; aber eine star­ke und treue war es auch, viel­leicht wohl die stärks­te und treues­te.

      »Die Groß­mut­ter hat recht! Es hat al­les sei­ne Zeit, und die uns­ri­ge ist ge­kom­men. Jun­ges Volk, wir wer­den zu Bet­te ge­schickt von ihr, der Ma­dam Zeit, wäh­rend die Jüngs­ten auf­blei­ben dür­fen. Der Kopf summt uns zu sehr mor­gen früh, wenn wir uns da­ge­gen sper­ren und weh­ren; und es ist zwar hübsch von Groß­ma­ma, wenn sie nur von Rheu­ma­tis­mus spricht; aber das rech­te Wort ist es ei­gent­lich nicht. Sie hät­te ganz dreist Gicht sa­gen kön­nen, ge­ra­de­so­gut wie der Herr Schwie­ger­sohn und Doc­tor me­di­ci­nae da hin­ter sei­nem Punsch­gla­se, wenn er jetzt ein Ge­wis­sen hät­te. Lie­be Kin­der, wir sind bei­de über sie­ben­zig Jah­re alt, und –«

      »Oh!…«

      »Und wir sind sehr glück­lich und be­hag­lich. Sehr wohl ist uns zu­mu­te, und so wün­schen wir euch al­len zum ers­ten Mal vor Ablauf des al­ten Jah­res ein glück­li­ches neu­es… Bit­te, lie­ber Sohn, ich weiß, was du sa­gen willst; aber wen­de dich da­mit an die Mama, die wird dich ver­si­chern, dass dei­ne Frau, un­se­re lie­be So­phie da, heu­te über drei­ßig Jah­re si­cher­lich gleich­falls viel ver­stän­di­ger sein wird als du. Wen­de dich an dei­ne Mut­ter, mein Schmei­chel­kätz­chen Ma­rie. Sie hat im­mer ge­meint, du sei­est ganz ihr Ab­bild, also wirst du wohl wis­sen, was in vier­zig Jah­ren in der Neu­jahrs­nacht dei­ne Mei­nung sein wird, wenn die un­ver­stän­di­ge Ju­gend dir dei­nen Mann da ver­füh­ren will. Schie­ben Sie die Kin­der nicht so her­an, lie­ber Schwie­ger­sohn, sie ma­chen der Groß­ma­ma nur das Herz schwer. Es ist Zeit ge­wor­den für uns; – – – ein fröh­li­ches, se­gens­rei­ches Jahr ihr – alle!…«

      »Alle!« ju­bel­ten sie, und die Glä­ser hat­ten ge­klun­gen, und die Kin­der, die En­kel hat­ten sich zu­ge­drängt und ihre klei­nen Be­cher hin­ge­hal­ten, ohne dass man sie dazu zu schie­ben brauch­te. Sie hat­ten sehr ge­ju­belt; und die Ton­wel­len der Glä­ser und der Stim­men wa­ren ver­k­lun­gen.

      »Nun seid wei­ter ver­gnügt; aber die Kin­der lasst ihr mir mor­gen aus­schla­fen. Beglei­tung neh­men wir nicht mit die Trepp’ hin­auf. Wir fin­den un­se­ren Weg schon al­lein, nicht wahr, Wal­ter?« sag­te die alte Dame, die Groß­mut­ter des Hau­ses.

