Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

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Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe


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aus dem Bet­te zu­rück­hal­ten, und ich wer­de ih­nen mor­gen früh auch je­den­falls mei­ne Mei­nung dar­über sa­gen. – Als sie in ih­rem Fie­ber lag, saß ich auch und zer­rang mir die Hän­de und frag­te mich Tag und Nacht, was ich hät­te an­ders ma­chen kön­nen, da­mit das Schreck­li­che nicht so zu kom­men brauch­te. Du warst wohl ver­nünf­ti­ger, wenn du aus dei­nem Kon­tor her­auf­kamst und mir zu­re­de­test, Ge­duld zu ha­ben. Wie konn­te ich wohl ver­stän­dig sein und Ge­duld ha­ben? Und man sucht doch im­mer so, wie man ei­nem an­de­ren die Schuld ge­ben kann, und wäre man das auch sel­ber!«

      »Ich mei­ne, Mut­ter, wir ge­ben das auf, uns den Kopf dar­über zu zer­bre­chen, und noch dazu so spät in der Nacht, im Jahr und in den Jah­ren«, sprach der alte Herr, wie­der­um sehr ver­nünf­tig; und dann spra­chen sie bis zu dem ers­ten Glo­cken­schla­ge der Mit­ter­nacht nichts mehr mit­ein­an­der. Da­ge­gen aber füll­te sich ihre Stu­be im­mer mehr mit den Bil­dern und den Klän­gen der Ver­gan­gen­heit. Und der lieb­li­che Spuk der Sil­ves­ter­nacht hat­te nicht das ge­rings­te vom Fan­tas­ten in sich. Das äl­tes­te Kind des Hau­ses war noch ein­mal im vol­len blü­hen­den Le­ben Her­rin im Reich und fand all sein al­tes ver­kram­tes Spiel­zeug wie­der wie – die zwei weiß­haa­ri­gen Grei­se. Sie pass­ten wie­der ganz zu­ein­an­der, die El­tern und das Kind: der dunkle, ge­heim­nis­vol­le Vor­hang der Zu­kunft hat­te sich be­wegt, und es war eine Kin­der­hand, die sich aus den schwar­zen Fal­ten weiß und zier­lich her­vor­streck­te und wink­te. Sie aber, die Fröh­li­chen da un­ten im Fest­saa­le des Hau­ses, hat­ten dem Va­ter und der Mut­ter, dem Groß­va­ter und der Groß­mut­ter – den bei­den Al­ten ein glück­li­ches, ein se­gens­rei­ches neu­es Jahr ge­wünscht und hat­ten zwi­schen Becher­klang und lus­ti­gem La­chen ih­ren Wunsch weh­mü­tig ernst ge­meint, wie sich das ge­bühr­te.

      »Wie gut der Papa und die Mama heu­te Abend aus­sa­hen!« mein­ten sie. »Es ist doch eine Freu­de, wie frisch sie sich er­hal­ten und wie sie noch an al­lem teil­neh­men. Aber ver­stän­dig war es doch, dass sie nicht über ihre Zeit bei uns sit­zen­blie­ben. Mor­gen früh hät­ten wir uns doch Vor­wür­fe ge­macht, wenn wir sie noch län­ger ge­quält hät­ten, das Ver­gnü­gen nicht durch ihr Weg­ge­hen zu stö­ren…. Jetzt aber auf die Uhr ge­se­hen! In fünf Mi­nu­ten wird es zwölf schla­gen; – ein biss­chen lei­se, Kin­der, dass wir die al­ten Leu­te nicht we­cken!«…

      Zwölf Uhr und – ein neu­es Jahr! Alle gu­ten Geis­ter ha­ben einen lei­sen Schritt und ge­hen auf wei­chen Soh­len; so schlich sich die jüngs­te Toch­ter des Hau­ses weg aus dem ju­beln­den Kreis, glitt die Trep­pe hin­auf und horch­te an der Tür der »al­ten Leu­te«, die durch den Becher­klang, die lau­ten Glück­wün­sche und al­les, was sonst noch in die Stun­de ge­hört, nicht ge­stört wer­den soll­ten in ih­rer Ruhe auf dem Al­ten­teil.

      »O mein Gott, da sitzt ihr noch? Das ist doch ganz wi­der die Ab­re­de! Sie mei­nen alle dort un­ten, dass ihr längst in den Fe­dern liegt und euch be­hag­lich in das neue Jahr hin­über­ge­träumt habt.«

      »Das letz­te­re ha­ben wir auch ge­tan, mein Kind«, sag­te der alte Herr, nach­denk­lich lä­chelnd.

      »Oh, und nun müss­te ich sie alle – alle die üb­ri­gen auch noch her­auf­ru­fen, dass sie euch ihre Mei­nung sa­gen. Sie wer­den es mit Recht sehr übel­neh­men, wenn ich’s nicht auf der Stel­le tue, Mama!«

      »Lass es lie­ber, mein Herz«, mein­te die alte Dame, lei­se die blon­den Flech­ten vor ihr, die noch nicht Staub und Asche ge­wor­den wa­ren, strei­chelnd. »Es wür­de den Va­ter doch zu sehr auf­re­gen, und wir ge­hen nun wirk­lich gleich zu Bett. Wir ha­ben vor­her nur noch ein we­nig an al­ler­lei ge­dacht, was vor eu­rer – vor dei­ner Zeit war.«

      »Ach ich bin so glück­lich!« rief die jun­ge Frau. »Wir sind so ver­gnügt da un­ten an un­se­rem Ti­sche, und ihr hier in eue­rer lie­ben, al­ten, gu­ten Stu­be seht so jung aus und so hell aus den Au­gen wie das jüngs­te von uns – eu­ern an­de­ren! Oh, und mein Franz ist so drol­lig; der Mensch ist mir fast ein we­nig zu aus­ge­las­sen, oh – und also noch ein­mal: ein fröh­li­ches, glück­li­ches, ge­seg­ne­tes neu­es Jahr euch vor al­len und – uns an­de­ren auch!«

      »Jaja!« sag­ten die al­ten Leu­te lei­se zu glei­cher Zeit und nick­ten freund­lich ihre Zu­stim­mung zu dem gu­ten Wunsch.

Christoph Pechlin

      Soll­te zar­tes­ten Ge­mü­tern ge­gen­über die­ses lie­be Buch ei­ner Ent­schul­di­gung be­dür­fen, so liegt die­sel­be in fol­gen­dem. Es ist ge­schrie­ben wor­den in der Zeit vom Au­gust 1871 bis zum Sep­tem­ber 1872! –

      Die Wun­den der Hel­den wa­ren noch nicht ver­harscht, die Trä­nen der Kin­der, der Müt­ter, der Gat­tin­nen, der Bräu­te und Schwes­tern noch nicht ge­trock­net, die Grä­ber der Ge­fal­le­nen noch nicht über­grünt: aber in Deutsch­land ging’s schon – so früh nach dem furcht­ba­ren Krie­ge und schwe­ren Sie­ge – recht wun­der­lich her. Wie wäh­rend oder nach ei­ner großen Feu­ers­brunst in der Gas­se ein Sirups­fass platzt, und der Pö­bel und die Bu­ben an­fan­gen zu le­cken; so war im deut­schen Vol­ke der Geld­sack auf­ge­gan­gen, und die Ta­ler roll­ten auch in den Gos­sen, und nur zu vie­le Hän­de grif­fen auch dort da­nach. Es hat­te fast den An­schein, als soll­te die­ses der größ­te Ge­winn sein, den das ge­ei­nig­te Va­ter­land aus sei­nem großen Er­fol­ge in der Welt­ge­schich­te her­vor­ho­len könn­te!

      Was blieb da dem ein­sa­men Poe­ten in sei­ner Angst und sei­nem Ekel, in sei­nem un­be­ach­te­ten Win­kel üb­rig, als in den tro­ckenen Scherz, in den ganz un­pathe­ti­schen Spaß aus­zu­wei­chen, die Schel­len­kap­pe über die Ohren zu zie­hen und die Prit­sche zu neh­men?

      Es ist üb­ri­gens im­mer ein Vor­recht an­stän­di­ger Leu­te ge­we­sen, in be­denk­li­chen Zei­ten lie­ber für sich den Nar­ren zu spie­len, als in großer Ge­sell­schaft un­ter den Lum­pen mit Lump zu sein.

      Braun­schweig, im April 1890.

      Raa­be.

      Der Mann, wel­cher sich der schwe­ren und furcht­bar ver­ant­wor­tungs­vol­len Auf­ga­be un­ter­zieht, sei­nen Lands­ge­nos­sen Ge­schich­ten zu er­zäh­len und sich da­bei nur fort und fort vor Au­gen hält, dass er auf die ab­ge­leg­ten Hem­den eben die­ser Lands­ge­nos­sen schreibt, wird sel­ten et­was ganz und gar Nichts­nut­zi­ges, das heißt et­was ganz und gar sei­nem Vor­teil und ir­di­schem Wohl­be­ha­gen, oder noch kür­zer ge­sagt, et­was dem gu­ten Ein­ver­neh­men mit sei­nen Nach­barn Scha­den­brin­gen­des auf dem wei­ßen un­schul­di­gen Pa­pie­re ab­la­gern. Ich, der Schrei­ber die­ses Bu­ches, hal­te das mir fort und fort vor Au­gen, und so habe ich die – fei­ne Wä­sche mei­ner lie­ben Freun­de und Freun­din­nen im Pub­li­kum nach dem doch et­was un­heim­li­chen Wege von ih­rem Lei­be durch den Sack des Lum­pen­samm­lers auf mei­nem Schreib­ti­sche im­mer nur mit dem emp­find­lichs­ten Zart­ge­fühl in die nö­ti­gen neu­en Fal­ten ge­legt. Ich kann mir das Zeug­nis aus­stel­len, dass ich mei­ne Auf­ga­be stets sehr be­hut­sam an­ge­fasst habe. Heu­te aber er­zäh­le ich eine in­ter­na­tio­na­le Ge­schich­te und gehe mit er­höh­tem Ban­gen an das Werk. –

      In ei­ner Früh­lings­nacht, die si­cher eben­so dun­kel war, als jene Ok­to­ber­nacht, in wel­cher der be­rühm­te Schü­ler von Al­ca­la, Don


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