      Sie ent­schlüpf­ten, wie man ent­schlüpft, wenn man das sie­ben­zigs­te Le­bens­jahr hin­ter sich hat. Lang­sam stie­gen die bei­den die tep­pich­be­leg­te Trep­pe in ihre Stu­be hin­auf, der Greis ge­stützt auf den Arm der Grei­sin; und dann wa­ren sie al­lein mit­ein­an­der, noch ein­mal al­lein mit­ein­an­der in der Neu­jahrs­nacht… Um­ge­se­hen hat­ten sie sich nicht auf der Trep­pe, und einen lei­sen Schritt, einen Kin­der­schritt, der ih­nen nach­g­litt, den hat­ten sie über­hört. Ein so schar­fes Ohr wie vor Jah­ren hat­te keins von den zwei Al­ten mehr; aber die­sen Schritt, die­sen Geis­ter-Kin­der­schritt wür­de auch wohl je­des an­de­re jün­ge­re Ohr über­hört ha­ben. –

      Auf dem Al­ten­teil! Das kann ei­nes der bit­ters­ten Wor­te sein, die das Schick­sal den Men­schen in die­ser Welt zu­ruft; aber auch ei­nes der be­hag­lichs­ten. Für die­se bei­den Al­ten war es nach lan­ger schwe­rer, müh­se­li­ger Ar­beit ein be­hag­li­ches ge­wor­den. Sie fan­den ihre Ge­mä­cher durch ein ver­schlei­er­tes Lam­pen­licht er­hellt, ihre bei­den Lehn­stüh­le an den war­men Ofen ge­rückt, und:

      »Mit dem Schla­ge zwölf kom­me ich doch und po­che an eu­rer Kam­mer­tür und spre­che mei­nen Wunsch durchs Schlüs­sel­loch. Ihr braucht aber nicht dar­auf zu hö­ren; ich schi­cke ihn euch auch in den Schlaf hin­ein!« hat­te das jüngs­te und am jüngs­ten ver­hei­ra­te­te Töch­ter­lein als letz­tes Wort im Fest­saa­le da un­ten ge­sagt.

      »O mein Gott, da sitzt ihr noch?« rief die­sel­be jun­ge Frau un­ter dem Glo­cken­klang und dem Neu­jahr­scho­ral von den Tür­men, un­ter dem plötz­lich auf­klin­gen­den Gas­sen­ju­bel und dem Ju­bel der Kin­der und En­kel in dem Saa­le des Hau­ses. »Das ist doch ganz wi­der die Ab­re­de, und heu­te übers Jahr wer­den wir euch da un­ten bei uns fes­ter hal­ten, ihr Lie­ben, Bö­sen, Bes­ten!… Ein glück­li­ches neu­es Jahr, Groß­pa­pa! Ein glück­li­ches neu­es Jahr, Groß­ma­ma!«

      Da stand ein nied­rig leh­nen­lo­ses Ses­sel­chen mit ei­nem ver­blass­ten ge­stick­ten Blu­men­strauß dar­auf ne­ben den zwei Stüh­len der Grei­se. Die jun­ge Frau, nach­dem sie den Va­ter und die Mut­ter mit ih­ren Küs­sen fast er­stickt hat­te, saß nie­der auf dem klei­nen Stuhl und hat­te kei­ne Ah­nung da­von, wer eben vor ihr dar­auf ge­ses­sen und die Mut­ter und den Va­ter ge­gen die Ab­re­de und ge­gen ih­ren ei­ge­nen fes­ten Vor­satz wach ge­hal­ten hat­te über die Mit­ter­nachts­stun­de hin­aus und aus dem al­ten Jahr in das neue hin­ein! Mit lei­se be­ben­der Hand strich die alte Frau die blon­den Haa­re der Toch­ter aus dem le­bens­freu­di­gen, glü­hen­den, er­hitz­ten Ge­sich­te. Die blon­den Lo­cken, die sich eben vor ihr rin­gelnd be­wegt hat­ten, wa­ren schon vor vier­zig Jah­ren zu Staub und Asche ge­wor­den: die jun­ge Frau wuss­te nichts von ih­nen oder doch nur ge­rücht­wei­se. Lan­ge vor ih­rer Ge­burt war das ers­te, das äl­tes­te Kind ge­stor­ben, zwölf Jah­re alt. Ein halb­ver­wisch­tes Pas­tell­bild­chen, das über der Kom­mo­de


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